# taz.de -- Marclays 24-Stunden-Werk „The Clock“: Sie dreht sich schon seit Stunden
> In der Neuen Nationalgalerie kann man mit Christian Marclay den ganzen
> Tag lang Uhren beim Ticken zuschauen. Das klingt banal, ist aber große
> Kunst.
(IMG) Bild: Kurz vor dem Knall: Christian Marclay, „The Clock“, Installationsansicht in der Neuen Nationalgalerie, 2025
Als am 5. Dezember um 10 Uhr morgens die Stunde schlug, waren die
Berliner:innen vorbereitet. Über 50 von ihnen fanden sich innerhalb
kürzester Zeit in einem speziell errichteten Kinosaal im Erdgeschoss der
[1][Neuen Nationalgalerie] ein. Die Gäste ließen sich auf den 24
reihenweise angeordneten Ikea-Sofas im Saal nieder. Bis zum Tag darauf
sollte kaum einer dieser Plätze lange leer bleiben.
Sie alle kamen, um ein Stück Kunstgeschichte zu erleben. Denn nichts
weniger als das ist Christian Marclays [2][Videokunstwerk The Clock], für
das die Neue Nationalgalerie zweimal für 34 Stunden ununterbrochen ihre
Pforten öffnet. Grund genug, daraus einen Selbstversuch zu machen.
Bei „The Clock“ handelt es sich um einen sogenannten Supercut, also eine
enorme Aneinanderreihung verschiedenster Filmsequenzen, die alle etwas
gemeinsam haben. In diesem Fall spielt beinahe jede Szene zu einer genauen
Tageszeit, die entweder auf einer Uhr zu sehen ist oder von einer Figur
angesagt wird.
Wenn also Kyle MacLachlan in „Twin Peaks: Fire Walk with Me“ über den
Bildschirm stürmt und [3][David Lynch] anschreit, dass es 10.10 Uhr sei,
dann stimmt das auch in der Außenwelt. So entsteht ein 24-Stunden-Zyklus
ohne Anfang und Ende, der in Echtzeit mitläuft.
## Man weiß immer, wie spät es ist
Das bietet viele Vorteile: Man braucht weder Handy noch Armbanduhr – und
weiß immer, wie lange man schon vor der Leinwand verbracht hat. Für mich
waren es zweieinhalb Stunden, bis ich die erste Pause einlegte. Die Zeit
bis dahin verging überraschend schnell, denn es finden sich immer wieder
Höhepunkte im Programm.
Um 10.37 Uhr etwa läuft Jean-Pierre Léaud als kleiner Junge in François
Truffauts legendärer Schlussszene aus „Sie küssten und sie schlugen ihn“
über den Strand der Normandie. Um Punkt 11 Uhr fällt Harry und Ron auf,
dass sie den Hogwarts-Express vom Gleis 9¾ verpasst haben.
Ab 11.42 Uhr hängt sich Robert Powell in „Die 39 Stufen“ vom Minutenzeiger
des Big Ben, um eine Bombenexplosion zu verhindern. Der ikonische Uhrturm
taucht im Laufe des Tages immer wieder auf. Und um 12 Uhr läutet Charles
Laughton als „Glöckner von Notre-Dame“ theatralisch die Tagesmitte ein.
Bis hierhin gleicht der Vorführraum beinahe einem gemütlichen Wartezimmer
für Cineasten: Circa alle zehn Minuten erhebt sich jemand vom Sofa und
jemand anderes rückt nach. Gedränge gibt es keins und nur wenige Gäste
sitzen verteilt auf dem ausgerollten schwarzen Teppich. Doch das ändert
sich am Abend abrupt.
## Ohne Schlange kein Berlin
Es ist beinahe, als wäre es ein Naturgesetz der Stadt: wo Spektakel, da
Schlange. Die formierte sich gegen 20 Uhr prompt, als der außergewöhnliche
Teil der Vorstellung begann: die verlängerte Öffnung der Nationalgalerie,
um auch die Nacht- und Morgenstunden von „The Clock“ zeigen zu können – und
somit das Werk in Gänze.
Der Saal ist jetzt brechend voll, überall sitzen, liegen und lehnen
Menschen. Nach 23 Uhr verlässt kaum noch jemand den Raum. Zu gespannt ist
man auf das, was kommt. Auch wenn den Ersten bereits die Augen zufallen.
Doch selbst das offenbart neue Eindrücke. Denn Marclay, der mit „The Clock“
2011 die Venediger Biennale gewann, ist ein mindestens genauso renommierter
Audio- wie Videokünstler.
Die Tonspuren der schier endlosen Uhr-Szenen – im Schnitt sind es etwa acht
pro Minute – gehen meist nahtlos ineinander über. Oft plätschern die
Geräusche eines Ausschnitts noch in den nächsten, bevor sie langsam von
neuen Soundkulissen abgelöst werden. Und dann folgt plötzlich wieder ein
abrupter Cut: wenn ein Telefon klingelt, eine Pistole feuert, Lola rennt.
Letzteres wird kurz vor Mittag von wabernden Elektrobeats umrahmt, die
genauso schnell wieder abebben, wie sie aufkamen. Lola wird erst morgen
wieder rennen.
Zur Geisterstunde schlägt es zum zweiten Mal zwölf, und zwar auf mindestens
einem Dutzend Uhren. Der verdammte Big Ben, der zigmal über die Leinwand
flimmerte, explodiert in „V wie Vendetta“. Auch dieses Spektakel dauert nur
wenige Sekunden, doch der laute Knall des berstenden Uhrglases wirkt fast
schon erlösend.
## Zurück zum Anfang
Nach Mitternacht kapitulierten nicht nur das Londoner Wahrzeichen, sondern
auch die Berliner:innen nach und nach. Die Schlange wurde immer kürzer,
bis sie gegen ein Uhr völlig verschwand. Kurz vor zwei Uhr waren noch etwa
100 Menschen im Saal.
Um 1.48 Uhr ertönten vom Bildschirm die hypnotischen Worte „You’re feeling
sleepy. You’re going to bed. Close your eyes.“ Neben mir schnarchte es
bereits lautstark. Zu müde, um wach zu bleiben, und zu unbequem, um
wirklich zu ruhen, entschied ich nach fast 16 Stunden, den Rückzug
anzutreten. „The Clock“ hatte gewonnen.
Ganz aufgeben konnte ich freilich nicht. Der 24-Stunden-Zyklus musste
geschlossen werden. Deshalb fand ich mich samstags um Viertel vor zehn
wieder im Kino ein. Das Publikum hatte sich ziemlich genau auf die knapp 50
Leute, die auf den weißen Ikea-Sofas Platz haben, reduziert. Auch eine
Berliner Eigenart, dass man um zwei Uhr mit mehr Besucher:innen rechnen
kann als um zehn.
Als ich meiner Startzeit immer näher kam, stieg die Spannung in mir. Was
würde wohl die erste Szene sein, die ins Gedächtnis zurückkehrt? Dann
passierte es: In Schwarz-Weiß hastet ein kleiner Junge unentwegt über einen
endlos scheinenden Strand. Für einen Augenblick sind wir wieder gemeinsam
mit Jean-Pierre Léaud in der Normandie. Und ich bekomme ein wenig
Gänsehaut.
Marclays Ode an den Film innerhalb einer Sitzung komplett zu sehen, grenzt
an das menschlich Mögliche. Doch genau das nimmt vielleicht auch ein
bisschen den Druck: Es ist einfach schön, along for the ride zu sein. Immer
wieder kamen Freund:innen vorbei, um mich zu ermutigen und gemeinsam ein
wenig auf die Uhr zu starren. Viele taten es uns gleich. Hier hat man
schließlich alle Zeit der Welt.
9 Dec 2025
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## AUTOREN
(DIR) Alexander Kloß
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