# taz.de -- Film zur Debatte über das Tierwohl: Liebeserklärung an eine Sau
       
       > „Gunda“ ist der neue Dokumentarfilm des eigenwilligen russischen
       > Regisseurs Victor Kossakovsky. Protagonistin des Films ist ein
       > Mutterschwein.
       
 (IMG) Bild: Kontemplativ: Gunda und ihren Ferkeln zuzuschauen
       
       Regel Nummer 1: „Filmen Sie nicht, wenn sie ohne Film leben können.“ Regel
       Nummer 2: „Filmen Sie nicht, wenn Sie etwas sagen wollen. Sagen Sie es
       einfach oder schreiben Sie es.“ Zehn solche schlitzohrigen Maximen hat der
       russische Dokumentarfilmer Victor Kossakovsky für die lernhungrigen
       Meisterklassen aufgestellt, in denen er seine rund um den Globus
       erfolgreiche Schule des Sehens weitergibt. Zeigen, nicht beschreiben will
       er noch nie Gesehenes.
       
       Grandiose Bilder, raffinierte Sounds, überhaupt technisches Know-how, wie
       die filmische Wahrnehmung zu steigern und zu entgrenzen sei, rangieren in
       seiner Welt der Schaulust weit vor Konzepten und Anträgen, wie sie der
       deutsche Förderdschungel in Buchstabenform vorschreibt. Der Filmemacher mit
       Wurzeln in Leningrad (heute St. Petersburg), ist längst ein Weltbürger mit
       Wohnsitz in Berlin, der universell eingängige Filmerlebnisse schaffen will
       und geschickt dafür internationale Produktionsnetzwerke nutzt.
       
       Seine Philosophie lehnt er an Andrei Tarkowskis cineastische Metaphysik an.
       Einzutauchen in ikonische Kinomomente hält er für wichtiger als
       dramaturgische Handlungslogik oder erklärende Voice-over-Kommentare.
       [1][„Aquarela“ (2018), Kossakovskys wuchtig-raffinierter Trip ins Element
       Wasser] und seine Urgewalt in krachenden Eisbergen, dampfenden
       Wasserfällen, wüsten Regenstürmen und Fluten, spielt mit der Angstlust vor
       Katastrophen, wie sie das zeitgenössische Denken im Angesicht des
       Klimawandels prägt.
       
       Er selbst versteht die spektakuläre Ästhetik seiner Filme jedoch als
       poetische Erfahrung und visuelle Energie, die das Kino den anderen Künsten
       voraushat.
       
       In [2][„¡Vivan las Antipodas!“ (2014)] komponierte er faszinierende
       Naturphänomene und Alltagsszenen aus diversen Weltteilen zu einem
       exzentrischen Trip an Orte, die einander auf dem Globus exakt
       gegenüberliegen – als würde man die Reise zum Mittelpunkt der Erde
       konsequent bis ans andere Ende weiterführen. Menschen begegnet man in
       diesem spiegelglatten Hymnus auf die Schönheiten der Erde nur in größerer
       Distanz, wenn zum Beispiel zwei alte Brüder die Brücke über eine idyllische
       Furt in einem argentinischen Sumpfgebiet reparieren oder routinierte
       neuseeländische Schafhirten die Herde scheren.
       
       Aber zugegeben: Die opulent leuchtende Skyline von Schanghai, auch die
       zahllosen blauen Riesenschmetterlinge in einem spanischen Naturreservat
       oder der Gag mit auf dem Kopf stehenden Bildern, die ins entgegengesetzte
       Ende der Welt entführen, bleiben aus seinem Überwältigungskino in
       Erinnerung.
       
       ## Endlich gibt es eine Protagonistin
       
       Und nun das: „Gunda“, Victor Kossakovskys neuer Film, ist das komplette
       Gegenteil seiner vorhergehenden Farbräusche und Zeitreisen. Endlich gibt es
       eine Protagonistin, wenn es sich auch um ein schwerfälliges Mutterschwein
       handelt. Dieser „Meryl Streep des Bauernhofs“ (der Regisseur in einem
       Interview) und ihrem Ferkelwurf ist der größte Teil des Films gewidmet, mit
       all der Ruhe und minimalistischen Wiederholung, die es in natürlicher
       Umgebung braucht, wenn eine nicht gestresste, sich frei bewegende Muttersau
       zehn oder mehr Ferkel großzieht.
       
       Auch Hühner beobachten die Kameras von Victor Kossakovsky und Egil Håskjold
       Larsen in einer anderen Episode teilnahmsvoll. Die Hühner, darunter ein
       einbeiniges, stoßen vorsichtig die angelehnte Tür ihres Käfigs auf, staksen
       äugend durchs Gras und lüften ihr geschundenes Federkleid. Indirekt, ohne
       sichtbare Eingriffe von Menschenhand, deutet der Film hier an, dass wir uns
       auf einem Lebenshof befinden, auf dem Tiere, die aus der brutalen
       Nutztierhaltung ausgemustert wurden, ihr Gnadenbrot finden.
       
       Gunda, das Hausschwein, die Hühner und schließlich ein paar gealterte Kühe
       auf der Weide, deren Körperlichkeit und physiognomische Eigenarten der Film
       geduldig und diskret porträtiert, gehören alle drei zu den Spezies, die
       jährlich tonnenweise verzehrt werden. Als Kind, erzählte Kossakovsky einem
       Schweizer Magazin für vegane Lebensführung, habe er bei den Großeltern auf
       dem Land mit einem Ferkel Freundschaft geschlossen. Nie kam er darüber
       hinweg, dass man seinen Freund zu Weihnachten als Braten servierte. Das, so
       Kossakovsky, machte ihn zum „ersten Vegetarier der Sowjetunion“.
       
       ## Inszenatorisch aufwändig
       
       Inzwischen 60 Jahre alt, kehrt der Regisseur mit „Gunda“zu seinem
       Kindheitsthema zurück. Er knüpft auch an seinen frühen Schwarz-Weiß-Film
       „Die Belovs“ an, einen Klassiker des lyrischen Dokumentargenres, in dem er
       1993 das Leben einer kuriosen Geschwisterfamilie mit „Kühen, Kartoffeln und
       Hund“ in einem verarmten russischen Dorf beobachtete. „Gunda“ indes schafft
       fast dreißig Jahre später, gedreht mit inszenatorischem Aufwand und
       stilistischem Gespür für die Ausstrahlung seiner tierischen Freunde, den
       Film zur Debatte über das Tierwohl.
       
       Kossakovsky nutzte frühere Drehreisen zu „Aquarela“, um das Phänomen der
       Lebenshöfe kennenzulernen. In Norwegen, Großbritannien und Spanien fand er
       so erste Bilder zu seinem noch nicht ausformulierten Thema, das Gunda mit
       ihren großen Ohren, dem wachen Rätselblick und dem weichen Rüssel
       schließlich nicht ohne Unterhaltungswert auf den Punkt zu bringen verhalf.
       
       Das Drehmaterial rund um die entspannte Schweinemutter sandte Kossakovskys
       langjährige Produzentin Anita Rehoff-Larsen an den Hollywoodstar
       [3][Joaquin Phoenix], der sich zur fleischlosen Ernährung bekennt. Phoenix
       war sofort bereit, seinen Namen mit dem Projekt zu verbinden und sich als
       ausführender Produzent zu engagieren.
       
       ## Bodennahe Perspektiven
       
       Gedreht in gestochen scharfen, hochauflösenden Schwarz-Weiß-Bildern und
       Grautönen, bewegt sich der Film nur auf kleinem Fleck: im Stall, auf
       Wiesen, unter Bäumen, immer aus bodennahen Perspektiven. Als sei das
       Publikum Teil der Familie, bringt uns der Effekt den Blick auf die Erde
       nah. Der obligatorische Schmuddel eines Landwirtschaftsbetriebs, vulgo
       Misthaufen oder Futtervorräte kommen in „Gundas“ Idylle nicht vor.
       Unkenntlich bleibt, in welcher europäischen Region sie angesiedelt ist,
       auch Menschen sind nicht sichtbar im Bild.
       
       Wie in allen Filmen Kossakovskys spielt die Soundgestaltung, das heißt die
       suggestive Nachbearbeitung natürlicher Töne durch das Team seines
       Foley-Artists Alexander Dudarev, eine große Rolle für die romantische
       Wirkungsmacht der Landlust, die „Gunda“vermitteln möchte.
       
       Gleichwohl setzt der Regisseur Tierfilmer-Handwerk ein, um sein Thema,
       Gundas „Rolle“ als hingebungsvolle Mutter, in Szene zu setzen. Er ließ
       einen runden Stall mit kuscheligem Strohbett bauen, das schwarze Viereck
       des Ausgangs das magische Zentrum für Gundas und der Ferkel Auftritte.
       Mehrere Kameras zeichneten vom Tag der Geburt an im 360-Grad-Winkel
       Nahaufnahmen von den Kleinen auf.
       
       Beginnend mit Gundas zufriedenem Schnarchen und sich steigernd bis zum
       ersten Auftauchen einzelner Ferkel hinter ihrem Rücken (der eigentliche
       Geburtsvorgang bleibt unsichtbar), stellt der Film die Gier nach den
       mütterlichen Zitzen und den Futterneid der quiekenden Truppe als
       sympathische Mutter-Kind-Beziehung in den Mittelpunkt.
       
       ## Ein Sehnsuchtsbild
       
       Beklommenheit angesichts der wilden Aggression, wie sie vielleicht eine
       menschliche Mutter beim Anblick von Gundas Milchbauch erfasst, scheint
       Kossakovsky nicht zu spüren – so oft wiederholt er die Szenerie. Ein
       Nachzügler wird von Mutters schwerem Tritt im Stroh verletzt, man sieht das
       quiekende kleine Etwas später hinkend bei den anderen draußen, sorgsam vom
       mütterlichen Rüssel beschnuppert. Später sieht man es nicht mehr unter den
       halbstarken Geschwistern.
       
       Anders als das sensationsheischende Infotainment über Tierwelten, das
       unsere Wahrnehmung manipuliert, geht von „Gunda“ die Magie eines
       kontemplativen Zeitgefühls aus. Auf Kosten harter Fakten, zum Beispiel das
       Fressen und Gefressenwerden in der Natur, verführt der Film tröstlich zu
       einem Sehnsuchtsbild, in dem Victor Kossakovsky auf der Suche nach der
       Seele in den Tieren seinem pantheistischen Ideal näher kommt als je zuvor.
       
       18 Aug 2021
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
 (DIR) Claudia Lenssen
       
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