# taz.de -- Antiimperialisten gegen Antideutsche: Linke Orte unter Druck
       
       > Der Krieg zwischen Israel und der Hamas lässt alte Konflikte in der
       > linken Szene wieder aufbrechen. Ein Dialog erscheint so gut wie
       > unmöglich.
       
 (IMG) Bild: Die Rote Flora im Oktober 2023, nach dem Überfall der Hamas auf Israel
       
       Auch so kann man mit dem Jahrestag des Überfalls der Hamas auf Israel
       umgehen: „Diesen Oktober jährt sich der Tag, an dem unser Volk der Welt
       gezeigt hat, dass der Widerstand lebt und die Befreiung naht.“ So
       mobilisiert eine Gruppe namens Ahrar, die sich als „Hamburgs
       Palästinensische Bewegung“ bezeichnet, zu einer Demo am 5. Oktober. Ahrar
       setzt sich für eine „Einstaatenlösung“ im Nahen Osten ein – ohne einen
       israelischen Staat. Der Account „Flora für alle“ schreibt unter den
       Demoaufruf: „Wir kommen.“
       
       „Flora für alle“ ist eine Kampagne, die dem seit 1989 besetzten autonomen
       Zentrum eine antideutsche Vorherrschaft vorwirft und zum Ziel hat, die
       Flora zu übernehmen. Aber warum? Und von wem überhaupt? Die Rote Flora
       gehört immer denen, die sie mit Leben füllen. Aber was hat das mit dem
       Nahostkonflikt zu tun?
       
       Die Spaltung der linken Szene in auf pro Israel fokussierte antideutsche
       und auf pro Palästina fokussierte antiimperialistische Gruppen begann
       bundesweit Ende der 1980er Jahre und eskalierte an kaum an einem Ort so wie
       in Hamburg. Die Auseinandersetzung hinterließ von Wandbildern an der
       Hafenstraße über eine Schlägerei zwischen Redakteur*innen des linken
       Radiosenders FSK bis zu einer von Antiimperialist*innen mit Gewalt
       verhinderten Filmvorführung tiefe Gräben zwischen Linken.
       
       Doch irgendwann liegt auch der letzte Grabenkampf so lange zurück, dass die
       meisten heute Aktiven ihn unter „Opa erzählt vom Krieg“ verbuchen. Derweil
       wurden andere Themen wichtiger und schufen Brücken zwischen den linken
       Milieus: Queerfeminismus, Klimawandel und nicht zuletzt [1][der G20-Gipfel
       in Hamburg sowie die Repression] traten in den Vordergrund. Die Frage „Wo
       stehst du im Nahostkonflikt?“ wurde vom Haupt- zum Nebenwiderspruch.
       
       Doch seit dem Massaker der Hamas am 7. Oktober 2023 und der darauffolgenden
       vernichtenden Militäroffensive Israels in Gaza sind die Gräben wieder
       präsent. Die Protagonist*innen des linksinternen Konflikts sind zwar
       zum Teil ganz andere, zum Teil aber auch nicht. Letztere haben noch uralte
       Rechnungen offen.
       
       In Hamburg eskalierte die Neuauflage des Szenestreits am 14. Mai, als rund
       50 Aktivist*innen aus dem Umfeld des Pro-Palästina-Camps an der
       Hamburger Uni [2][symbolisch die Rote Flora besetzten]. Sie hängten
       Transparente an den Balkon des Gebäudes, auf denen sie den Florist*innen
       weiße Vorherrschaft und Rassismus vorwarfen, und skandierten „Free
       Palestine“. Die Palästinaaktivist*innen drohten: „Das war erst der
       Anfang, wir kommen wieder und werden dieses Haus übernehmen.“
       
       Die Flora, die vielen als antideutsch gilt, sich selbst aber als
       antiautoritär-autonom versteht, hatte kurz nach dem Massaker der Hamas am
       7. Oktober eine Girlande mit den Worten „Free the world from Hamas“ über
       ihren Balkon gespannt. Auf ihrer Plakatwand stand: „Killing Jews is not
       fighting for freedom. Wir sind solidarisch mit allen Jüdinnen und Juden
       weltweit.“ Palästinaaktivist*innen übermalten die Parole.
       
       Die Flora verurteilte die symbolische Übernahme später als autoritär, das
       Übermalen der Parole offenbare zudem ein antisemitisches Weltbild.
       „Menschen, die diese Haltung vertreten, fühlen sich in der Roten Flora zu
       Recht nicht willkommen“, hieß es in einem Statement. Darüber hinaus lasse
       man sich keine Diskussionen von außen aufzwingen, sondern werde weiter
       autonom politische Auseinandersetzungen führen. „Es gibt unter den die
       Flora nutzenden Gruppen keine einheitliche Haltung zum Nahostkonflikt“,
       sagt ein Flora-Aktivist gegenüber der taz. Öffentliche Statements einzelner
       Gruppen zum Thema würden kontrovers, aber auf Augenhöhe diskutiert. Die
       Drohungen von außen würden intern als nervig, aber nicht wirklich
       bedrohlich wahrgenommen.
       
       Doch der Nahostkonflikt und der aggressive Positionierungsdruck in Teilen
       der Szene habe durchaus zu Brüchen geführt. So sei es derzeit etwa schwer
       vorstellbar, gemeinsam mit antiimperialistischen Gruppen auf die Straße zu
       gehen – obwohl es angesichts von Rechtsruck und Repression dringend geboten
       wäre, sagt der Aktivist. Zum Teil hätten sich internationalistische Gruppen
       aus Bündnissen verabschiedet, weil sie die Flora zu nah an der Seite
       Israels wähnten. Aus Sicht der Autonomen sei das ungerechtfertigt und
       politisch falsch. „Es gäbe momentan so viel Wichtigeres, als sich mit
       identitären Grabenkämpfen auseinanderzusetzen“, sagt der Flora-Nutzer.
       
       Doch die auf Palästina fokussierten Aktivist*innen von Ahrar und der
       Gruppe Thawra, die das [3][Palästina-Camp an der Uni Hamburg]
       veranstaltete, schießen weiter mit scharfen Worten gegen das Kulturzentrum.
       Nichts an dem Zentrum sei mehr links, kritisierte die ehemalige
       Fridays-for-Future-Aktivistin und jetzige Thawra-Sprecherin Elisa Baş auf
       einer Demo. Rot sei nur das Blut an den Händen der Nutzer*innen, die
       staatstragend den Mord an der palästinensischen Zivilbevölkerung
       unterstützten. Auf einer Hanau-Gedenkdemo im Februar war Thawra mit einem
       „Flora, halt’s Maul“-Transparent erschienen, ebenso am 1. Mai. Die
       Stimmungsmache ruft auch andere auf den Plan. Hinter dem
       Instagram-Account „Flora für alle“ steckt nach taz-Recherchen ein kleiner
       Personenkreis, der 2007 wegen Täterschutzvorwürfen aus der Flora und dem
       linken Infoladen Schwarzmarkt rausgeflogen war.
       
       Der Umgang mit dem Beschuldigten einer mutmaßlichen Vergewaltigung im Jahr
       1997 war damals in Szenepublikationen und auf Plenen diskutiert worden.
       Die antiimperialistisch ausgerichtete Gruppe Tierrechtsaktion Nord war in
       den folgenden Jahren – so erzählt man es heute in der Szene – aggressiv
       gegen das Umfeld der mutmaßlich betroffenen Frau vorgegangen. Der Konflikt,
       zu dem auch linke Kneipen, Plattenläden und andere Treffpunkte Stellung
       bezogen, hinterließ Wunden, die offenbar immer noch nicht verheilt sind.
       
       Auf dem Schanzenfest am 7. September trat „Flora für alle“ erstmals
       öffentlich mit einem Stand in Erscheinung und warb für die Übernahme des
       autonomen Zentrums. Ältere Aktivist*innen erkannten unter den dort
       Anwesenden die Protagonist*innen der Tierrechtsaktion Nord. Auf
       Instagram hetzt „Flora für alle“ nicht nur gegen die Flora, sondern auch
       gegen das Leipziger Conne Island und das Berliner About Blank.
       
       ## Berlin: rote Dreiecke, auf die Spitze gestellt
       
       Berlin hat kein Zentrum, das mit einer Institution wie der Roten Flora in
       Hamburg zu vergleichen wäre. Doch auch hier schlägt sich der Nahostkonflikt
       in der linken Szene nieder – täglich und heftig. Ein Grund dafür ist, dass
       in Berlin die europaweit größte Diaspora von Menschen mit
       palästinensischem Hintergrund lebt. Geschätzt sollen es zwischen 35.000 und
       45.000 Menschen sein. Das hat historische Gründe: Viele reisten in den
       1970er Jahren aus dem Libanon über die DDR ein. Und: Berlin hat eine große
       international geprägte, sich als links und queer verstehende Community, die
       sich teils deutlich antiimperialistisch verortet.
       
       Sichtbar ist der Nahostkonflikt etwa im Straßenbild: Mehr als 650
       Demonstrationen mit „Bezug zur Situation in Israel und Gaza“ gab es in
       Berlin laut Innenverwaltung seit dem 7. Oktober 2023. Rund 320 davon
       ordnete die Polizei als „propalästinensisch“ ein, 170 als „proisraelisch“,
       weitere knapp 160 seien „nicht zuzuordnen“. Die Demonstrationen finden
       weiterhin im Prinzip wöchentlich durchaus mit größerem Zulauf statt.
       Demonstrant*innen prangern [4][Repressionen und Polizeigewalt] an.
       Immer wieder meldet die Polizei, dass Teilnehmer*innen dort Terror
       verherrlichten.
       
       An viele Berliner Häuserwände sind palästinensische Fahnen gesprayt oder
       Slogans wie „Free Gaza“, teils ergänzt mit „from Hamas“, oder auch „Free
       Palestine from German bombs“. Der Slogan „Free Palestine from German guilt“
       („Befreit Palästina von der deutschen Schuld“) [5][löste im vergangenen
       Oktober noch öffentliche Empörung] aus, inzwischen ist er ein häufiges
       Graffito. Teils haben andere diese Slogans übermalt, neu kommentiert oder
       unkenntlich gemacht.
       
       Was auch vermehrt an Häuserwänden in der Hauptstadt auftaucht: das [6][auf
       der Spitze stehende rote Dreieck], also das Zeichen, mit dem die Hamas in
       Videos ihre Feinde markiert. Im April sprayten Unbekannte es an die
       [7][Fassade des Clubs About Blank] in Berlin-Friedrichshain. Die
       Betreiber*innen ergänzten das Dreieck kurzerhand zu einem roten Herzen
       und äußerten sich zunächst nicht dazu. An Wänden in Neukölln tauchten erst
       die Dreiecke auf, dann ergänzte sie jemand mit einem weiteren Dreieck zum
       Davidstern und schrieb „Fuck Zionists“ daneben.
       
       Doch obwohl der Konflikt allgegenwärtig zu sein scheint: Die
       Demonstrationen haben es bisher nicht geschafft, übergreifend zu
       mobilisieren, sie sind keine Orte, an denen das Leid und die Anliegen der
       Palästinenser*innen wie auch das Leid und die Anliegen der Israelis
       verhandelt würden. Räume, in denen ein Austausch stattfinden könnte, werden
       rar und enger. Menschen, die als Jüdinnen und Juden oder Israelis zu
       erkennen sind und sich nicht eindeutig als „antizionistisch“ positionieren,
       werden angefeindet und ausgeschlossen. Und auch antimuslimischer Rassismus
       nimmt zu.
       
       Konkreten Angriffen ausgesetzt ist etwa die Kneipe Bajszel in Neukölln.
       Dort lädt man regelmäßig zu antisemitismuskritischen Veranstaltungen ein.
       Mehrmals wurde die Fassade mit dem roten Dreieck markiert, im September
       dann auch zusammen mit dem Schriftzug „Glory to Al Quassam“ – ein Feiern
       der Hamas-Brigaden, die das Massaker am 7. Oktober ausgeführt hatten.
       
       In derselben Nacht, in der die Polizei die Schmierereien festgestellt
       hatte, bemerkte ein Feuerwehrmann einen brennenden Papierkorb an der
       Fassade, den er mit einem Eimer Wasser löschte. Die Rußspuren sind
       deutlich an der Wand und am Fensterrahmen zu sehen; das Bajszel teilt mit,
       dass sich zu dem Zeitpunkt noch ein Mitarbeiter in der Kneipe befunden
       habe. Der Staatsschutz ermittelt nun zur Frage, ob ein Zusammenhang
       zwischen Brand und Farbattacke besteht. Die Betreiber selbst sprechen von
       einem „Mordversuch“.
       
       Im Juli zierten rote, auf der Spitze stehende Dreiecke den Instagram-Post,
       mit dem der Dyke* March zu einer Soliveranstaltung in der queeren
       Kreuzberger Szenekneipe Möbel Olfe mobilisierte. Besucher*innen
       verteilten an dem Abend nach eigenen Angaben auf ihrem Tisch Zettel mit dem
       Hinweis, dass dies ein sicherer Platz für Jüdinnen und Juden und Israelis
       sein solle („Safe table for Jews and Israelis“), daneben auch
       Regenbogenflaggen und einen Davidstern. Eine Beteiligte berichtete, wie sie
       daraufhin eingekesselt und als „Zionistenschweine“ beschimpft worden seien.
       Man forderte sie auf zu gehen, draußen habe „ein Mob gewartet“. Die
       Veranstalter hatten offenbar kein Konzept, um die Szene zu befrieden oder
       zu vermitteln, denn sie forderten die Besucher*innen des Tischs auf zu
       gehen. Und sie [8][brachen den gesamten Soliabend vorzeitig] ab.
       
       Das About Blank wandte sich [9][Ende September mit einem Statement] an die
       Öffentlichkeit: Seit Monaten sähen sie sich Angriffen ausgesetzt, mit
       Schmierereien, Fäkalien und Buttersäure hätten Unbekannte ihren Laden
       physisch attackiert, außerdem in den sozialen Medien gegen sie gehetzt. Für
       Veranstaltungen, die sich kritisch mit Antisemitismus auseinandersetzten,
       bräuchte es erhöhte Sicherheitsbedingungen. Der Vorwurf: Der Club würde
       sich im Israel-Palästina-Konflikt vermeintlich falsch positionieren. Das
       About Blank lande seit Jahren auf Feindes- und Boykottlisten etwa [10][der
       antiisraelischen Kampagne „DJs Against Apartheid“].
       
       Mitarbeiter*innen und Besucher*innen würden bedroht und
       beschimpft, unter Druck gesetzt und angefeindet. „In der Erkenntnis, dass
       dieser Konflikt und seine Geschichte zu komplex sind, um eindeutig und
       plakativ Partei zu ergreifen, haben wir es stets auch unterlassen, Israel
       einseitig zu verurteilen“, schreibt das About-Blank-Kollektiv in dem
       Statement. Sie würden deshalb als „proisraelisch“ oder als „zionistisch“
       gelabelt, ihnen würde eine Nähe zur Netanjahu-Regierung unterstellt. „Diese
       Zuschreibungen sind falsch und entbehren jeglicher Grundlage“, schreibt das
       Kollektiv. Auch innerhalb ihrer Gruppe herrsche keine einheitliche Haltung
       zum Konflikt vor. Sie weisen darauf hin, dass der Ort Club- und
       subkulturelle Szenen zusammenbringen wollte.
       
       Doch der Druck wachse – und sie sehen ihn konkret gegen ihr Konzept
       gerichtet. „Vielfach scheint eine gleichzeitige Zurückweisung und
       Bekämpfung von antisemitischen und rassistischen Positionen undenkbar zu
       werden – obwohl gerade das Kernbestandteil linker Politik sein müsste“,
       schreibt das Kollektiv. „Handlungsfähige Linke und zivilgesellschaftliche
       Bündnisse“ bräuchten Auseinandersetzungen und Diskussionen – und dazu eben
       auch die entsprechenden Orte. Das Kollektiv lädt in seinem Statement dazu
       ein, gemeinsam „nach Wegen aus der derzeitigen Dürftigkeit“ zu suchen.
       
       Denn die Unversöhnlichkeit, die sich da inzwischen verfestigt, hat bereits
       konkrete Auswirkungen. Jüdinnen, Juden und Israelis werden vielfach direkt
       für die Politik und den Krieg der israelischen Regierung verantwortlich
       gemacht. Dass sie sich an bestimmten Orten und in bestimmten Situationen
       dann bedroht oder unwohl fühlen, wird abgetan, die Ansicht scheint
       verbreitet, dass sie das „mal aushalten“ müssten. Wohnungssuchende stoßen
       in Berlin inzwischen häufiger auf Angebote mit dem Zusatz „No Zionists“.
       
       So agiert eine angebliche Linke, die die zersetzenden Wirkungsweisen von
       Rassismus gut verstanden hat, die es allerdings bisher nicht schafft, sich
       auch mit den Verheerungen und Konsequenzen von Antisemitismus
       auseinanderzusetzen.
       
       ## Leipzig: Kufijaverbote und fliegende Steine
       
       In Leipzig ist die antideutsche Szene noch stärker als in anderen
       Großstädten Deutschlands. Gehört im linken Milieu Berlins ein
       antiimperialistischer Gestus irgendwie dazu, geht die Tendenz in Leipzig in
       die andere Richtung. An den Häuserwänden im Stadtteil Connewitz prangen
       kaum propalästinensische Schriftzüge. Kufija zu tragen gilt hier nicht als
       chic – sondern wird eher misstrauisch beäugt.
       
       Auch in Leipzig sah es lange so aus, als würde sich der alte Streit über
       Antiimperialisti*innen und Antideutsche beruhigen. Doch nun sei er
       wieder voll da, sagt Jule Nagel, Linke-Politikerin aus Connewitz, der taz.
       „Seit etwa drei Jahren gibt es ein Wiedererstarken autoritärer
       kommunistischer Gruppen, die das Thema stärker in den Fokus rücken“, sagt
       sie. Der 7. Oktober habe das nur noch beschleunigt.
       
       Wie in anderen Städten versuchen Palästinaaktivist*innen seither,
       der Szene eine Komplizenschaft mit israelischen Kriegsverbrechern
       anzukreiden – und Antideutsche versuchen, die hinter jeder Israelkritik
       vermuteten antisemitischen Motive zu entlarven. Der Gegenseite
       zugeschriebene Veranstaltungen werden gestört, ihre Hausprojekte mit
       Parolen beschmiert. Laut dem Hausprojekt B12, das sich als
       israelsolidarisch beschreibt, [11][tauchten dort kürzlich Briefe mit
       Propagandamaterial auf, addressiert an Klarnamen von Bewohner:innen] –
       was das Hausprojekt als Feindmarkierung wertet.
       
       Auf der anderen Seite flogen im Oktober 2023 Steine auf die Fensterscheiben
       des Ladenprojekts Ganze Bäckerei im migrantisch geprägten Hausprojekt La
       Casa, wo viele antiimperialistische Gruppen Plenen abhalten. Im Inneren
       wurde ein Behälter gefunden, [12][der vermutlich Schweinefett enthält] –
       klar eine islamfeindliche Message. Auf Indymedia tauchte ein inzwischen
       wieder gelöschtes Bekennerschreiben einer sich Antifa nennenden Gruppe auf.
       Ob das Schreiben authentisch ist, lässt sich nicht sagen.
       
       Völlig unrealistisch ist es aber leider wohl nicht. Es wäre nicht der erste
       islamfeindliche Ausrutscher der Szene. Bereits 2021 wurde aus einer
       polizeifeindlichen Demo heraus eine Moschee des Erdoğan-nahen
       Moscheedachverband Ditib mit Steinen beworfen. Was wohl als mit Kurdistan
       solidarische Islamismuskritik gedacht war, löste eine Debatte darüber aus,
       wie wenig Teile der Szene offenbar für antimuslimischen Rassismus
       sensibilisiert sind.
       
       Auch Jule Nagel sagt: „Wir haben das Problem, dass sich linke
       Aktivist:innen mit Flucht- oder Migrationshintergrund in linken Räumen
       manchmal nicht zugehörig fühlen.“ Ihre Beobachtung: Aus dem
       antiimperialistischen Spektrum seien es überwiegend weiße Menschen, die
       die Debatte vergifteten – und auf der anderen Seite gebe es in Teilen der
       antideutschen Szene ein Problem mit islamfeindlichen Tendenzen.
       
       Samira Sonnenschein hat diese bereits erleben müssen. Die Aktivistin, die
       ihren echten Namen nicht in der Zeitung lesen will, ist Mitglied von
       Palestine Campus, einer Gruppe, die im Frühling die Uni Leipzig besetzt
       hat. Sonnenschein sagt, sie habe sich lange nicht getraut, in Connewitz mit
       Kufija herumzulaufen. „Ich hatte Angst, verprügelt zu werden“, sagt sie. Es
       sei schon passiert, dass Leuten das Tuch auf der Straße vom Kopf gerissen
       wurde.
       
       Ihr selbst sei einmal der Einlass zu einer Szeneveranstaltung verwehrt
       worden, bis sie die Kufija abgenommen habe. „Leute wie dich wollen wir
       nicht haben, verpiss dich“, habe man ihr gesagt. Inzwischen trage sie die
       Kufija offen – trotz böser Blicke und Kommentare. In Szeneorte wie das
       Conne Island gehe sie aber nicht. „Ich fühle mich an diesen Orten einfach
       unwohl, weil ich dort sehr stark meinen Migrationshintergrund spüre“, sagt
       sie.
       
       Zweifellos ist das Conne Island ein wichtiger Sozialisierungsort für linke
       Menschen, die aus dem braun geprägten sächsischen Umland nach Leipzig
       fliehen. Doch es sind eben auch solche Erfahrungen, derentwegen
       Palästinaaktivist*innen zum Boykott des Conne Islands aufrufen. Und das
       offenbar nicht ohne Erfolg: Das Kulturzentrum [13][vermeldete kürzlich],
       der Boykott habe zu zahlreichen Künstler*innenabsagen geführt, sodass
       man inzwischen „nicht nur in finanzielle Schwierigkeiten“ geraten sei.
       
       Die Vorwürfe des Rassismus wehrt das Zentrum ab. Minimalkonsens sei
       lediglich die Anerkennung des Existenzrechts Israels, ansonsten wolle man
       Ort für Diskussionen sein. Praktisch scheitert der Meinungsaustausch aber
       schon an der Tür, wenn Menschen Kufija tragen. Wie auch andere Szeneorte
       verbietet das Conne Island die „Pali-Tücher“, weil das Tuch für Jüd:innen
       mit „Ausgrenzung, Gewalt und Diskriminierung“ verbunden sei. Nur so könne
       das Conne Island ein Safe Space für jüdische Menschen sein.
       
       Samira Sonnenschein entgegnet: „Die Kufija ist ein kulturelles Symbol des
       Widerstands gegen die israelische Besatzung – aber doch nicht gegen das
       jüdische Volk.“ Sie verstehe nicht, warum die Gefühle zweier
       stigmatisierter Gruppen gegeneinander ausgespielt werden.
       
       Im Oktober vergangenen Jahres hat der Technoclub Institut für Zukunft
       (IfZ), der ebenfalls aus der antideutschen Szene stammt und sich als
       Schwesterprojekt des Berliner About Blank sieht, das auch dort jahrelang
       gültige Verbot gekippt. Die Kufija werde „auch von Menschen mit
       antisemitischer Agenda getragen, aber Kufija tragende Menschen sind nicht
       per se antisemitisch“, heißt es [14][in einem Statement]. Eine
       undifferenzierte Türpolitik sei da fehl am Platz. Der Club entschuldigt
       sich schließlich, spricht davon, „ganze Personenkreise ausgeschlossen und
       pauschal politisch verurteilt“ zu haben.
       
       Zu einem neuen Ort des Austauschs wird aber auch das IfZ nicht werden. Der
       Club muss Ende des Jahres seine Pforten schließen, vorrangig aus
       finanziellen Gründen, nicht wegen eines Boykotts. Sonnenschein sagt, sie
       würde auch trotz Kufija-Erlaubnis nicht wieder anfangen, ins IfZ zu gehen.
       „Allein dass es dieses Verbot einmal gab, heißt ja, dass es nie ein Safe
       Space für Palästinenser:innen sein sollte“, sagt sie. Auch sie sei
       für eine geeinte Linke gegen den Faschismus. Doch an ihrem
       Sich-unwohl-Fühlen ändere das nichts. „Wenn diese Orte verschwinden, weil
       auch viele andere sich dort nicht wohlfühlen – dann freue ich mich
       trotzdem.“
       
       6 Oct 2024
       
       ## LINKS
       
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       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Anti-Israelische Plakataktion in Berlin: Mordaufruf gegen linke Kneipenwirte kein Einzelfall
       
       In Berlin kursieren anti-israelische „Fahndungsplakate“ gegen Betreiber der
       linken Schänke „Bajszel“. Kein Einzelfall: Ein weiteres betraf einen
       taz-Redakteur.
       
 (DIR) Antideutsche: Linke Absicht, rechte Wirkung
       
       Antideutsch und links sein, das passt nicht zusammen. Wer für Humanismus
       eintritt, sollte dabei niemanden ausgrenzen.
       
 (DIR) Gaza-Kundgebungen in Hamburg: Ungewöhnliche Allianzen
       
       Der muslimische Verband Schura ruft zu einer Gaza-Kundgebung am Hamburger
       Rathaus auf. Pro-Hamas-Gruppen wollen lieber die Rote Flora provozieren.
       
 (DIR) Progressive Bewegungen: „Wir brauchen neue Geschichten“
       
       Die Autorin und Kommunalpolitikerin Mirrianne Mahn setzt sich für
       Feminismus und gegen Rassismus ein. Ein Gespräch über Hoffnung und Mut.
       
 (DIR) Hörsaalbesetzung in Hellersdorf: „Free Palestine“ mit dem Segen von oben
       
       Was ist von der Besetzung in der Alice Salomon Hochschule übrig geblieben?
       Die Aktivist*innen loben die Hochschulleitung. Und tadeln sie zugleich.
       
 (DIR) Nahostkonflikt in der Clubszene: Immense Verwerfungen
       
       Wohnhäuser von Mitarbeitern werden beschmiert, DJs verlassen ihre
       Bookingagenturen: Der Nahostkonflikt zerreiße die Szene, heißt es im „About
       Blank“.
       
 (DIR) Kulturkneipe in Neukölln: Bajszel erneut angegriffen
       
       Das Lokal in der Emser Straße ist wieder attackiert worden. Unbekannte
       warfen einen Pflasterstein gegen ein Fenster, als noch Gäste am Tresen
       saßen.
       
 (DIR) Parteitag der Berliner Linken: Kein Antisemitismus-Skandal
       
       Der Eklat auf dem Parteitag der Linken steht nicht für ein Problem mit
       Antisemitismus. Er ist Ausdruck von Kompromisslosigkeit und einem
       Machtkampf.
       
 (DIR) Linkspartei streitet über Antisemitismus: Nicht mit rechtsstaatlichen Mitteln
       
       Ex-Senator Lederer und andere wollten beim Landesparteitag linken
       Antisemitismus benennen und bekämpfen. Eine Mehrheit der Delegierten lehnte
       das ab.
       
 (DIR) Gründer verlässt Interessenverband: Krach in der Clubcommission
       
       Sage-Betreiber Sascha Disselkamp verlässt die Clubcommission nach über 20
       Jahren – auch aufgrund der Nichtpositionierung des Vereins zum
       Hamas-Terror.
       
 (DIR) Mehr Antisemitismus seit dem 7. Oktober: Lieber ohne Kippa
       
       Die Anfeindungen, die jüdische Menschen erleben, nehmen immer weiter zu. Es
       wird Zeit, dass sich die schweigende Mehrheit hinter sie stellt.
       
 (DIR) Die Wochenvorschau für Berlin: Erinnern und kämpfen
       
       Berlin gedenkt antisemitischer Anschläge und kämpft gegen Antisemitismus.
       Und am Wochenende wird Rechtsextremen in Brandenburg der Parteitag
       vermiest.
       
 (DIR) Angriffe gegen jüdische Einrichtungen: Schlechte Bilanz für Staatsräson
       
       Antisemitische Straftaten in Deutschland steigen. Auch Synagogen und
       jüdische Einrichtungen werden gezielt attackiert, wie eine taz-Umfrage
       zeigt.
       
 (DIR) Jahrestag des Hamas-Massakers: Warnung vor Gewaltbereitschaft
       
       Am Montag jährt sich das Hamas-Massaker in Israel. Der Verfassungsschutz
       warnt vor einer Zunahme israelfeindlicher und antisemitischer Proteste.
       
 (DIR) Palästina-Demo in Berlin: Kritik an Polizeigewalt
       
       Videos zeigen brutale Festnahmen bei einer Palästina-Demo in Berlin. Seit
       Monaten verzeichnet eine Beratungsstelle viele Anfragen wegen
       Polizeigewalt.
       
 (DIR) Nahost-Konflikt in der linken Szene: Kampf um die Rote Flora
       
       Palästina-Aktivist*innen haben kurzzeitig die Rote Flora in Hamburg
       besetzt. Sie werfen dem Zentrum Rassismus vor und drohen mit Übernahme.
       
 (DIR) Schweigen der Club-Szene zu Hamas-Terror: Iron Dome gegen Kritik
       
       Nach den barbarischen Morden an mindestens 260 Raver*innen in Israel
       schweigen große Teile der Club-Szene. Denn die hat ein
       Antisemitismusproblem.