# taz.de -- Juli Zeh über Nachbarn, die AfD wählen: „Ich bin nicht der Heldinnen-Typ“
> Viel wird geredet über die, die für die AfD stimmen, Schriftstellerin
> Juli Zeh lebt mit ihnen im Dorf. Ein Gespräch über Rechtspopulisten,
> Talkshows und durchtanzte Nächte.
(IMG) Bild: „Ich hätte es gemütlicher, wenn ich mich nicht einmischen würde“: Juli Zeh in Brandenburg
Der Weg ins Havelland führt durch Wälder, über Alleen und an Seen vorbei.
Auf einem großen Feld zur Linken stehen Kraniche, rechts ziehen Wildgänse
vorüber. In einem Dorf hat [1][Juli Zeh] ein altes Häuschen zu ihrem Büro
umgebaut. Abgemacht war, dass wir für die genaue Adresse anrufen, wenn wir
in der Nähe sind. Aber wir kriegen kein Netz. Klappt dann doch. Erst kommt
der Hund um die Ecke, dann sie selbst.
taz: Schön hier. Aber haben Sie in letzter Zeit mal überlegt wegzuziehen?
Juli Zeh: Bis jetzt nicht. Aber im idyllischen Sinn ist es gar nicht so
schön, oder?
taz: Nein? Die vielen Seen, das Schilf, die Vögel …
Zeh: Es ist nicht lieblich, eher karg. Aber ich mag’s. Es lässt einen sehr
in Ruhe, sowohl die Landschaft als auch die Leute.
taz: Bei der Bundestagswahl im Februar haben 54 Prozent der Leute im Dorf
AfD gewählt.
Zeh: Ja, da sind wir Spitzenreiter der negativen Art.
taz: War das ein Schock für Sie?
Zeh: Das hielt sich in Grenzen. Es ist ja keine neue Entwicklung, die
Zustimmung für die AfD wird Jahr für Jahr mehr.
taz: Ist es krass zu wissen, dass so viele Ihrer Nachbarn [2][für die AfD]
stimmen?
Zeh: Was genau ist daran krass?
taz: Dass Sie umgeben sind von Leuten, die eine mindestens in Teilen
verfassungsfeindliche Partei gut finden.
Zeh: Die Menschen hier finden vor allem die anderen Parteien schlecht. Ich
glaube, wir haben momentan niemanden im Dorf, der mit seinen Meinungen
außerhalb der Verfassung stünde.
taz: Sind Sie da sicher?
Zeh: Ich würde es wahrscheinlich mitkriegen. Anders, als immer mal wieder
berichtet wird, ist der durchschnittliche AfD-Wähler glücklicherweise ja
kein Rechtsradikaler. Die überwiegende Mehrheit ist nicht der Meinung, man
müsste alle Ausländer remigrieren oder noch Schlimmeres. Es gab vor Jahren
mal jemanden im Dorf, der offen rassistisch war. Der hat aber Widerstand
bekommen, wenn er sich auf Partys schlecht benommen hat.
taz: Sie werden auf Partys eingeladen? Anderswo werden Neue oft viele Jahre
nicht einbezogen.
Zeh: Hier ist das nicht so. Das liegt sicher auch an der Historie der
Region. Sie wurde im letzten Jahrhundert von der Geschichte so krass
durchgeknetet, es gibt kaum Leute, die hier geboren sind. Man ist eher froh
über Zugezogene, lange hieß es ja, die Dörfer würden sterben. Wir wurden
wirklich mit sehr offenen Armen aufgenommen, obwohl wir speziell sind,
Wessis, noch dazu Künstler.
taz: Dann treten Sie auch noch in Talkshows auf und erklären
[3][Brandenburg].
Zeh: Das finden die Leute eher gut. Ich kenne viele Landwirte, das sind
fast die einzigen Arbeitgeber hier. Die gehen Stück für Stück pleite.
Grauenvoll, dann verlieren 40 Leute ihren Job, da hängen Familien dran.
Wenn ich davon im Fernsehen erzähle, bringe ich eine gewisse Sichtbarkeit.
Es wäre natürlich cooler, wenn man die Betroffenen mal direkt fragen würde.
Das ist ja ihr Gefühl, dass in Bezug auf sie eine totale Entfremdung
herrscht, ein Nichtwissen.
taz: Wären Sie nicht weiß, würden Sie dann anders über Ihre Nachbarn reden?
Zeh: Ich glaube nicht, aber das kann ich natürlich nicht beschwören. Da
müssen Sie die Menschen mit Migrationshintergrund fragen, die hier auf den
Dörfern leben. Mein Eindruck ist, dass das ganz gut funktioniert. Gewiss
sagen manche Nachbarn Sachen wie: „Den Ausländern wird alles in den Arsch
geschoben, und wir machen drei Jobs und können die Raten für das
Einfamilienhaus nicht bezahlen.“ Solche Aussagen gibt es. Aber es ist immer
noch ein Riesenunterschied, ob man politisch so redet oder ob man eine
Person ablehnt, die einem gegenübersteht.
taz: Aus Worten können Taten werden.
Zeh: Wird oft gesagt, stimmt aber Gott sei Dank in der Regel nicht.
Jedenfalls beobachte ich das hier nicht.
taz: Fühlen Sie sich hier Zuhause?
Zeh: Ja klar, wir sind ja bald seit 20 Jahren hier. Und wir haben uns
wirklich schnell sehr wohl gefühlt. Ich war enorm froh, Menschen
kennenzulernen, mit denen ich sonst niemals Kontakt gehabt hätte.
taz: Leute, die nicht so sind wie man selbst.
Zeh: Genau. Dieses etwas abgenutzte [4][Reden von Bubbles und Blasen]
stimmt ja. Es gibt immer weniger Kontakt zwischen den gesellschaftlichen
Schichten. Das sind geschlossene Communitys. Ich finde es sehr bereichernd,
wenn ich die Möglichkeit habe, da reinzuschauen und Menschen wirklich
kennenzulernen.
taz: Ab und an brauchen Sie doch die Stadt. [5][In einem Arte-Porträt]
haben Sie gesagt, dass Sie regelmäßig nach Berlin fahren und die Nacht
durchtanzen. Wirklich?
Zeh: Ja, ich tanze die Nacht durch und miste morgens den Pferdestall aus.
taz: Alle paar Monate?
Zeh: Nein, schon so einmal die Woche. Sonst wäre es ja nicht der Rede wert.
taz: Warum wählen denn so viele im Dorf AfD?
Zeh: Die Leute sind einfach extrem unzufrieden. Sie haben nicht das
geringste Vertrauen in die herkömmlichen Parteien, weil es an allen Ecken
und Enden an der simplen Grundversorgung fehlt: Bildung, Mobilität,
Gesundheit, Pflege, bezahlbarer Wohnraum. Mir hat eine Frau erzählt, dass
ihrer Tochter ein Schulplatz zugewiesen wurde, den sie kaum erreichen
konnte. Es gibt ja nicht wirklich öffentlichen Nahverkehr bei uns. Das
Mädchen musste x-mal umsteigen. Die Mutter wollte nicht, dass ihr Kind
alleine bei Kälte und Dunkelheit am Bahnhof steht. Also hat sie es immer
gefahren. Deswegen kam die Mutter jeden Tag zu spät zur Arbeit. Nach zwei
Wochen wurde ihr gekündigt. Ein halbes Jahr später haben sie doch noch
einen Schulplatz etwas näher zum Wohnort bekommen, Gott sei Dank. Aber der
Job der Mutter war weg. Dass Menschen, die so etwas erleben, AfD wählen,
wundert mich nicht.
taz: Denkt diese Mutter wirklich, dass die AfD für mehr Schulplätze sorgen
würde?
Zeh: Nein. Die meisten, mit denen ich spreche, glauben gar nicht, dass die
AfD Lösungen parat hätte.
taz: Aber?
Zeh: Die AfD ist anschlussfähig mit dem, was sie so rumplärrt, mit ihrer
Elitenfeindlichkeit und Verachtung für Politiker. Ich würde sagen, dass die
Elitenverachtung von fast allen hier geteilt wird, selbst von Menschen, die
nicht AfD wählen. Auch von Leuten mit Abi und Studium. Man kann daraus aber
nicht ableiten, dass alle gegen die Demokratie sind. Es gibt auf
rechtsextremer und linksextremer Seite Leute, die ernsthaft glauben, dass
Demokratie nicht die richtige Staatsform ist. Aber das ist nicht die
Mehrheit, das sind wenige.
taz: Moment mal. Die AfD-Wähler hier im Dorf erwarten nichts mehr von der
liberaldemokratischen Regierung, aber die Demokratie an sich finden sie
gut?
Zeh: Ja, selbstverständlich. Das sind doch zwei vollkommen unterschiedliche
Dinge. Die Leute, die AfD wählen, die wollen ja zum Teil sogar mehr
Demokratie. Die wollen mehr Plebiszite, mehr Einfluss des Volkes. Die sind
der Meinung, dass ein großer Teil der Bevölkerung ihre Auffassung teilt,
zum Beispiel bei der Kritik an Zuwanderung, und dass die sogenannten Eliten
in Wahrheit undemokratische Institutionen sind. Aus dieser Sicht haben die
Eliten die Pressefreiheit eingeschränkt und einen homogenen medialen
Diskurs geschaffen. Die Eliten treffen angeblich Entscheidungen, die nicht
vom Volk getragen sind. Sie machen eine Top-down-Politik im Land, obwohl
sie demokratisch gewählt sind.
taz: Frau Zeh! Die wollen nicht mehr Demokratie, die tragen auf der Fiktion
einer Volksmehrheit minderheiten- und migrationsfeindliche Positionen mit.
Zeh: Frau Lang-Lendorff und Herr Unfried! Demokratie ist nicht, wenn
Menschen Dinge wählen, die man selbst gut und richtig findet! Sonst müssten
Sie die Schweiz als eine untergegangene Demokratie betrachten, weil es dort
erfolgreiche Plebiszite gegen den Bau von Minaretten gibt. Man muss
unterscheiden können zwischen eigenen politischen Überzeugungen und
Demokratie. Im Extremfall setzt unsere Verfassung auch demokratisch
legitimierten Entscheidungen Grenzen, aber man kann nicht alles als
undemokratisch bezeichnen, was einem nicht gefällt. Der durchschnittliche
AfD-Wähler will nicht das Parlament abschaffen. Er hegt vielmehr ein tiefes
Misstrauen gegen alle Entscheidungsträger in den Hauptstädten. Natürlich
ist das Misstrauen in dieser Form aus meiner Sicht nicht gerechtfertigt.
Aber wenn man irgendetwas verstehen will, muss man es zur Kenntnis nehmen.
taz: Seit dem Frühjahr haben wir eine neue Bundesregierung. Wie wird die
bewertet?
Zeh: Das interessiert schon gar keinen mehr, würde ich sagen. Ich will den
Defätismus nicht größer reden, als er eh schon ist. Aber dieses Wegdriften
ist schon dramatisch. Dadurch werden die Leute verführbar und manipulierbar
durch Extremisten.
taz: Mit Wegdriften meinen Sie die Systemferne?
Zeh: Nennen wir es mal so. Wenn man jahrzehntelange in der Diktatur gelebt
hat, ist das Misstrauen gegenüber staatlichen Instanzen sowieso noch mal
größer, und es wird auch an die nachfolgenden Generationen weitergegeben.
Für mich als Westlerin ist es normal zu sagen: Ich bin zu Hause in dieser
Staatsform, ich traue den gewählten Vertretern auch dann, wenn sie nicht
meine Favoriten sind. Sich so stark mit dem Staat zu identifizieren, kann
aber für jemanden, der aus der DDR kommt, ganz merkwürdig sein. In
Diktaturen lernen die Menschen: Man wurschtelt unter dem Radar, grenzt sich
von Politik ab und setzt nicht so große Hoffnungen in sie.
taz: Bei urbanen Schnöseln wird schon darüber gesprochen, in welches Land
man gehen könnte, wenn die AfD regiert. Das käme für Sie nicht in Frage?
Zeh: Weggehen wegen der AfD? Ich würde fliehen, wenn man mich politisch so
verfolgt, dass ich Angst haben muss um mein Leben und meine Familie. Ich
bin nicht der Heldinnen-Typ. Aber das ist nicht die Situation, vor der wir
stehen. In unserer Geschichte gab es das ja, nicht nur die Flucht [6][aus
dem Dritten Reich], sondern auch aus der [7][DDR]. Heute leben hier Syrer,
die im Schlauchboot über das Mittelmeer fliehen mussten. Und wir sitzen da,
beim Rotwein, und sagen: „Ach Gott, ich halt’s nicht mehr aus.“ Also, das
ist ganz schön wohlfeil.
taz: Was halten Sie selbst von der [8][Merz-Regierung]?
Zeh: Ich bin kein Fan von Friedrich Merz.
taz: Fanden Sie hilfreich, was er über die [9][„Probleme im Stadtbild“]
gesagt hat?
Zeh: Nein. Ich will ihm nichts unterstellen, aber häufig genug werden
solche Debatten ja nicht geführt, um tatsächlich Probleme zu benennen und
Dinge zu verbessern. Es geht nur darum, eine Form von Alarm zu machen, in
der Hoffnung, man könnte Leute vom rechten Rand zur CDU zurückholen. Das
halte ich für absolut kontraproduktiv und das Dümmste, was man machen kann.
Funktioniert einfach nicht.
taz: Dass die Leute wegdriften, liegt Ihrer Meinung nach vor allem am
Politikversagen, richtig?
Zeh: Die ganze Regierungsphase Merkel hat das Land bei der Daseinsvorsorge
nicht vorangebracht. In der Zeit ist ein riesiger Rückstau entstanden, was
Reformen angeht. Bildung, bezahlbares Wohnen, Mobilität,
Gesundheitsversorgung. Ich zeige da auch auf meine Partei, die SPD, weil
die vor allem für Menschen zuständig ist, die sich keine Privatschulen und
keine private Krankenkasse leisten können. Abgesehen davon hat der Erfolg
von Rechtspopulisten natürlich auch was zu tun mit dem Hin- und
Herschwingen des Pendels zwischen Progression und Reaktion. Schließlich
gibt es die Entwicklung nicht nur bei uns, sondern in der ganzen westlichen
Hemisphäre.
taz: Wenn das Pendel nun zurückschwingt, was kann man da tun?
Zeh: Standhaft bleiben. Kein Geld mit Alarmismus verdienen, das geht jetzt
auch in Ihre Richtung. Wenn man sagt, die Apokalypse droht, wer hat dann
noch Zeit für Demokratie und Liberalismus? Dann befördert man den Erfolg
der Rechtspopulisten. Das gilt für jeden, der wegen einer erfolgreichen
Schlagzeile so tut, als stünden wir unmittelbar vor dem Zusammenbruch des
Landes oder vor dem Dritten Weltkrieg.
taz: Wenn der Rechtspopulismus derart an Zuspruch gewinnt, müssen wir dann
unsere Demokratie nicht schützen?
Zeh: Ja, gerne, und wie? Mit einem AfD-Verbotsverfahren oder der
Brandmauer, meinen Sie? Gute Frage. Ich weiß nicht, ob die AfD heute
[10][ohne Brandmauer] besser oder schlechter dastünde.
taz: Sie sind dagegen?
Zeh: Ich bin kein Fan davon, ich bin halt auch Juristin. Man sollte nicht
die eigenen Regeln und Grundsätze über Bord werfen, um einen politischen
Gegner zu bekämpfen. Ich kann einfach nicht glauben, dass das funktioniert.
Man begeht quasi Selbstmord aus Angst vor dem Tod. Die Brandmauer hat zum
Teil auch diesen Effekt.
taz: Sie hält die AfD von der Macht fern.
Zeh: Scheint mir nicht so, die Prozente der AfD steigen ja immer weiter.
Abgesehen davon bewegt man sich ja selbst oft in der Grauzone des
Verfassungsrechts, indem man versucht, die AfD auf diese Weise zu
bekämpfen. Zum Beispiel, wenn AfD-Mitglieder kategorisch vom Staatsdienst
ausgeschlossen werden sollen und ähnliches.
taz: Wenn eine Partei gesichert rechtsextremistisch ist, dann muss die
Demokratie sich schützen.
Zeh: Das kann man so sagen, und alle Nicht-AfD-Wähler werden zustimmen.
Aber was soll das denn konkret heißen? Der Versuch, mit der Brandmauer die
AfD kleinzuhalten, hat in den letzten zehn Jahren nichts gebracht. Im
Brandenburgischen Landtag gibt es schon jetzt keine Zwei-Drittel-Mehrheit
mehr ohne die AfD. Um beispielsweise einen Verfassungsrichter zu wählen,
braucht man aber zwei Drittel des Landtags. Wählen wir dann halt keine
Verfassungsrichter mehr?
taz: Sie waren vehement gegen ein [11][AfD-Verbot]. Sind Sie es immer noch?
Zeh: Ich bin doch nicht prinzipiell gegen ein AfD-Verbot. Ich sag’s noch
mal: Ich bin Juristin. Wenn ein Parteiverbotsverfahren Aussicht auf Erfolg
hat, kann und muss man es anstrengen. Wenn nicht, wird es der AfD nutzen.
Wenn Sie einen halbwegs cleveren AfD-Funktionär fragen, was auf seinem
Wunschzettel für 2026 steht, dann sagt der wahrscheinlich: Ich wünsche mir
ein Parteiverbotsverfahren. Allein der Versuch, sie zu verbieten, würde der
AfD krass nutzen.
taz: Wir haben eine Situation, in der fast alles dem Rechtspopulismus
nützt.
Zeh: Außer guter Politik und gutem Journalismus vielleicht.
taz: Dafür muss man möglicherweise die systemischen Grundlagen für
erfolgreiche Politik überarbeiten.
Zeh: Momentan sehen wir einen Teufelskreis. Je stärker die AfD wird, desto
zufälliger werden die Koalitionen, desto dysfunktionaler läuft es ab und
desto leichter kann die AfD sagen: Hahaha, die kriegen es wieder nicht hin.
Das heißt, die Mitglieder einer noch so schwierigen Koalition müssten ihr
Profilierungsstreben beiseite lassen und gemeinsam sagen: Bildung,
Krankenhäuser, Transport, billiges Wohnen, das werden wir jetzt vier Jahre
lang machen.
taz: Das hätte doch Ihr [12][Parteigenosse Olaf Scholz] tun können.
Zeh: Hätte er müssen. Das ist, wenn überhaupt, der einzige Hebel, wie man
den Rechtspopulisten beikommen kann – durch Politik, die wirklich konkrete
Probleme adressiert. Und dadurch das Misstrauen auflöst.
taz: Wir haben auch noch so kleine Probleme wie die Erderwärmung, die
Amerikaner, die Russen, die Chinesen. Regieren ist nicht mehr so einfach
wie zu den goldenen Zeiten der Volksparteien.
Zeh: Ich glaube nicht, dass es jemals einfach oder irgendwie golden war.
Die Verklärung der Vergangenheit ist eine weitere Ursache für
Zukunftsangst, sie verstärkt das Misstrauen gegenüber den demokratischen
Institutionen. Damit sollte man vorsichtig sein.
taz: Auch in den Städten gibt es Probleme mit Wohnraum oder Schulplätzen,
und trotzdem wählen die Menschen nicht AfD. Die Probleme auf Rente, Miete,
Schule und Gesundheit zu reduzieren, ist zu einfach.
Zeh: Die Probleme in den Städten betreffen ebenfalls die Peripherie,
Stadtrandlagen, wo eher Benachteiligte wohnen. Wenn man den
gesellschaftlichen Frieden wahren will, muss man verstehen, dass es
berechtigte Interessen gibt, die in einer Demokratie von den Wählern
ausgedrückt werden. Wählen und Demokratie ist nicht in erster Linie eine
moralische Angelegenheit, so gerne wir auch von Werten sprechen. Es ist ein
System zur Herstellung von Interessenausgleich und damit von
gesellschaftlichem Zusammenhalt. Wenn man es so weit kommen lässt, dass das
Land wirklich gespalten ist, wie in den USA, dann kriegt man halt
irgendwann gar nichts mehr auf die Kette. Keine Verteidigung, keine
Wirtschaft, keine Klimapolitik, gar nichts.
taz: Sie mischen regelmäßig in der öffentlichen Debatte mit. In dem
Arte-Portrait sagten Sie: „Ich habe das Gefühl, dass es wichtig ist, dass
ich das mache.“ Warum?
Zeh: Ich kriege das gespiegelt, und das treibt mich immer wieder an. Ich
hätte es gemütlicher, wenn ich mich nicht einmischen würde. So schön ist
das nicht, sich dauernd ankacken zu lassen.
taz: Bekommen Sie viele Shitstorms?
Zeh: Schon manchmal.
taz: Sie haben früh die Corona-Politik kritisiert, Sie haben zusammen mit
Sahra Wagenknecht Waffenlieferungen an die überfallene Ukraine kritisiert.
Wo kommt der Antrieb her, gegen die linksliberale Mehrheitsmeinung zu
sprechen?
Zeh: Der Antrieb ist simpel: Das Thema muss mir wichtig sein und die
kritische Position zu wenig vertreten. Meinungspluralismus ist das
Gesundheitselixier der Demokratie. Daran mitzuwirken, ist aus meiner Sicht
gerade eine Aufgabe von freiberuflichen Intellektuellen. Wenn medial so ein
komisches Schweigen herrscht, dann denke ich immer: Hier stimmt was nicht.
Jetzt muss ich was sagen.
taz: Ist Ihnen immer klar, für welche Rolle Sie für Talkshows gecastet
werden?
Zeh: Ich denke schon. Es gab eine Phase, in der ich viele Einladungen
abgelehnt habe, weil ich als Punchingball kommen sollte. Etwa zur Ukraine,
wenn da vier Leute sitzen, die der Meinung sind, wir müssen das
durchkämpfen, wir besiegen Russland militärisch. Und dann braucht man noch
eine Person, die was dagegen sagt, damit die anderen sich daran abarbeiten
können. Bei so was mache ich nicht mit. Aber in letzter Zeit werde ich
wieder für eine Rolle eingeladen, mit der ich mich gut identifizieren kann.
taz: Welche?
Zeh: Als jemand, der nicht fest in einem Lager verortet ist.
taz: Naja, Sie sagen immer „meine Partei“, wenn Sie von der SPD sprechen.
Zeh: Weil ich da Mitglied bin. Aber ich bin keine Politikerin, ich muss
nicht für eine Institution sprechen. Ich kann sagen, was ich will, ganz
egal, was gerade die Parteilinie ist. Man kann mich ja nicht stoppen.
taz: Mal erwogen, zum BSW zu wechseln?
Zeh: Nein.
taz: Teilweise spricht Sahra Wagenknecht ähnliche Dinge aus wie Sie.
Zeh: Ich bin Sozialdemokratin. Das ist für mich nicht nur eine politische
Idee, sondern eine Weltsicht. Und wenn die Realität nicht so ist, muss man
nicht gleich austreten. Man kann auch versuchen, für etwas einzutreten.
27 Dec 2025
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