# taz.de -- Politologe über die Christdemokratie: „Der alte Geist lebt weiter“
       
       > Welche Rolle spielt Katholizismus heute für konservative Politik in
       > Europa? Der Politologe Fabio Wolkenstein über die Schattenseiten der
       > Christdemokratie.
       
 (IMG) Bild: Der damalige österreichische Kanzler Sebastian Kurz und Ungarns Premier Viktor Orbán 2018 in Wien
       
       taz am wochenende: Herr Wolkenstein, Sie haben ein Buch über die dunkle
       Seite der Christdemokratie geschrieben. Was genau ist für Sie diese dunkle
       Seite? 
       
       Fabio Wolkenstein: Wenn man will, kann man es die autoritäre Versuchung
       nennen. Zum einen habe ich die historischen Wurzeln untersucht, den
       politischen Katholizismus, aus dem die Christdemokratie hervorgegangen ist.
       Die entscheidenden Figuren der europäischen Christdemokratie unmittelbar
       nach 1945 waren katholische Männer, viele von ihnen wurden noch im 19.
       Jahrhundert geboren. [1][Konrad Adenauer in Deutschland], Alcide De Gasperi
       in Italien oder Robert Schuman in Frankreich haben die Demokratie
       befürwortet, aber zu einem gewissen Grad auch als ein Zeitgeistphänomen
       angesehen. Der alte Geist des politischen Katholizismus lebte weiter.
       
       Wie hat sich das gezeigt? 
       
       Zum Beispiel in der Akzeptanz von Diktatoren wie Franco in Spanien und
       Salazar in Portugal. Ganz besonders bei Salazar, der das Prinzip eines
       katholischen, organischen, korporativen Staates am besten umgesetzt hat.
       Aber lassen Sie mich noch den zweiten Aspekt erwähnen, der in dem Buch
       ebenfalls wichtig ist: eine neue Form von christlichem Nationalismus in
       Europa, wie etwa in Ungarn mit der Fidesz-Partei von Viktor Orbán.
       
       Wo genau ist die Verbindung? Fidesz ist im ursprünglichen Sinn keine
       christdemokratische Partei und hat auch keine katholische Tradition. 
       
       Das stimmt. Aber auffällig ist, dass Fidesz, die sich selbst als
       christdemokratisch bezeichnet, aus einem Teil der europäischen
       Christdemokratie Applaus bekommt. Und der ist bei der ÖVP und der CSU
       besonders stark, wo es die Verbindung zum Katholizismus weiterhin gibt.
       Österreich ist ein besonders krasses Beispiel. Hier gab es zwischen 1934
       und 1938 ein zutiefst katholisches, autoritäres Regime, an dessen Spitze
       bis zu seiner Ermordung Engelbert Dollfuß stand. Dollfuß wurde sehr lange
       in der ÖVP fast wie ein Heiliger verehrt. Und der jetzige Innenminister
       Gerhard Karner betreibt noch immer in Niederösterreich ein Dollfuß-Museum,
       das alles andere als einen kritischen Blick auf diese Person bietet. Die
       Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit hat in der ÖVP, aber auch
       in anderen europäischen christdemokratischen Parteien nicht ausreichend
       stattgefunden.
       
       Worin genau besteht heute die autoritäre Versuchung? 
       
       Bei Orbán im Zuschauen. Ein ganzes Jahrzehnt haben führende europäische
       Christdemokraten zugesehen, wie Orbán den ungarischen Staat umgebaut hat,
       sie haben ihn als Alliierten angesehen und immer wieder in Schutz genommen.
       In CSU und ÖVP hieß es zum Teil ganz offen, dass man viele grundlegende
       Ziele Orbáns gutheißt. Es gibt einfach eine sehr konservative Achse von
       Bayern über Österreich bis nach Ungarn, in der es auch eine intellektuelle
       Übereinstimmung gibt. [2][Kurz und Seehofer haben Orbán eingeladen.] Die
       Europäische Volkspartei, die Organisation der christdemokratischen
       Mitte-rechts-Parteien im Europäischen Parlament, hat ihn bis 2018
       geschützt, obwohl er den Verfassungsstaat und die Demokratie unterminiert
       hat.
       
       Stimmt das heute immer noch? Inzwischen, das muss man fairerweise sagen,
       ist Fidesz nicht mehr in der EVP und Markus Söder distanziert sich von
       Orbán. 
       
       Man muss auch sehen, was jenseits der medialen Aufmerksamkeitssphäre
       passiert. Orbán wurde Ende Oktober 2021 zum Vizepräsidenten der
       Christdemokratischen Internationalen gewählt. Das Amt teilt er sich unter
       anderem mit dem CDU-Politiker Elmar Brok. Außerdem finden trotz Söders
       Distanzierung weiterhin Vernetzungstreffen zwischen Fidesz und CSU statt.
       
       Fidesz war ursprünglich eine liberale Partei, jetzt inszeniert sich Orbán
       als letzter Kämpfer für christdemokratische Werte. Wie geht das? 
       
       Orbán hat Mitte der 1990er Jahre diese strategische Justierung vorgenommen,
       als er gemerkt hat, dass er mit einer liberalen, eher zentristischen Partei
       in Ungarn nicht weit kommen wird. Er hat den Schulterschluss mit der Kirche
       gesucht und die national-konservative Bewegung CCM (Civic Circles Movement)
       auf sich ausgerichtet. Auf der rhetorischen Ebene stimmt es sogar, wenn er
       behauptet, dass er Dinge ausspricht, die früher auch christdemokratische
       Politiker gesagt haben, die besonders für Werte einstehen. Man denke zum
       Beispiel an ein sehr traditionelles, patriarchales Familienmodell, das
       früher Konsens in der Christdemokratie war.
       
       Da fällt einem schnell die Entwicklung in den USA ein, auch wenn die
       treibende Kraft dort die rechte Kirche ist, die vor allem protestantisch
       ist. Trotzdem: Sehen Sie Parallelen? 
       
       Die wichtigste Parallele ist zweifellos die Übereinstimmung in einigen
       zentralen Wertfragen. Übrigens sollte man die Macht ultrakonservativer,
       katholischer Eliten in den USA nicht unterschätzen. Sechs von neun Richtern
       am Supreme Court, der gerade das Recht auf Abtreibung gekippt hat, sind
       Katholiken.
       
       Und dann sind da noch die ÖVP und Sebastian Kurz. Ein anderes Beispiel für
       die autoritäre Versuchung?
       
       Ja, die zwei Regierungen von Sebastian Kurz in Österreich sind tendenziell
       der dunklen Seite zuzurechnen. Nicht zuletzt wegen der systematischen
       Missachtung der Rechtsstaatlichkeit. Die Vorsitzende der österreichischen
       Richtervereinigung hat gesagt, sie sehe in Österreich Tendenzen, die in
       Richtung Ungarn und Polen gehen. Das muss man ernst nehmen. Zumal dieses
       Modell einer ganz auf eine Person zugeschnittenen Partei, die sehr
       diszipliniert ist und gewisse Dinge im Dunklen belässt, in manchen Ecken
       der CDU durchaus als Blaupause für eine erfolgreiche Erneuerung gehandelt
       wurde. Was natürlich auch daran lag, dass Kurz Wahlen gewonnen hat und in
       der politischen Kommunikation aalglatt war.
       
       Konservative Politiker wie Jens Spahn und Markus Söder sind nach Wien
       gefahren, um sich mit dem erfolgreichen Kurz fotografieren zu lassen, damit
       von dessen hellem Schein etwas auf sie abstrahle. Ist das nach dem Absturz
       von Kurz vorbei? 
       
       Ich glaube, der Lernprozess bei der ÖVP ist, wie wichtig Parteistrukturen
       sind, auf die man im Zweifelsfall zurückgreifen kann. Die wurden in der
       Kurz-Zeit quasi ausgesetzt, als alles auf diese kleine Gruppe mit Kurz im
       Zentrum zugeschnitten war. Aber im Hintergrund gab es sie weiter. Das sind
       Parteistrukturen, die letztlich ihren Ursprung Anfang des 20. Jahrhunderts
       hatten. Genau das Gleiche könnte bei der CDU auch passieren.
       
       Bei der Auseinandersetzung um die Kanzlerkandidatur zwischen Armin Laschet
       und Markus Söder ging es ja auch darum, welchen Einfluss man den
       Parteigremien weiterhin zubilligt. Aber etwas allgemeiner mit Blick auf die
       autoritäre Versuchung gefragt: Wie ist die Lage in der CDU? 
       
       Vielleicht zunächst historisch: Die CDU hat mit dem politischen
       Katholizismus viel deutlicher gebrochen als christdemokratische Parteien in
       anderen Ländern, sie hat selbst von einer Überwindung der Zentrumspartei
       gesprochen. Ihr Verdienst ist ja auch, die Kluft zwischen Katholiken und
       Protestanten überwunden zu haben, sonst wäre sie nicht zur Volkspartei
       geworden. Insgesamt haben europäische christdemokratische Parteien es lange
       geschafft, als Volksparteien eine sehr große Spannbreite von Meinungen und
       Personen in die Partei zu integrieren. Das ist eine wichtige historische
       Leistung, weil man Leute auf die Demokratie verpflichtet hat, die ihr
       skeptisch gegenüberstanden. Dafür waren Integrationsfiguren wichtig wie
       Helmut Kohl, aber später auch Angela Merkel.
       
       Unter Merkel ist die AfD entstanden, ihre Integrationskraft hat am Ende
       deutlich nachgelassen. Jetzt steht Friedrich Merz an der Spitze einer
       gebeutelten CDU, die nach der Niederlage bei der Bundestagswahl versucht,
       sich selbst wieder zu finden. Merz galt als konservativer Knochen und es
       bestand Sorge, er könnte die CDU Richtung AfD verschieben. Wird die CDU mit
       ihm anfälliger für eine autoritäre Versuchung? 
       
       Die Frage ist, ob Friedrich Merz eine Integrationskraft wie Kohl oder
       Merkel entfalten kann. Er kommt ja ganz klar aus dem konservativen Spektrum
       der CDU und das wird er nicht so schnell loswerden. Aber man sieht, dass er
       versucht, sich neu zu erfinden, auch weil er klug genug ist zu wissen, dass
       es anders nicht funktionieren kann. Aber der Sprung vom Merkel-Gegner, der
       durch einen konservativeren Kurs einen Teil der AfD-Wähler zurückgewinnen
       will, ist natürlich groß. Er muss nun zum Teil das Gegenteil von dem
       machen, von dem er vorher behauptet hat, es sei wichtig, um die CDU wieder
       stark zu machen – seine politische Historie ist ein Ballast.
       
       Sehen Sie die Gefahr, dass die CDU einer autoritären Versuchung erliegt? 
       
       Die Gefahr ist derzeit nicht sehr groß, zumal es mit dem Krieg in der
       Ukraine und der Energiekrise andere Sorgen gibt. Vordergründig ist das also
       kein Thema. Aber man muss ja nur ein paar Jahre zurückgehen ins Jahr 2015
       und die große Flüchtlingsbewegung. Und es gibt natürlich weiterhin
       innerhalb der CDU die Stimmen, die eine stärkere Annäherung an die Themen
       der AfD fordern, und in der CSU weiterhin Leute, die sich an die Partei von
       Viktor Orbán anbiedern. Gebannt ist die Gefahr also nicht.
       
       23 Jul 2022
       
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