# taz.de -- Juli Zeh über Nachbarn, die AfD wählen: „Ich bin nicht der Heldinnen-Typ“
       
       > Viel wird geredet über die, die für die AfD stimmen, Schriftstellerin
       > Juli Zeh lebt mit ihnen im Dorf. Ein Gespräch über Rechtspopulisten,
       > Talkshows und durchtanzte Nächte.
       
 (IMG) Bild: „Ich hätte es gemütlicher, wenn ich mich nicht einmischen würde“: Juli Zeh in Brandenburg
       
       Der Weg ins Havelland führt durch Wälder, über Alleen und an Seen vorbei.
       Auf einem großen Feld zur Linken stehen Kraniche, rechts ziehen Wildgänse
       vorüber. In einem Dorf hat [1][Juli Zeh] ein altes Häuschen zu ihrem Büro
       umgebaut. Abgemacht war, dass wir für die genaue Adresse anrufen, wenn wir
       in der Nähe sind. Aber wir kriegen kein Netz. Klappt dann doch. Erst kommt
       der Hund um die Ecke, dann sie selbst. 
       
       taz: Schön hier. Aber haben Sie in letzter Zeit mal überlegt wegzuziehen? 
       
       Juli Zeh: Bis jetzt nicht. Aber im idyllischen Sinn ist es gar nicht so
       schön, oder?
       
       taz: Nein? Die vielen Seen, das Schilf, die Vögel … 
       
       Zeh: Es ist nicht lieblich, eher karg. Aber ich mag’s. Es lässt einen sehr
       in Ruhe, sowohl die Landschaft als auch die Leute.
       
       taz: Bei der Bundestagswahl im Februar haben 54 Prozent der Leute im Dorf
       AfD gewählt. 
       
       Zeh: Ja, da sind wir Spitzenreiter der negativen Art.
       
       taz: War das ein Schock für Sie? 
       
       Zeh: Das hielt sich in Grenzen. Es ist ja keine neue Entwicklung, die
       Zustimmung für die AfD wird Jahr für Jahr mehr.
       
       taz: Ist es krass zu wissen, dass so viele Ihrer Nachbarn [2][für die AfD]
       stimmen? 
       
       Zeh: Was genau ist daran krass?
       
       taz: Dass Sie umgeben sind von Leuten, die eine mindestens in Teilen
       verfassungsfeindliche Partei gut finden. 
       
       Zeh: Die Menschen hier finden vor allem die anderen Parteien schlecht. Ich
       glaube, wir haben momentan niemanden im Dorf, der mit seinen Meinungen
       außerhalb der Verfassung stünde.
       
       taz: Sind Sie da sicher? 
       
       Zeh: Ich würde es wahrscheinlich mitkriegen. Anders, als immer mal wieder
       berichtet wird, ist der durchschnittliche AfD-Wähler glücklicherweise ja
       kein Rechtsradikaler. Die überwiegende Mehrheit ist nicht der Meinung, man
       müsste alle Ausländer remigrieren oder noch Schlimmeres. Es gab vor Jahren
       mal jemanden im Dorf, der offen rassistisch war. Der hat aber Widerstand
       bekommen, wenn er sich auf Partys schlecht benommen hat.
       
       taz: Sie werden auf Partys eingeladen? Anderswo werden Neue oft viele Jahre
       nicht einbezogen. 
       
       Zeh: Hier ist das nicht so. Das liegt sicher auch an der Historie der
       Region. Sie wurde im letzten Jahrhundert von der Geschichte so krass
       durchgeknetet, es gibt kaum Leute, die hier geboren sind. Man ist eher froh
       über Zugezogene, lange hieß es ja, die Dörfer würden sterben. Wir wurden
       wirklich mit sehr offenen Armen aufgenommen, obwohl wir speziell sind,
       Wessis, noch dazu Künstler.
       
       taz: Dann treten Sie auch noch in Talkshows auf und erklären
       [3][Brandenburg]. 
       
       Zeh: Das finden die Leute eher gut. Ich kenne viele Landwirte, das sind
       fast die einzigen Arbeitgeber hier. Die gehen Stück für Stück pleite.
       Grauenvoll, dann verlieren 40 Leute ihren Job, da hängen Familien dran.
       Wenn ich davon im Fernsehen erzähle, bringe ich eine gewisse Sichtbarkeit.
       Es wäre natürlich cooler, wenn man die Betroffenen mal direkt fragen würde.
       Das ist ja ihr Gefühl, dass in Bezug auf sie eine totale Entfremdung
       herrscht, ein Nichtwissen.
       
       taz: Wären Sie nicht weiß, würden Sie dann anders über Ihre Nachbarn reden? 
       
       Zeh: Ich glaube nicht, aber das kann ich natürlich nicht beschwören. Da
       müssen Sie die Menschen mit Migrationshintergrund fragen, die hier auf den
       Dörfern leben. Mein Eindruck ist, dass das ganz gut funktioniert. Gewiss
       sagen manche Nachbarn Sachen wie: „Den Ausländern wird alles in den Arsch
       geschoben, und wir machen drei Jobs und können die Raten für das
       Einfamilienhaus nicht bezahlen.“ Solche Aussagen gibt es. Aber es ist immer
       noch ein Riesenunterschied, ob man politisch so redet oder ob man eine
       Person ablehnt, die einem gegenübersteht.
       
       taz: Aus Worten können Taten werden. 
       
       Zeh: Wird oft gesagt, stimmt aber Gott sei Dank in der Regel nicht.
       Jedenfalls beobachte ich das hier nicht.
       
       taz: Fühlen Sie sich hier Zuhause? 
       
       Zeh: Ja klar, wir sind ja bald seit 20 Jahren hier. Und wir haben uns
       wirklich schnell sehr wohl gefühlt. Ich war enorm froh, Menschen
       kennenzulernen, mit denen ich sonst niemals Kontakt gehabt hätte.
       
       taz: Leute, die nicht so sind wie man selbst. 
       
       Zeh: Genau. Dieses etwas abgenutzte [4][Reden von Bubbles und Blasen]
       stimmt ja. Es gibt immer weniger Kontakt zwischen den gesellschaftlichen
       Schichten. Das sind geschlossene Communitys. Ich finde es sehr bereichernd,
       wenn ich die Möglichkeit habe, da reinzuschauen und Menschen wirklich
       kennenzulernen.
       
       taz: Ab und an brauchen Sie doch die Stadt. [5][In einem Arte-Porträt]
       haben Sie gesagt, dass Sie regelmäßig nach Berlin fahren und die Nacht
       durchtanzen. Wirklich? 
       
       Zeh: Ja, ich tanze die Nacht durch und miste morgens den Pferdestall aus.
       
       taz: Alle paar Monate? 
       
       Zeh: Nein, schon so einmal die Woche. Sonst wäre es ja nicht der Rede wert.
       
       taz: Warum wählen denn so viele im Dorf AfD? 
       
       Zeh: Die Leute sind einfach extrem unzufrieden. Sie haben nicht das
       geringste Vertrauen in die herkömmlichen Parteien, weil es an allen Ecken
       und Enden an der simplen Grundversorgung fehlt: Bildung, Mobilität,
       Gesundheit, Pflege, bezahlbarer Wohnraum. Mir hat eine Frau erzählt, dass
       ihrer Tochter ein Schulplatz zugewiesen wurde, den sie kaum erreichen
       konnte. Es gibt ja nicht wirklich öffentlichen Nahverkehr bei uns. Das
       Mädchen musste x-mal umsteigen. Die Mutter wollte nicht, dass ihr Kind
       alleine bei Kälte und Dunkelheit am Bahnhof steht. Also hat sie es immer
       gefahren. Deswegen kam die Mutter jeden Tag zu spät zur Arbeit. Nach zwei
       Wochen wurde ihr gekündigt. Ein halbes Jahr später haben sie doch noch
       einen Schulplatz etwas näher zum Wohnort bekommen, Gott sei Dank. Aber der
       Job der Mutter war weg. Dass Menschen, die so etwas erleben, AfD wählen,
       wundert mich nicht.
       
       taz: Denkt diese Mutter wirklich, dass die AfD für mehr Schulplätze sorgen
       würde? 
       
       Zeh: Nein. Die meisten, mit denen ich spreche, glauben gar nicht, dass die
       AfD Lösungen parat hätte.
       
       taz: Aber? 
       
       Zeh: Die AfD ist anschlussfähig mit dem, was sie so rumplärrt, mit ihrer
       Elitenfeindlichkeit und Verachtung für Politiker. Ich würde sagen, dass die
       Elitenverachtung von fast allen hier geteilt wird, selbst von Menschen, die
       nicht AfD wählen. Auch von Leuten mit Abi und Studium. Man kann daraus aber
       nicht ableiten, dass alle gegen die Demokratie sind. Es gibt auf
       rechtsextremer und linksextremer Seite Leute, die ernsthaft glauben, dass
       Demokratie nicht die richtige Staatsform ist. Aber das ist nicht die
       Mehrheit, das sind wenige.
       
       taz: Moment mal. Die AfD-Wähler hier im Dorf erwarten nichts mehr von der
       liberaldemokratischen Regierung, aber die Demokratie an sich finden sie
       gut? 
       
       Zeh: Ja, selbstverständlich. Das sind doch zwei vollkommen unterschiedliche
       Dinge. Die Leute, die AfD wählen, die wollen ja zum Teil sogar mehr
       Demokratie. Die wollen mehr Plebiszite, mehr Einfluss des Volkes. Die sind
       der Meinung, dass ein großer Teil der Bevölkerung ihre Auffassung teilt,
       zum Beispiel bei der Kritik an Zuwanderung, und dass die sogenannten Eliten
       in Wahrheit undemokratische Institutionen sind. Aus dieser Sicht haben die
       Eliten die Pressefreiheit eingeschränkt und einen homogenen medialen
       Diskurs geschaffen. Die Eliten treffen angeblich Entscheidungen, die nicht
       vom Volk getragen sind. Sie machen eine Top-down-Politik im Land, obwohl
       sie demokratisch gewählt sind.
       
       taz: Frau Zeh! Die wollen nicht mehr Demokratie, die tragen auf der Fiktion
       einer Volksmehrheit minderheiten- und migrationsfeindliche Positionen mit. 
       
       Zeh: Frau Lang-Lendorff und Herr Unfried! Demokratie ist nicht, wenn
       Menschen Dinge wählen, die man selbst gut und richtig findet! Sonst müssten
       Sie die Schweiz als eine untergegangene Demokratie betrachten, weil es dort
       erfolgreiche Plebiszite gegen den Bau von Minaretten gibt. Man muss
       unterscheiden können zwischen eigenen politischen Überzeugungen und
       Demokratie. Im Extremfall setzt unsere Verfassung auch demokratisch
       legitimierten Entscheidungen Grenzen, aber man kann nicht alles als
       undemokratisch bezeichnen, was einem nicht gefällt. Der durchschnittliche
       AfD-Wähler will nicht das Parlament abschaffen. Er hegt vielmehr ein tiefes
       Misstrauen gegen alle Entscheidungsträger in den Hauptstädten. Natürlich
       ist das Misstrauen in dieser Form aus meiner Sicht nicht gerechtfertigt.
       Aber wenn man irgendetwas verstehen will, muss man es zur Kenntnis nehmen.
       
       taz: Seit dem Frühjahr haben wir eine neue Bundesregierung. Wie wird die
       bewertet? 
       
       Zeh: Das interessiert schon gar keinen mehr, würde ich sagen. Ich will den
       Defätismus nicht größer reden, als er eh schon ist. Aber dieses Wegdriften
       ist schon dramatisch. Dadurch werden die Leute verführbar und manipulierbar
       durch Extremisten.
       
       taz: Mit Wegdriften meinen Sie die Systemferne? 
       
       Zeh: Nennen wir es mal so. Wenn man jahrzehntelange in der Diktatur gelebt
       hat, ist das Misstrauen gegenüber staatlichen Instanzen sowieso noch mal
       größer, und es wird auch an die nachfolgenden Generationen weitergegeben.
       Für mich als Westlerin ist es normal zu sagen: Ich bin zu Hause in dieser
       Staatsform, ich traue den gewählten Vertretern auch dann, wenn sie nicht
       meine Favoriten sind. Sich so stark mit dem Staat zu identifizieren, kann
       aber für jemanden, der aus der DDR kommt, ganz merkwürdig sein. In
       Diktaturen lernen die Menschen: Man wurschtelt unter dem Radar, grenzt sich
       von Politik ab und setzt nicht so große Hoffnungen in sie.
       
       taz: Bei urbanen Schnöseln wird schon darüber gesprochen, in welches Land
       man gehen könnte, wenn die AfD regiert. Das käme für Sie nicht in Frage? 
       
       Zeh: Weggehen wegen der AfD? Ich würde fliehen, wenn man mich politisch so
       verfolgt, dass ich Angst haben muss um mein Leben und meine Familie. Ich
       bin nicht der Heldinnen-Typ. Aber das ist nicht die Situation, vor der wir
       stehen. In unserer Geschichte gab es das ja, nicht nur die Flucht [6][aus
       dem Dritten Reich], sondern auch aus der [7][DDR]. Heute leben hier Syrer,
       die im Schlauchboot über das Mittelmeer fliehen mussten. Und wir sitzen da,
       beim Rotwein, und sagen: „Ach Gott, ich halt’s nicht mehr aus.“ Also, das
       ist ganz schön wohlfeil.
       
       taz: Was halten Sie selbst von der [8][Merz-Regierung]? 
       
       Zeh: Ich bin kein Fan von Friedrich Merz.
       
       taz: Fanden Sie hilfreich, was er über die [9][„Probleme im Stadtbild“]
       gesagt hat? 
       
       Zeh: Nein. Ich will ihm nichts unterstellen, aber häufig genug werden
       solche Debatten ja nicht geführt, um tatsächlich Probleme zu benennen und
       Dinge zu verbessern. Es geht nur darum, eine Form von Alarm zu machen, in
       der Hoffnung, man könnte Leute vom rechten Rand zur CDU zurückholen. Das
       halte ich für absolut kontraproduktiv und das Dümmste, was man machen kann.
       Funktioniert einfach nicht.
       
       taz: Dass die Leute wegdriften, liegt Ihrer Meinung nach vor allem am
       Politikversagen, richtig? 
       
       Zeh: Die ganze Regierungsphase Merkel hat das Land bei der Daseinsvorsorge
       nicht vorangebracht. In der Zeit ist ein riesiger Rückstau entstanden, was
       Reformen angeht. Bildung, bezahlbares Wohnen, Mobilität,
       Gesundheitsversorgung. Ich zeige da auch auf meine Partei, die SPD, weil
       die vor allem für Menschen zuständig ist, die sich keine Privatschulen und
       keine private Krankenkasse leisten können. Abgesehen davon hat der Erfolg
       von Rechtspopulisten natürlich auch was zu tun mit dem Hin- und
       Herschwingen des Pendels zwischen Progression und Reaktion. Schließlich
       gibt es die Entwicklung nicht nur bei uns, sondern in der ganzen westlichen
       Hemisphäre.
       
       taz: Wenn das Pendel nun zurückschwingt, was kann man da tun? 
       
       Zeh: Standhaft bleiben. Kein Geld mit Alarmismus verdienen, das geht jetzt
       auch in Ihre Richtung. Wenn man sagt, die Apokalypse droht, wer hat dann
       noch Zeit für Demokratie und Liberalismus? Dann befördert man den Erfolg
       der Rechtspopulisten. Das gilt für jeden, der wegen einer erfolgreichen
       Schlagzeile so tut, als stünden wir unmittelbar vor dem Zusammenbruch des
       Landes oder vor dem Dritten Weltkrieg.
       
       taz: Wenn der Rechtspopulismus derart an Zuspruch gewinnt, müssen wir dann
       unsere Demokratie nicht schützen? 
       
       Zeh: Ja, gerne, und wie? Mit einem AfD-Verbotsverfahren oder der
       Brandmauer, meinen Sie? Gute Frage. Ich weiß nicht, ob die AfD heute
       [10][ohne Brandmauer] besser oder schlechter dastünde.
       
       taz: Sie sind dagegen? 
       
       Zeh: Ich bin kein Fan davon, ich bin halt auch Juristin. Man sollte nicht
       die eigenen Regeln und Grundsätze über Bord werfen, um einen politischen
       Gegner zu bekämpfen. Ich kann einfach nicht glauben, dass das funktioniert.
       Man begeht quasi Selbstmord aus Angst vor dem Tod. Die Brandmauer hat zum
       Teil auch diesen Effekt.
       
       taz: Sie hält die AfD von der Macht fern. 
       
       Zeh: Scheint mir nicht so, die Prozente der AfD steigen ja immer weiter.
       Abgesehen davon bewegt man sich ja selbst oft in der Grauzone des
       Verfassungsrechts, indem man versucht, die AfD auf diese Weise zu
       bekämpfen. Zum Beispiel, wenn AfD-Mitglieder kategorisch vom Staatsdienst
       ausgeschlossen werden sollen und ähnliches.
       
       taz: Wenn eine Partei gesichert rechtsextremistisch ist, dann muss die
       Demokratie sich schützen. 
       
       Zeh: Das kann man so sagen, und alle Nicht-AfD-Wähler werden zustimmen.
       Aber was soll das denn konkret heißen? Der Versuch, mit der Brandmauer die
       AfD kleinzuhalten, hat in den letzten zehn Jahren nichts gebracht. Im
       Brandenburgischen Landtag gibt es schon jetzt keine Zwei-Drittel-Mehrheit
       mehr ohne die AfD. Um beispielsweise einen Verfassungsrichter zu wählen,
       braucht man aber zwei Drittel des Landtags. Wählen wir dann halt keine
       Verfassungsrichter mehr? 
       
       taz: Sie waren vehement gegen ein [11][AfD-Verbot]. Sind Sie es immer noch? 
       
       Zeh: Ich bin doch nicht prinzipiell gegen ein AfD-Verbot. Ich sag’s noch
       mal: Ich bin Juristin. Wenn ein Parteiverbotsverfahren Aussicht auf Erfolg
       hat, kann und muss man es anstrengen. Wenn nicht, wird es der AfD nutzen.
       Wenn Sie einen halbwegs cleveren AfD-Funktionär fragen, was auf seinem
       Wunschzettel für 2026 steht, dann sagt der wahrscheinlich: Ich wünsche mir
       ein Parteiverbotsverfahren. Allein der Versuch, sie zu verbieten, würde der
       AfD krass nutzen.
       
       taz: Wir haben eine Situation, in der fast alles dem Rechtspopulismus
       nützt.
       
       Zeh: Außer guter Politik und gutem Journalismus vielleicht.
       
       taz: Dafür muss man möglicherweise die systemischen Grundlagen für
       erfolgreiche Politik überarbeiten. 
       
       Zeh: Momentan sehen wir einen Teufelskreis. Je stärker die AfD wird, desto
       zufälliger werden die Koalitionen, desto dysfunktionaler läuft es ab und
       desto leichter kann die AfD sagen: Hahaha, die kriegen es wieder nicht hin.
       Das heißt, die Mitglieder einer noch so schwierigen Koalition müssten ihr
       Profilierungsstreben beiseite lassen und gemeinsam sagen: Bildung,
       Krankenhäuser, Transport, billiges Wohnen, das werden wir jetzt vier Jahre
       lang machen.
       
       taz: Das hätte doch Ihr [12][Parteigenosse Olaf Scholz] tun können. 
       
       Zeh: Hätte er müssen. Das ist, wenn überhaupt, der einzige Hebel, wie man
       den Rechtspopulisten beikommen kann – durch Politik, die wirklich konkrete
       Probleme adressiert. Und dadurch das Misstrauen auflöst.
       
       taz: Wir haben auch noch so kleine Probleme wie die Erderwärmung, die
       Amerikaner, die Russen, die Chinesen. Regieren ist nicht mehr so einfach
       wie zu den goldenen Zeiten der Volksparteien. 
       
       Zeh: Ich glaube nicht, dass es jemals einfach oder irgendwie golden war.
       Die Verklärung der Vergangenheit ist eine weitere Ursache für
       Zukunftsangst, sie verstärkt das Misstrauen gegenüber den demokratischen
       Institutionen. Damit sollte man vorsichtig sein.
       
       taz: Auch in den Städten gibt es Probleme mit Wohnraum oder Schulplätzen,
       und trotzdem wählen die Menschen nicht AfD. Die Probleme auf Rente, Miete,
       Schule und Gesundheit zu reduzieren, ist zu einfach.
       
       Zeh: Die Probleme in den Städten betreffen ebenfalls die Peripherie,
       Stadtrandlagen, wo eher Benachteiligte wohnen. Wenn man den
       gesellschaftlichen Frieden wahren will, muss man verstehen, dass es
       berechtigte Interessen gibt, die in einer Demokratie von den Wählern
       ausgedrückt werden. Wählen und Demokratie ist nicht in erster Linie eine
       moralische Angelegenheit, so gerne wir auch von Werten sprechen. Es ist ein
       System zur Herstellung von Interessenausgleich und damit von
       gesellschaftlichem Zusammenhalt. Wenn man es so weit kommen lässt, dass das
       Land wirklich gespalten ist, wie in den USA, dann kriegt man halt
       irgendwann gar nichts mehr auf die Kette. Keine Verteidigung, keine
       Wirtschaft, keine Klimapolitik, gar nichts.
       
       taz: Sie mischen regelmäßig in der öffentlichen Debatte mit. In dem
       Arte-Portrait sagten Sie: „Ich habe das Gefühl, dass es wichtig ist, dass
       ich das mache.“ Warum?
       
       Zeh: Ich kriege das gespiegelt, und das treibt mich immer wieder an. Ich
       hätte es gemütlicher, wenn ich mich nicht einmischen würde. So schön ist
       das nicht, sich dauernd ankacken zu lassen.
       
       taz: Bekommen Sie viele Shitstorms?
       
       Zeh: Schon manchmal.
       
       taz: Sie haben früh die Corona-Politik kritisiert, Sie haben zusammen mit
       Sahra Wagenknecht Waffenlieferungen an die überfallene Ukraine kritisiert.
       Wo kommt der Antrieb her, gegen die linksliberale Mehrheitsmeinung zu
       sprechen? 
       
       Zeh: Der Antrieb ist simpel: Das Thema muss mir wichtig sein und die
       kritische Position zu wenig vertreten. Meinungspluralismus ist das
       Gesundheitselixier der Demokratie. Daran mitzuwirken, ist aus meiner Sicht
       gerade eine Aufgabe von freiberuflichen Intellektuellen. Wenn medial so ein
       komisches Schweigen herrscht, dann denke ich immer: Hier stimmt was nicht.
       Jetzt muss ich was sagen.
       
       taz: Ist Ihnen immer klar, für welche Rolle Sie für Talkshows gecastet
       werden? 
       
       Zeh: Ich denke schon. Es gab eine Phase, in der ich viele Einladungen
       abgelehnt habe, weil ich als Punchingball kommen sollte. Etwa zur Ukraine,
       wenn da vier Leute sitzen, die der Meinung sind, wir müssen das
       durchkämpfen, wir besiegen Russland militärisch. Und dann braucht man noch
       eine Person, die was dagegen sagt, damit die anderen sich daran abarbeiten
       können. Bei so was mache ich nicht mit. Aber in letzter Zeit werde ich
       wieder für eine Rolle eingeladen, mit der ich mich gut identifizieren kann.
       
       taz: Welche? 
       
       Zeh: Als jemand, der nicht fest in einem Lager verortet ist.
       
       taz: Naja, Sie sagen immer „meine Partei“, wenn Sie von der SPD sprechen.
       Zeh: Weil ich da Mitglied bin. Aber ich bin keine Politikerin, ich muss
       nicht für eine Institution sprechen. Ich kann sagen, was ich will, ganz
       egal, was gerade die Parteilinie ist. Man kann mich ja nicht stoppen.
       
       taz: Mal erwogen, zum BSW zu wechseln? 
       
       Zeh: Nein.
       
       taz: Teilweise spricht Sahra Wagenknecht ähnliche Dinge aus wie Sie.
       
       Zeh: Ich bin Sozialdemokratin. Das ist für mich nicht nur eine politische
       Idee, sondern eine Weltsicht. Und wenn die Realität nicht so ist, muss man
       nicht gleich austreten. Man kann auch versuchen, für etwas einzutreten.
       
       27 Dec 2025
       
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       Ganz Mecklenburg-Vorpommern wählt die AfD … ganz Mecklenburg? Nein! In
       einem Dorf gewinnt die SPD die Bundestagswahl. Eine Spurensuche in Kieve.
       Ausgezeichnet mit dem Reporter:innen-Preis 2025.
       
 (DIR) Roman über Leben auf dem Dorf: Nicht da, aber dageblieben
       
       Wie steht es um die westdeutsche Provinz? Nach den Autoren der
       Baseballschlägerjahre im Osten gibt nun Markus Thielemann Einblick ins
       Heideland.
       
 (DIR) Verharmlosung von Rechtsextremismus: Wann ist ein Nazi ein Nazi?
       
       Die Mehrheit erkennt einen Nazi erst, wenn er mit Hitlerbärtchen
       daherkommt. Rechtsradikale nicht beim Wort zu nehmen, ist derzeit die
       größte Gefahr.