# taz.de -- Filme über Berlin in der Wendezeit: Krepieren, wie ich will
> Sie machen die Verwerfungen der Wendezeit sichtbar. „Heute noch, morgen
> schon“ im Museum Nikolaikirche in Berlin ist eine Ausstellung zum
> Binge-Watchen.
(IMG) Bild: Ost-Punk Stummel mit seinem Baby in „Aber wenn man so leben will wie ich“, Bernd Sahling, DDR 1988
Und plötzlich waren die Wachhäuschen im Tränenpalast am Bahnhof
Friedrichstraße nur noch Holzkisten. Bis November 1989 wurde man von
schroffen, furchteinflößenden DDR-Grenzern mit grimmiger Miene und
sächsischem Zungenschlag in diesen Passkontrollkabinen durchleuchtet –
manche Reise in die Hauptstadt der DDR endete hier vorzeitig wegen
„feindlich-negativer Einstellung“ oder einer Spiegel-Ausgabe im Gepäck.
Und dann waren die ehemaligen Zugangstore nach Ost-Berlin auf einmal nur
noch ein paar zusammengenagelte Sperrholzplatten in einem unterirdischen
Gang, die mit ein paar Handgriffen auseinandergenommen wurden – und zwar
von den Grenzern selbst, die nun keine gruseligen Respektspersonen mehr
waren, sondern auf einmal einen eher verzagten Eindruck machen.
So ist es zu sehen in dem [1][Dokumentarfilm „Berlin Bahnhof
Friedrichstraße 1990“], der nach dem Fall der Mauer von vier
Filmemacherinnen an einem Ort gedreht wurde, der eines der wichtigsten
Symbole des Kalten Kriegs und der deutschen Teilung war. Dann wurde die
schwarze Farbe abgekratzt, welche die Fenster des Bahnhofs blickdicht
gemacht hatte, ein paar Wände wurden eingerissen, und der Bahnhof
Friedrichstraße war wieder ein mittelgroßer Berliner Stadtbahnhof, an dem
S-Bahnen und Regionalzüge hielten und in dessen Kiosken Verkäuferinnen ihre
letzten Schichten vor der Entlassung ableisteten. Eine hat sich schon bei
einem Westberliner Supermarkt beworben – da wurde ihr allerdings erklärt,
dass die Ostdeutschen erst mal das Arbeiten lernen sollten.
Es sind solche Alltagsbeobachtungen, welche die Verwerfungen der Wendezeit,
die bis heute ihre Nachwirkungen haben, erfahrbarer machen als jede
öffentlich-rechtliche Dokumentation mit belehrendem Voice-Over und
dramatischer Musikuntermalung. Ein umfangreiches Programm aus
Dokumentarfilmen, die die unmittelbare Nachwendezeit in Berlin
thematisieren, ist in der Ausstellung „Heute noch, morgen schon. Filmische
Perspektiven auf Berlin um 1990“ im Museum Nikolaikirche in Berlin zu
sehen.
## Die Stadt, die nie ist, sondern immer wird
Das Kuratorenteam [2][Florian Wüst] und [3][Suy Lan Hopmann] hat quer durch
das historische Kirchenschiff eine spektakuläre Gerüstkonstruktion bauen
lassen, auf der die Kabel in der Art von pinken Rohren verborgen sind, die
in der Stadt, die nie ist, sondern immer wird, das Grundwasser der ewigen
Großbaustellen abführen. An den Gerüsten sind neun große Flachbildmonitore
befestigt, die jeweils nonstop in Dauerschleife ein Filmprogramm zeigen.
Wenn man so will, ist diese Filmausstellung eine Dauer-Retrospektive, bei
der das Material nicht in der Zeit montiert ist, sondern im Raum. Und wenn
man sich mit Funkkopfhörern auf dem Kopf von einem Bildschirm zum nächsten
bewegt, entstehen so verblüffende Zusammenhänge und Assoziationen zwischen
dem gut ausgesuchten Material.
Die Filme aus den Produktionsjahren von 1982 bis 2024 zeigen die Wende und
die unmittelbare Nachwendezeit, die lange eine Art neuer Gründungsmythos
von Berlin war, auf den gegenwärtig mal wieder allerhand Abgesänge
angestimmt werden. Da sieht man Kinder, die am Tag der Wiedervereinigung
über ihre Zukunft sinnieren, oder den [4][Ost-Punk] Stummel, der kurz vor
dem Ende der DDR noch einen Ausreiseantrag gestellt hat, weil er „krepieren
möchte, wie ich will“.
Im Ausstellungsort Nikolaikirche fand am 11. Januar 1991 die
konstituierende Sitzung des ersten Gesamtberliner Abgeordnetenhauses seit
1948 statt. Die erste Ausstellungsstation zeigt die damals live
übertragenen Fernsehbilder der Versammlung. Ein Stasi-Psychologe ist sich
keiner persönlichen Schuld bewusst, Egon Krenz versucht in ausufernden
Tiraden einen neuen Sozialismus zu beschwören, und in Prenzlauer Berg
richtet der ostdeutsche Videoaktivist Klaus Freymuth ein selbstverwaltetes
Medienzentrum ein.
Es ist eine historische „Symphonie der Großstadt“ von zum Teil lange
vergessenen Ereignissen, die hier zwischen den LED-Bildschirmen Gestalt
annimmt. Ob man die auf den harten Bänken ohne Lehne am Stück ansehen will,
ist noch einmal eine andere Frage.
Es ist noch nicht so lange her, dass arte oder auch der RBB solche
Archivfunde in langen Fernsehnächten am Wochenende im Fernsehen gezeigt
hat. Aber heute kann man dem Publikum solche historischen Dokumentarfilme
offenbar selbst in den öffentlich-rechtlichen Mediatheken nicht mehr
zumuten. Und solange das Arsenal umzugsbedingt geschlossen hat und das
Zeughauskino wegen Umbau nur ein schmales Programm anbietet, muss man wohl
ins Museum gehen, um solch tolle Archivschätze zu sehen. Wer die ganze
Ausstellung am Stück binge-watchen will, muss fast den ganzen Tag in der
Nicolaikirche verbringen – das gesamte Filmprogramm ist mehr als sechs
Stunden lang.
23 Dec 2025
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