# taz.de -- Entscheidungspraxis im Familienrecht: Mutter-Kind-Bindung wird zerstört
       
       > Obwohl das „PAS-Sydrom“ lange als widerlegt gilt, hält sich die Idee,
       > dass Mütter ihr Kind manipulieren. Das richte Schaden an, warnen
       > ForscherInnen.
       
 (IMG) Bild: Objekte „professioneller Intervention“, wenn der Kontakt zum Vater nicht klappt: Mutter und Kind
       
       Hamburg taz | Annette W. ist verzweifelt. Gerade erfuhr sie, dass sie ihre
       jüngere Tochter für zwei Jahre nicht sehen darf. Ihr selber [1][drohen 30
       Tage Haft], weil ihre ältere Tochter bei ihr lebt, obwohl sie das
       Sorgerecht verlor. Geht es nach dem Oberlandesgericht (OLG) Celle, soll die
       Elfjährige wie die jüngere Tochter zum Vater oder in ein Heim.
       
       Was treibt Richter zu solchen Entscheidungen? Die Soziologin Christina
       Mundlos sagt, dies sei kein Einzelfall. Ihr liegen 16 ähnliche Fälle des
       OLG Celle vor. Oftmals sei Gewalt ignoriert worden. Mundlos vermutet die
       Gesinnung der Richter könnte Ursache sein und fordert [2][in einer
       Petition] vom Niedersächsichen Landtag eine Untersuchungskommission.
       
       Doch dass Mütter von ihren [3][Kindern ohne wichtigen Grund getrennt]
       werden, passiert laut einer Studie des Soziologen Wolfgang Hammer aus dem
       April 2022 bundesweit. An ihn [4][wandten sich seit 2013] hunderte
       Alleinerziehende, die von ihren Kindern getrennt wurden.
       
       Bei 90 Prozent wurde deren „mangelnde Erziehungsfähigkeit“ mit einer „zu
       engen Mutter-Kind-Bindung“ begründet. Das sei aber kein Grund für eine
       Kindeswegnahme, sagt Hammer, der früher selber leitend in der Jugendhilfe
       tätig war.
       
       ## Eine neue Doktrin der Jugendämter
       
       [5][Im Fall von Annette W.] war das Problem, dass die Eltern ein
       „Wechselmodell“ versuchen sollten. Nachdem die Übergabe der Töchter nicht
       klappte, eskalierte der Fall. Der Vater erhielt das Sorgerecht. Die Kinder
       wurden sogar mit der Polizei geholt.
       
       Dass der Staat in solchen Fällen interveniert, dahinter steckt laut Hammer
       das Narrativ, dass nur eine 50:50-Aufteilung der Betreuungszeit Kinder
       gesund aufwachsen lasse. Die gute und wichtige Gleichberechtigung von Mann
       und Frau werde im Familienrecht „zu Lasten der Kinder missbräuchlich
       angewandt“, so Hammer. Und wollten die Kinder nicht wechseln, bekäme die
       Mutter die Schuld.
       
       Dahinter steckt die PAS-Theorie. 1985 beschrieb der amerikanische
       Kinderpsychiater Richard A. Gardner unter dem Begriff „Parental Alienation
       Syndrom“ das Verhalten von Kindern, die ihre Väter nicht mehr sehen
       wollten. Er führte es auf manipulierende Mütter zurück. Doch obwohl die
       Theorie als widerlegt gilt und „PAS“ keine offizielle Diagnose ist, hat sie
       sich nach Hammers Analyse zu einer „Doktrin“ in Aus- und Fortbildung bei
       Jugendamt und Gericht entwickelt.
       
       Hammer erntet Gegenwind: Der „Väteraufbruch für Kinder“ wirft ihm vor, er
       mache Stimmung gegen Väter und verweist darauf, dass bei Trennungen immer
       noch meistens die Mutter das Sorgerecht erhält. Der Verein widmete der
       Hammer-Studie eine eigne „Analyse“. Dort führt er aus, dass es sich bei
       „Parental Alienation“ zwar nicht um ein Syndrom, also eine Krankheit,
       handle, wohl aber um „elterliche Verhaltensweisen“, die „schädigende
       Auswirkungen auf Kinder“ hätten.
       
       ## „Väteraufbruch“ reagiert mit eigener Analyse
       
       Statt „PAS“ nennt er dies nun „Eltern-Kind-Entfremdung“. Charakterisch sei,
       dass sich die Ablehnung eines Elternteils nicht auf „objektivierbare
       Umstände“ zurückführen ließe, sondern letztlich nur „zielstrebige
       Manipulation“ oder „unbewusste Beeinflussung“.
       
       Bestätigung findet der Väteraufbruch in einem im Juli 2022 erschienenen
       Artikel in der [6][„Zeitschrift für Kindschaftsrecht und Jugendhilfe“]
       (ZJK). Darin äußern sich der Sozialwissenschaftler Menno Baumann und vier
       weitere Autoren „Zur Notwendigkeit professioneller Intervention“, bei eben
       jener „Eltern-Kind-Entfremdung“.
       
       Der Artikel nennt es eine „spezifische Form von psychischer
       Kindesmisshandlung“, wenn durch die Hauptbetreuungsperson die Entfremdung
       zum anderen Elternteil durch „Suggestion, Instrumentalisierung und
       Aufrechterhaltung der Konfliktspannung“ vorangetrieben werde. Der Staat
       wäre verpflichtet, zu intervenieren. Jugendamt, Familienberatung und
       -gericht müssten hier eng kooperieren und könnten sich nicht auf
       Freiwilligkeit beschränken. Und schließlich komme bei „schwerer
       Entfremdung“ auch ein „Obhuts- wie auch Sorgerechtswechsel“ zum anderen
       Elternteil in Betracht.
       
       Die Autoren schreiben, dass entfremdete Kinder ihr Leben lang eine
       „Hochrisikogruppe“ für psychische Erkrankungen bildeten. Bloßes Abwarten,
       dass sich eine gestörte Beziehung von allein wieder verbessere, sei meist
       keine Option.
       
       ## Gesundheit durch Heimaufenthalt verschlechtert
       
       Ist es also so gravierend, wenn Kinder ihren Vater nicht sehen möchten,
       dass es rechtfertigt, [7][Kinder von ihren Müttern zu trennen]? Die Autoren
       erwähnen zumindest, dass so eine Trennung von der Mutter die Gefahr einer
       „sekundären Kindeswohlgefährdung“ in sich berge.
       
       Die Celler OLG-Richter bremst das nicht. Sie stellen sich in ihrem jüngsten
       Beschluss vor, dass Annette W.’s Tochter in eine stationäre Einrichtung
       kommt, wo sie von ihrer Mutter-Beeinflussung kuriert wird, sollte sie nicht
       zum Vater wollen.
       
       Wolfgang Hammer kennt davon betroffene Kinder. Er hatte bereits 2019
       [8][für eine erste Fallstudie] Akten von 42 Kindern analysiert, die wegen
       enger Mutter-Bindung ins Heim kamen. Bei den meisten hatten sich Gesundheit
       und Schulleistungen verschlechtert, allein 17 entwickelten eine Adipositas,
       andere nahmen Drogen oder wurden aggressiv. Für Hammer war unverständlich,
       warum diese Kinder im Heim waren, da weder Gewalt noch Vernachlässigung
       vorlag.
       
       Doch das Konzept, sogenannte PAS-Kinder zunächst in eine Einrichtung zu
       geben, hatten [9][zwei deutsche Psychologen schon im Jahr 2002] unter dem
       Titel „Intervention beim Kind: ‚Modell Norderney‘“ entwickelt. Dabei ginge
       es darum, den Betreuenden „vorübergehend aus der kindlichen Lebenswelt
       auszugrenzen“.
       
       ## Die Mutter-Kind-Bindung zerstört
       
       Der Hamburger Anwalt Peter Hoffmann fand Hinweise darauf, dass es das
       Konzept, ein Kind, das den Vater ablehnt, der Mutter zu entziehen und an
       einem „neutralen“ Ort unterzubringen, schon in der Zeit des
       Nationalsozialismus gab. So wurde es 1939 beschrieben in der „Zeitschrift
       für angewandte Psychologie und Charakterkunde“ von der
       Psychologie-Professorin [10][Hildegard Hetzer]. Ein Mädchen wurde dort von
       der Mutter getrennt und nach zwei Jahren in einer Pflegestelle dem Vater
       zugeführt.
       
       „Der Text beinhaltet einen aggressiven, sadistischen Unterton“, sagt
       Hoffmann. „Als 'Erfolg’ wird verbucht, wenn das Kind aufgibt.“ Die
       Mutter-Kind-Bindung werde so zerstört. „In einigen heutigen Fällen lesen
       sich die Abläufe, als wäre das Muster von 1939 übernommen worden.“
       
       Hoffmann ist Fachanwalt für Familienrecht, ist spezialisiert auf
       Kindschaftsrecht und hat seit einigen Jahren deutlich zunehmend Fälle, in
       denen Müttern angelastet wird, dass [11][das Kind den Kontakt zum Vater
       verweigert]. „Die Kinder leben nun mal meistens bei den Müttern. Ihnen wird
       dann unterstellt, sie wären ‚nicht bindungstolerant‘ und sie verlieren das
       Sorgerecht“, berichtet er.
       
       Dabei seien oft nicht Loyalitätskonflikte das Problem, sondern zum Teil
       Gewalt und Missbrauch. Er verweist auf einen Artikel „[12][Mütter als
       Anzeigenerstatterinnen bei Verdacht auf Kindesmissbrauch]“, dem zufolge in
       den USA bei häuslicher Gewalt Mütter in 63 Prozent das Sorgerecht an den
       Vater verloren, wenn ihnen vorgeworfen wurde, das Kind vom Vater entfremdet
       zu haben.
       
       ## Entfremdung als Begriff nicht passend
       
       Der Streit um PAS ist über 20 Jahre alt. Dass die Theorie jetzt unter dem
       Titel „Eltern-Kind-Entfremdung“ weiter wirkt, stößt auf Widerspruch bei dem
       bedeutenden Teil der Fachwelt. „[13][Verdorbener Wein in neuen
       Schläuchen]“, nennen die fünf Psychologen Janin Zimmermann, Jörg Fichtner,
       Sabine Walper, Ulrike Lux und Heinz Kindler ihre Replik auf Baumann & Co in
       der aktuellen Ausgabe der ZKJ.
       
       Schon der Begriff der „Entfremdung“ sei aus den Sozialwissenschaften
       weitgehend verschwunden. Aus dem Naturrecht stammende gesetzliche
       Vermutungen, etwa dass es dem Kindeswohl dient, zu beiden Eltern Kontakt zu
       haben, könnten von den Sozialwissenschaften „nicht einfach übernommen
       werden“. Passender wäre von „Kontaktproblemen“ zu reden.
       
       Tatsächlich beschäftige sich die Sozialwissenschaft schon lange damit, „ob
       und wie“ sich die Abwesenheit eines Elternteils auswirkt. Diese Einbettung
       fehle in dem anderen Text. Dadurch entstünde ein verzerrter, manchmal auch
       „falscher Eindruck des Diskussionsstands“.
       
       So versäumten es die Autoren zum Beispiel, auf die Gründe eines
       Kontaktabbruchs einzugehen. Auch sei wechselseitige Ablehnung und
       einvernehmlicher Kontaktabbruch zwischen Elternteil und Kind noch kein
       Grund für Gerichte oder Beratungsstellen zu handeln, solange nicht Weiteres
       hinzu käme, wie etwa „erhebliches Leid auf zumindest einer Seite“.
       
       ## Auch Kinder haben Gründe für Kontakt-Abbruch
       
       Gründe für einen Kontaktabbruch könne es viele geben, etwa einen
       „Ermüdungsbruch“ in der Beziehung zwischen Kind und getrennt lebendem
       Elternteil oder Umgangsweigerung aus „kindlichem Protest“ gegen dessen
       Verhalten. Aus den Befunden ergebe sich, dass es nicht sinnvoll sei, nur
       einen Faktor – wie die Beeinflussung durch ein Elternteil – in den
       Mittelpunkt zu rücken, nötig sei ein „multifaktorieller Ansatz“.
       
       Ein Problem der Veröffentlichungen von PAS-Vertretern seien „Überdrehungen
       der Befundlagen“ zu den negativen Folgen für die Kinder. Etwa zu behaupten,
       sie seien ihr Leben lang „Hochrisikogruppe“ für psychische Erkrankungen.
       Das sei bei psychisch gesunden Kindern „fachlich nicht haltbar“.
       Tatsächlich zeigten Meta-Analysen beim Vergleich von Trennungskindern nur
       „schwache negative statistische Effekte“ bei fehlenden oder seltenen
       Kontakt.
       
       Die Autorengruppe um Walper und Kindler hinterfragt ferner die
       „Umplatzierung eines Kindes“ als Intervention, so wie es das OLG-Celle
       plante. Zu sagen, dass dies eine wirksame Methode sei, wäre angesichts der
       Studienlage sehr irreführend. Insgesamt dürfte die Zahl der Fälle, wo die
       Trennung von der Hauptbezugsperson im Zusammenhang mit Entfremdung mehr
       Nutzen als Schaden bringt, „sehr niedrig sein“, sagt Co-Autor Jörg
       Fichtner. Für eine Kindeswohlgefährdung gälten „strengere Kriterien“ als
       eine vermutete oder erkennbare Entfremdung.
       
       Nötig wäre mehr Forschung. Schon jetzt ließen sich allerdings viele
       Unsicherheiten durch verbesserte diagnostische Instrumente reduzieren. In
       jedem Fall aber schere das PAS-Konzept sehr unterschiedliche
       Konstellationen „über einen Kamm“ und lege vielfach „fehlgeleitete
       juristische Entscheidungen“ nahe. So müsse gefragt werden, in welchen
       Fällen Jugendämter, Beratungsstellen und Familiengerichte verpflichtet
       sind, „bindungserhaltend“ einzugreifen, und in welchen Fällen der
       Kontaktverlust das „geringere Übel“ sei. Das Konzept der
       „Eltern-Kind-Entfremdung“ stelle die Frage gar nicht erst, und sei deshalb
       „endgültig ad acta zu legen“.
       
       Für Wolfgang Hammer ist nun klar, „dass die Politik an dem Thema nicht mehr
       vorbei kann“. Anette W. hilft das noch nicht. Wie berichtet, soll sie für
       30 Tage in Haft, als Sanktion, weil sie nicht aktiv dafür sorgte, dass ihre
       Tochter in den Haushalt des Vaters zurückkehrt. Diese Sanktion ist
       [14][erst seit einer Reform von 2009] möglich, vor der Frauenverbände
       seinerzeit warnten, da es unsinnig sei, die Hauptbezugsperson des Kindes
       einzusperren.
       
       7 Mar 2023
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Sorgerechtsstreit-in-Hannover/!5911008
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 (DIR) [3] /Studie-ueber-Trennungspolitik/!5843117
 (DIR) [4] /Ex-Abteilungsleiter-fuer-Jugendhilfe-ueber-Heimkinder/!5465133
 (DIR) [5] /Recht-auf-Bildung-in-Niedersachsen/!5885729
 (DIR) [6] https://www.bke.de/sites/default/files/migrated/zeitschriften/zkj-2022/covinhedit_zkj_07_2022_e-pdf.pdf
 (DIR) [7] /Folgen-der-Kinderschutzpolitik/!5492749
 (DIR) [8] /Fragwuerdige-Inobhutnahmen/!5636682
 (DIR) [9] http://www.grosseltern-initiative.de/Studien/PAS-TH%20Bielefeld.pdf
 (DIR) [10] http://www.grosseltern-initiative.de/Studien/PAS-TH%20Bielefeld.pdf
 (DIR) [11] /Familienrechtsexperte-ueber-Kindeswohl/!5847958
 (DIR) [12] https://www.bke.de/sites/default/files/medien/zeitschriften/inhaltsverz-editorial_zkj_09_2022_e-pdf.pdf
 (DIR) [13] https://www.bke.de/sites/default/files/medien/zeitschriften/covereditorialinhaltsver_zkj2-23.pdf
 (DIR) [14] /Ordnungshaft-fuer-Mutter/!5911009
       
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