# taz.de -- Ungewollt schwanger: Im Aufwachraum
       
       > Unsere Autorin entscheidet sich für eine Abtreibung. Was ein einfacher
       > Eingriff sein könnte, ist ein politisches und gesellschaftliches
       > Minenfeld.
       
 (IMG) Bild: Positiv! Wie geht die Gesellschaft mit Frauen um, für die das keine positive Nachricht ist?
       
       Auf dem Weg zur Absaugung des Embryos, der in mir heranwächst, höre ich
       „Scenes From an Italian Restaurant“ von Billy Joel. Mit der Leichtigkeit
       des Songs versuche ich gegen das, was in mir vorgeht, anzukämpfen. Es ist
       ein erster sonniger Frühlingstag, lächelnde und über das Wetter erleichtert
       wirkende Gesichter ziehen an meinem Busfenster vorbei. Die Lichtreflexionen
       an den Gebäuden sind so hell, dass sie zusammen mit Billy Joel meine Sinne
       betäuben. Die dunkle Schwere, die ich in mir spüre, ist trotzdem stärker
       als alles andere. Ich fühle mich wie ein wandelnder Widerspruch, wie eine
       Gleichzeitigkeit von Leben und Sterben.
       
       Ich bin in der achten Woche schwanger und werde es schon in ungefähr zwei
       Stunden nicht mehr sein. Die letzten Tage sind wie in einem Nebel
       vergangen. Ich war nicht darauf vorbereitet, schwanger zu sein. Und der
       Druck, der plötzlich auf mir lastete, hat mich an vielem zweifeln lassen:
       an den feministischen Errungenschaften in unserer Gesellschaft, am
       Gesundheitssystem, an meiner eigenen Identität.
       
       Bevor das alles passierte, hielt ich mich für weitgehend gleichberechtigt.
       Priorität in meinem Leben hatten meine Ausbildung und mein Beruf. Nach
       meinem Erststudium und ein paar Jahren Berufstätigkeit hatte ich
       Schwierigkeiten, mich finanziell über Wasser zu halten. Also habe ich mich
       vor Kurzem, mit Dreißig, noch mal für eine berufliche Umorientierung
       entschieden und studiere jetzt im Zweitstudium Medizin.
       
       Das war eine Überwindung, weil man sich als ältere Studentin oft fehl am
       Platz fühlt und rechtfertigen muss. Aber vor allem war es finanziell
       gewagt: Ich habe einen Studienkredit aufgenommen und trotz Nebenjob muss
       ich sehr aufs Geld achten. Familienplanung hatte da bisher keinen Platz.
       Hinzu kommt, dass ich nie in einer langen Beziehung war. Also ließ ich es
       mir offen: Wenn es sich ergeben würde, eine Familie zu gründen, fände ich
       es schön, wenn nicht, dann hat es wohl nicht sein sollen.
       
       Der Embryo wurde von einem Mann gezeugt, mit dem ich nur ein kurzes
       Verhältnis hatte. Er hat nach wenigen Treffen den Kontakt zu mir
       abgebrochen mit der Begründung, mein Verhalten würde ihn an seine
       Exfreundin erinnern und triggern. Es ist also keine Liebesgeschichte. Es
       ist eine, die ich bereue.
       
       Wenige Wochen nach meiner Affäre bleibt meine Periode aus und ich spüre,
       dass etwas anders ist als sonst. Ich ignoriere es, solange es geht. Ich
       wohne gerade für vier Wochen bei meinen Eltern, weil ich für mein Studium
       ein unbezahltes Praktikum in meiner Heimatstadt mache und mir keine eigene
       Unterkunft leisten kann. Ich schiebe meine Abgeschlagenheit auf die neuen
       Eindrücke und die langen Arbeitszeiten. Aber irgendwann kommt Übelkeit
       dazu. Ich kann es nicht länger leugnen.
       
       Als ich den Schwangerschaftstest mache, sitze ich auf dem Fußboden des
       Badezimmers, in dem ich mir als Kind die Zähne geputzt habe. Ich versuche
       mich in Entspannungstechniken, aber der Test lässt mir keine Zeit: Er zeigt
       sofort ein positives Ergebnis an. Sechste bis siebte Schwangerschaftswoche.
       Auf einer Website gebe ich den Zeitpunkt meiner letzten Periode ein und
       neben dem ungefähren Zeitpunkt der Empfängnis wird mir plötzlich, ohne dass
       ich es will, auch ein Geburtstermin angezeigt.
       
       Ich bekomme riesengroße Angst. Angst davor, es jemandem sagen zu müssen.
       Angst davor, verurteilt zu werden, weil ich in keiner festen Beziehung bin.
       Angst davor, eine Entscheidung zu treffen, die ich bereuen könnte. Und
       Angst, weil ich nicht weiß, ob ich dem Mann, der den Embryo gezeugt hat,
       davon erzählen soll. Er hat gesagt, dass er keine Kinder will, weil er
       ungebunden leben möchte. Ich befürchte deshalb, dass er die Vaterschaft
       bestreiten und mir unterstellen wird, dass ich zeitgleich noch mit anderen
       Männern geschlafen hätte.
       
       ## Mit den Konsequenzen allein
       
       Es scheint verrückt. Ich bin in einer Kultur aufgewachsen, die die sexuelle
       Freiheit von Frauen zelebriert: Musikvideos mit sexy Tänzerinnen, Filme, in
       denen eine hübsche Frau verführt. Ich war in Berliner Klubs und auf
       sexpositiven Partys. Aber jetzt wirkt das alles wie die hämische Fratze des
       Patriarchats auf mich. Denn Sex ist eben nicht nur ein spaßiges Spiel, Sex
       ist auch ein Risiko.
       
       Meine Wut richtet sich aber auch gegen mich selbst. Weil ich die
       „Rausziehmethode“ mitgemacht habe, obwohl ich wusste, dass sie nicht sicher
       ist. Wie etwa jede zehnte Frau im gebärfähigen Alter leide ich [1][am
       PCO-Syndrom], einer Hormonstörung, die es erschweren kann, schwanger zu
       werden. Also war ich leichtsinnig genug, zu glauben, dass schon nichts
       passieren würde. Ja: ziemlich dumm. Aber für diese Selbsterkenntnis ist es
       zu spät. Ich war unvorsichtig und muss jetzt die Konsequenzen tragen. Und
       zwar allein.
       
       Denn egal, ob ich mit dem Mann darüber spreche oder nicht: Der Embryo ist
       in meinem Körper. Ich bin es, die zum Arzt gehen muss. Ich bin es, die eine
       Abtreibung organisieren muss – mit allen Folgen. Denn sobald ich mich nach
       dem ersten Schock wieder gesammelt habe, ist mir klar, [2][dass ich
       abtreiben will]. Vielleicht will ich irgendwann ein Kind, aber sicher nicht
       von diesem Mann und nicht in meiner jetzigen Lebenssituation.
       
       Trotzdem fühlt sich ein Teil von mir moralisch verpflichtet, den Mann zu
       informieren. Nicht, weil ich ihn in die Entscheidung miteinbeziehen will,
       ob ich abtreibe oder nicht. Aber ich habe das Gefühl, dass er grundsätzlich
       über die Situation informiert werden sollte, weil er ja beteiligt war. Also
       rufe ich ihn an. Ich ziehe mich dafür in mein ehemaliges Kinderzimmer
       zurück, laufe eine gefühlte Ewigkeit im Raum auf und ab, bis ich mich
       endlich traue.
       
       Mit jedem Tuten wächst meine Anspannung – aber er geht nicht ran. Ich lege
       auf und merke, wie eine Last von mir abfällt. Dann verfalle ich in
       Schockstarre. Stundenlang sitze ich auf dem Bett und fixiere die Wand, in
       meinem Kopf ein einziges Rauschen. Später versucht der Mann, mich
       zurückzurufen, aber ich bewege mich nicht vom Fleck. Heute bin ich froh
       darüber, dass unsere Anrufe ins Leere gelaufen sind. Die Unterhaltung hätte
       nichts geändert.
       
       Mit einer ungewollten Schwangerschaft bewegt man sich auf geächtetem
       Terrain. Erst voriges Jahr bezeichnete [3][Friedrich Merz es als
       skandalös,] dass Olaf Scholz als Bundeskanzler einen Gesetzesvorschlag
       unterstützte, der den Schwangerschaftsabbruch entkriminalisieren wollte.
       Dabei ist die Debatte ein uralter Hut, sie dreht sich seit Jahrzehnten im
       Kreis.
       
       Historisch hatte erst die Kirche Einfluss auf den Fötus, später auch der
       Staat. Das bedeutet, dass immer Männer über den weiblichen Körper verfügt
       haben. Wie unvereinbar feminine Sexualität und Selbstbestimmung von den –
       oft männlichen –Abtreibungsgegnern dargestellt werden, beklagte schon die
       amerikanische Kulturjournalistin Ellen Willis 1979 in ihrem Essay „Abortion
       – Is A Woman a Person?“. Damals argumentierten die Abtreibungsgegner damit,
       Frauen müssten eben auf Sex verzichten, wenn sie selbstbestimmt leben
       wollten.
       
       Das vergleicht Willis treffend mit dem berühmten Zitat der französischen
       Königin Marie-Antoinette, die über ihr hungerleidendes Volk gesagt haben
       soll: „Wenn sie kein Brot haben, dann sollen sie doch Kuchen essen.“
       Männern geht eine Schwangerschaftserfahrung genauso ab wie damals den
       Aristokraten die Armut. Dennoch glauben viele, es besser zu wissen. [4][Die
       falsche Überheblichkeit vieler Abtreibungsfeinde] ist ein zentrales
       Problem: Sie schafft eine moralische Zweiklassengesellschaft zwischen
       Frauen und Männern. Heute, 46 Jahre, eine weitere Feminismuswelle und eine
       Me-too-Bewegung später, sind wir immer noch am gleichen Punkt.
       
       ## Eigene Menschlichkeit verteidigen
       
       Dabei ist das Thema Abtreibung ein Minenfeld, in dem man sich kaum
       aufzuhalten traut. [5][Viele Begriffe sind politisch aufgeladen.] Das fängt
       schon bei der Bezeichnung dessen an, was abgetrieben wird. Laut
       Vertreter*innen der sogenannten Pro-Life-Bewegung, die in den 1970er
       Jahren in den USA entstand, handelt es sich bei dem entstehenden
       Schwangerschaftsgewebe schon um ein „ungeborenes Kind“. Diese Übertreibung
       ist Framing und soll Gefühle wecken.
       
       Ein Teil der gegnerischen Aktivist*innen, die für das Recht auf
       Schwangerschaftsabbrüche kämpfen, spricht dagegen von einem „Zellhaufen“
       statt von einem Embryo, so als wollten sie auf keinen Fall Gefühle
       aufkommen lassen. Der erhitzte Umgang mit solchen Reizwörtern erschwert den
       Blick auf das Wesentliche. Für mich ist es kein Widerspruch, zu
       akzeptieren, dass es ein Embryo war, den ich abgetrieben habe, und
       gleichzeitig für die reproduktiven Selbstbestimmungsrechte von Frauen und
       die Legalisierung von Abtreibung zu sein.
       
       Es genügt ein Blick in die USA, wo [6][teilweise rigorose
       Abtreibungsgesetze gelten] und die Trump-Regierung weiter gegen
       Schwangerschaftsabbrüche vorgeht. Im Februar [7][wurde etwa eine New Yorker
       Ärztin verklagt, weil sie Patientinnen in Texas und Louisiana
       Abtreibungsmedikamente verschrieben und zugeschickt haben soll]. Texas
       verhängte eine Geldstrafe von 100.000 Dollar gegen die Ärztin – und
       Louisiana forderte ihre Auslieferung, die von der New Yorker Gouverneurin
       jedoch blockiert wurde.
       
       2024 landete die Schriftstellerin Jessica Valenti mit ihrem Buch „Abortion“
       einen Bestseller. Es ist eine wütende Kampfansage an die rückschrittliche
       Abtreibungspolitik in den USA. Das Buch handelt von den Geschichten vieler
       betroffener Frauen. Am Anfang schreibt Valenti, dass sie es demütigend
       findet, mit ihren Schilderungen die Menschlichkeit verteidigen zu müssen.
       
       Und um nicht weniger geht es. Denn allein durch Sex mit einem Mann kann
       eine Frau ihre ganze Lebensgrundlage verlieren, während der Mann
       unbescholten weiterlebt – das ist in vielen Ländern Realität. Zudem werden
       Frauen oft moralisch verurteilt, ohne den Kontext mitzudenken. Doch der
       Kontext spielt eine riesige Rolle, erst recht in einer Situation, die auf
       so komplizierte Weise menschliche Grundrechte mit der traditionellen
       Ungleichverteilung von Macht verwebt.
       
       Ich denke an meinen speziellen Kontext: ein Mann, der mir gleich beim
       ersten Treffen gesagt hat, dass ich mich seinem ausgeprägten Sexdrive
       anpassen müsse, wenn ich länger für ihn interessant bleiben wolle. Ein
       Zeugungsakt, der deshalb zwar nicht gegen meinen Willen, aber auch nicht
       mit meiner Lust vonstatten gegangen ist. Klar: Ich hätte das alles nicht
       mitmachen müssen. Ich hätte auch Nein sagen können. Aber Nein sagen zu
       einem Mann entspricht nicht dem, [8][was ich über meine ganze Kindheit und
       Jugend gelernt habe] und immer noch in mir trage.
       
       Besonders prägend war ein Ereignis mit meinem ersten Freund. Ich war 16, er
       20. Eines Morgens in seinem WG-Zimmer weckte er mich mit
       Annäherungsversuchen. Ich war noch im Halbschlaf und reagierte nicht
       richtig, also fluchte er leise und ging ins Bad. Ich hörte, wie er sich
       dort selbst befriedigte. Als er rauskam, war er seltsam distanziert und
       frustriert. Seitdem hat sich mir eingeprägt, dass Sex vor allem heißt:
       verfügbar sein. Denn sonst verärgere ich jemanden. Auch in den nächsten
       Jahren verlangten die Männer oft Sex, wenn ich einfach nur neben jemandem
       einschlafen oder aufwachen wollte.
       
       Wenn ich andeutete, dass ich nicht mehr will, wurde mir oft halbironisch
       entgegnet, dass man wegen möglicher Penisschmerzen nie mittendrin aufhören
       dürfe. Den Kommentar fand ich nie witzig, wohl deshalb, weil er eben doch
       immer ernst gemeint war. Es wurde zu einem Motiv, das sich durch mein Leben
       zog: Manchmal hatte ich Sex, weil ich es wollte. Aber meistens hatte ich
       Sex, weil jemand anderes es wollte. Immerhin: Durch die ungewollte
       Schwangerschaft ist mir bewusst geworden, wie falsch das ist.
       
       Für den Ausnahmezustand, in dem ich mich befinde, gibt es einen
       medizinischen Fachbegriff: „Konfliktgravidität“ oder auch
       „Konfliktschwangerschaft“ genannt. Ich frage mich, welcher Konflikt damit
       gemeint ist. Der zwischen mir und dem Vater oder der zwischen mir und dem
       Embryo? Der zwischen mir und meinem leeren Geldbeutel oder der zwischen mir
       und meiner Zukunft? Letztlich ist die Antwort egal. Mit allen Konflikten
       bin ich erst mal eins: alleine.
       
       In den Tagen nach dem positiven Test traue ich mich nicht, mit
       irgendjemandem darüber zu reden. Weder mit meiner besten Freundin, noch mit
       meinen Eltern. Obwohl ich mit denen sonst fast jede Entscheidung in meinem
       Leben bespreche. Ich schaffe es nicht, weil ich mir wegen der Umstände,
       unter denen die Schwangerschaft zustande gekommen ist, so naiv vorkomme.
       Deshalb denke ich anfangs, es sei das Beste, die Abtreibung heimlich zu
       machen.
       
       Ich versuche angestrengt, mir nichts anmerken zu lassen. Auf der Arbeit
       schleiche ich vor die Tür, um einen Termin für die
       Schwangerschaftskonfliktberatung zu vereinbaren. [9][Die ist gesetzlich
       vorgeschrieben], wenn man einen Abbruch vornehmen lassen will. Während ich
       bei der Beratungsstelle anrufe, beginne ich zu zittern. Es ist das erste
       Mal, dass ich die Worte laut ausspreche: „Ich bin schwanger.“ Als ich
       auflege, sinke ich auf dem Treppenabsatz zusammen. Ich beginne, im Internet
       nach Kliniken und Praxen zu suchen. In meiner mittelgroßen bayerischen
       Heimatstadt scheint aber niemand Schwangerschaftsabbrüche durchzuführen.
       
       Ich fühle mich hilflos. Erst von der Sozialpädagogin, die mit mir das
       Beratungsgespräch macht, erfahre ich, dass die Kliniken der Stadt diese Art
       von Operation nicht anbieten. Sie erzählt mir, dass es nur zwei
       niedergelassene Frauenärztinnen gebe, die jeden Donnerstag wöchentlich
       abwechselnd für die ganze Stadt und den umliegenden Landkreis Abtreibungen
       durchführen würden.
       
       Alleine in der Stadt leben knapp 69.000 Frauen. Erst später erfahre ich,
       dass die [10][Bundesärztekammer eine Liste mit Ärzt*innen führt, die
       Abtreibungen anbieten]. Die Aufnahme in diese Liste [11][ist allerdings
       freiwillig]. Wenn man meine Heimatstadt eingibt, findet sich dort nur
       gähnende Leere.
       
       Die Unterversorgung hat einen Grund: Nach § 218 des Strafgesetzbuchs ist
       der Schwangerschaftsabbruch in Deutschland grundsätzlich rechtswidrig, wird
       aber unter bestimmten Voraussetzungen nicht bestraft. Trotzdem kann es für
       Ärzt*innen rufschädigend sein, Abtreibungen durchzuführen. Sie riskieren
       Anfeindungen bis hin zu Morddrohungen.
       
       Selbsternannte „Lebensschützer“ belagern Praxen, Kliniken und
       Beratungsstellen, um Schwangere daran zu hindern, eine Abtreibung
       vorzunehmen. Immerhin: Seit 2024 gibt es in Deutschland ein Gesetz, das
       diese „[12][Gehsteigbelästigung]“ in einem Radius von hundert Metern zu den
       Einrichtungen verbietet. Zu den Voraussetzungen für die Straffreiheit einer
       Abtreibung gehört neben der Schwangerschaftskonfliktberatung eine
       dreitägige Bedenkzeit.
       
       Das ist entwürdigend: Als wäre eine erwachsene Frau nicht auch ohne beides
       in der Lage, eine vernünftige Entscheidung zu treffen. Insgesamt geht es
       mit dieser widersprüchlichen Gesetzeslage ungewollt Schwangeren hier
       dennoch besser als in vielen anderen Ländern.
       
       ## Kein ärztliches Vorgespräch
       
       Die Sozialpädagogin ist zwar nett und verständnisvoll, aber sie fragt mich
       über Dinge aus, die allein meine Angelegenheit sind, wie mein Sexleben und
       mein Kontostand. Ich erkläre ihr, dass ich wegen meines aufwendigen
       Bildungswegs derzeit kein Kind in mein Leben integrieren kann. Trotzdem
       entwirft sie Zukunftsszenarien für mich als Mutter und zählt auf, welche
       Gelder ich als Alleinerziehende beantragen könnte.
       
       Als ich am nächsten Tag in einer der zwei gynäkologischen Praxen anrufe,
       rät mir eine Mitarbeiterin, mich schnell zu entscheiden, denn die Termine
       für den operativen Schwangerschaftsabbruch gingen weg wie geschnitten Brot.
       Ein Vorgespräch sei nicht möglich. Es gäbe noch die Möglichkeit des
       medikamentösen Abbruchs, aber zu den Methoden könne man mich nicht beraten.
       Also recherchiere ich im Internet. Obwohl ich selbst Medizin studiere, sind
       mir nicht alle Details und Risiken der Methoden klar.
       
       Am Ende entscheide ich mich für die operative Abtreibung, die meist mittels
       Vakuumaspiration gemacht wird. Dabei wird unter lokaler Betäubung oder
       Kurznarkose das Schwangerschaftsgewebe aus der Gebärmutter abgesaugt. In
       manchen Fällen wird es zusätzlich ausgeschabt. Ich mache einen OP-Termin in
       der nächsten Woche aus.
       
       Eine andere Sorge ist die Finanzierung. Die OP kostet 523 Euro, plus 19
       Euro für die Nachsorge. Ich frage bei meiner Krankenkasse nach, in welchen
       Fällen sie die Übernahme bewilligt: Erstens, wenn es sich um eine
       Vergewaltigung handelt oder die Gesundheit der Schwangeren in Gefahr ist.
       Trifft nicht auf mich zu. Zweitens, wenn eine Schwangere die finanziellen
       Mittel nicht aufbringen kann. Okay, das müsste zutreffen. Allerdings muss
       man den Antrag sehr schnell stellen, rückwirkend ist er nicht möglich.
       Fuck. Nur noch drei Werktage bis zum OP-Termin. Mir rennt die Zeit davon.
       
       Meine Angst, dass die Kostenübernahme durch die Krankenkasse aus
       irgendwelchen Gründen nicht klappen könnte, ist so groß, dass ich jetzt
       doch meine Eltern einweihe. Nie in meinem Leben habe ich mich so geschämt,
       wie in dem Moment, als ich ins Arbeitszimmer meines Vaters trete und ihm
       sage, dass ich ungewollt schwanger bin. Mit über Dreißig. Ich habe Glück:
       Meine Eltern reagieren verständnisvoll und bieten mir an, im Notfall die
       Kosten zu übernehmen. Aber wie geht es Frauen, die diese familiäre
       Unterstützung nicht haben? Zwei Tage später habe ich den Termin bei der
       Krankenkasse. Ich bringe meine Kontoauszüge der letzten drei Monate mit.
       Große Erleichterung: Mein Antrag wird genehmigt.
       
       Unterdessen ist es für mich immer schwieriger geworden, zu arbeiten. Ich
       leide unter so starker Übelkeit, dass ich mich mehrfach täglich übergeben
       muss. Sobald ich etwas esse, würgt es mein Körper sofort wieder hoch. Ich
       fühle mich schrecklich und bekomme bald Ekelgefühle vor mir selbst: Es ist,
       als ob in mir ein Alien heranwachsen würde. Als würde mich der Mann, der
       den Kontakt zu mir abgebrochen hat, mit dieser Schwangerschaft endgültig
       demütigen.
       
       Ich fühle mich schuldig, weil ich solche negativen Gedanken habe. Aber vor
       allem schäme ich mich unermesslich. Eine ähnliche Erfahrung hat die Autorin
       Anika Landsteiner gemacht, wie sie in ihrem 2024 erschienenen Buch
       berichtet. In „Sorry not sorry“ beschreibt sie ihre eigene ungewollte
       Schwangerschaft als „das größte Schamgefühl“, das sie je erlebt hat. Sie
       habe sich nicht getraut, dem beteiligten Mann von ihrer Schwangerschaft zu
       erzählen, „weil es sich so anfühlte, als würde ich ihn in etwas reinziehen,
       was meinen Körper betrifft, ihm jedoch die Zukunft verbaut. Ich fühlte mich
       als Überbringerin schlechter Nachrichten.“
       
       Kein Wunder: Schuld- und Schamgefühle von Frauen sind kulturhistorisch in
       unserer Gesellschaft verankert. Von Eva als Urheberin der Erbsünde über
       böse Stiefmütter in Märchen bis zu Hexenverbrennungen: Für explizit
       weibliche Schuldfiguren gibt es viele Beispiele.
       
       Die Scham galt früher sogar als weibliche Tugend, denn die Frau sollte ja
       auf keinen Fall selbst kühn und sexy sein, um als unschuldige Jungfrau
       erobert zu werden. Ich war deshalb schon immer in einer emotionalen
       Zwickmühle. Weil ich christlich erzogen wurde, war mein Idealbild von mir
       als Frau mit Keuschheit verknüpft. Aber dieses Bild kollidierte mit meiner
       Lebensrealität.
       
       So war die Scham mein ständiger Begleiter, etwa wenn ich in meinen
       Zwanzigern nach einem Tinder-Date mit jemandem im Bett landete. Wie
       unnötig, denke ich heute. In Bezug auf meine ungewollte Schwangerschaft ist
       zwar kein Stolz angebracht. Aber dass es mir so schlecht geht, während der
       beteiligte Mann Urlaubsfotos vom Strand in Spanien postet, erscheint mir
       unverhältnismäßig.
       
       Diese Schieflage wird durch die gegenwartsfremde Kirche und Politik
       strukturell aufrechterhalten. Und auch die weibliche Selbstaufopferung, auf
       die auch Anika Landsteiner sich bezieht, hat Tradition. Am schlimmsten ist,
       dass sie nie aufhört: Erst opfert man sich für Männer auf, später für die
       Kinder.
       
       Erst am Tag der OP lerne ich die Ärztin kennen, die meine Abtreibung
       vornehmen wird. Während ich im Wartezimmer sitze, betrachte ich die
       ausgelegten Prospekte. Fast alle haben Mutterschaft zum Thema oder wie man
       den Wunsch, schwanger zu werden, umsetzen kann. Überall wird
       Schwangerschaft als etwas Wunderbares angepriesen, das man anstreben sollte
       und über das man sich zu freuen hat.
       
       ## Ärzt*innen unter Druck
       
       Nicht ein einziger Prospekt bezieht sich auf die Situation, in der ich
       gerade bin. Auch dafür finde ich später einen möglichen rechtlichen Grund:
       Zwar wurde 2022 der § 219a StGB, das Werbeverbot für
       Schwangerschaftsabbrüche, aufgehoben. Allerdings verbietet das
       Heilmittelwerbegesetz eine irreführende oder kommerzialisierende Werbung.
       Es könnte ja eine Frau auf die Idee kommen, abzubrechen, weil die Werbung
       für Abtreibung so ansprechend ist, oder?
       
       Als ich ins Zimmer der Ärztin trete, steht sie neben ihrem Schreibtisch,
       als sei sie auf dem Sprung. „Hallo, sind Sie sich sicher?“, fragt sie
       gestresst. Ich sage: „Ja.“ Wir machen schnell eine Ultraschalluntersuchung
       und schon bin ich wieder draußen.
       
       Meine Ärztin ist wie ihre Kolleg*innen in einer misslichen Lage: Sie
       muss sich nach einem strengen, teils absurden Abrechnungssystem richten,
       das ihr die menschliche Zuwendung erschwert oder unmöglich macht. Darüber
       hinaus verlangt es Ärzt*innen auch in Deutschland viel Durchhaltevermögen
       ab, wenn sie Schwangerschaftsabbrüche durchführen wollen.
       
       Das zeigt auch der Fall von [13][Joachim Volz]. Der Gynäkologieprofessor
       hat im Sommer gegen das neue Abtreibungsverbot seines Arbeitgebers, des
       Christlichen Klinikums Lippstadt, geklagt. Die Klage wurde abgewiesen, doch
       Volz hat gegen das Urteil Berufung eingelegt. Zudem hat er eine Petition
       gestartet, die inzwischen mehr als 290.000 Menschen unterschrieben haben.
       
       Gynäkolog*innen wie Alicia Baier kritisieren die rudimentäre
       Ausbildung im Medizinstudium. Mit ihrem gerade erschienenen Buch „Das
       Patriarchat im Uterus“ und dem Verein Doctors for Choice setzt sie sich
       zusammen mit anderen Abtreibungsbefürworter*innen für eine bessere
       Versorgungslage ein. Zu diesem Zweck bietet der Verein unter anderem
       [14][Papaya-Workshops] an, in denen Studierende die grundlegenden
       Kenntnisse eines chirurgischen Abbruchs an einer Papaya lernen.
       
       In einem ambulanten OP-Zentrum im sechsten Stock eines Hochhauses warte ich
       auf meine Abtreibung. Die Menschen neben mir scheinen alle aus anderen
       Gründen hier zu sein. Die meisten haben sichtbare Verletzungen wie einen
       gebrochenen Arm oder eine Wunde am Kopf, und viele sind Männer. Auf dem
       Schild an der Wand sind auch die gynäkologischen Leistungen aufgereiht.
       Aber die, die ich gleich in Anspruch nehme, steht nicht drauf. Ich komme
       mir kriminell vor. Wenig später sitze ich im OP-Hemdchen in der Schleuse
       zum Operationssaal und starre auf die Uhr an der Wand, während der
       Sekundenzeiger sich um die eigene Achse schleppt. Dann werde ich abgeholt.
       
       Als ich nach der Abtreibung wieder zu mir komme, liege ich in einer
       Blutlache. Man hat mir eine schlabbrige Onesize-Netzunterhose mit einer
       dicken Einlage übergezogen. Die OP-Schwester bringt mir Cola und Kekse wie
       einem Kind. Hinter dem Fenster des Aufwachraums erstreckt sich endlos
       weißer Himmel. Ich schaue hinaus und endlich kann ich wieder weinen. Es
       sind Tränen der Trauer und Wut, aber vor allem sind es Tränen der
       Erleichterung.
       
       Wenn man den Argumenten der Abtreibungsgegner*innen glaubt, müsste es
       mir nach der Abtreibung schlecht gegangen sein. Dabei ist das sogenannte
       Post-Abortion-Syndrom ein Märchen, das auf die „Lebensschützer“ zurückgeht.
       Wissenschaftliche Erkenntnisse zeigen etwas anderes: Die Mehrzahl der
       Frauen ist zufrieden mit ihrem Abbruch und nur bei wenigen Frauen, die
       meist schon psychische Vorerkrankungen haben, kommt es zu Folgen wie
       Depressionen oder Schlafstörungen.
       
       Einige Monate später steht der geschätzte Geburtstermin an. Wenn ich auf
       der Straße eine hochschwangere Frau sehe, denke ich: So schwanger wäre ich
       jetzt auch, wenn ich nicht hätte abtreiben können. Und jedes Mal bin ich
       unendlich erleichtert und dankbar, dass ich es konnte. Die Abtreibung war
       für mich alternativlos.
       
       Im Klartext: Es war nicht die Abtreibung, die mich seelisch belastete, es
       waren die Umstände. Meine Sozialisierung, die es mir nicht leicht macht,
       Männern Grenzen zu setzen. Eine Gesellschaft, die verantwortungsloses
       Handeln bei Männern unter den Teppich kehrt, während sie Frauen für
       dasselbe Handeln bestraft. Gesetze, die Frauen als geistig unreife oder
       bösartige Wesen darstellen, denen keine vernünftige Entscheidung zuzutrauen
       ist. Ein Gesundheitssystem, das Frauen in einer Notsituation zwar auf
       umständliche Weise Hilfe leistet, aber die Rahmenbedingungen für einen
       würdevollen Umgang mit einem Thema, das uns alle betrifft, verwehrt. Und
       aktuell eine Regierung, die es für „skandalös“ hält, an diesen Umständen
       etwas zu ändern.
       
       Ich hatte das Glück, meine „Konfliktgravidität“ gut zu überstehen. Aber ich
       mache mir Sorgen um alle Frauen, die in Zukunft eine haben werden.
       
       *Mina Billner ist ein Pseudonym, um die Autorin zu schützen. Ihr wirklicher
       Name ist der Redaktion bekannt.
       
       8 Dec 2025
       
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 (DIR) Mina Billner
       
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