# taz.de -- Online-Projekt zur jüdischen Geschichte: Wo das Reformjudentum seine Wurzeln hat
       
       > Über die weltweit erste jüdische Reformsynagoge, eröffnet 1810 in Seesen,
       > informiert ein neues Projekt des Portals „Jüdisches Niedersachsen
       > online“.
       
 (IMG) Bild: Sichtbares Zeichen: Die Seesener Reformsynagoge im Hof der Jacobson-Schule, um 1899
       
       Peripherie ist gut für Reformen. Für Ideen, die man unauffällig, jenseits
       des Rampenlichts ausprobieren will. Da ist zum Beispiel Seesen, die kleine
       niedersächsische Gemeinde, die weltweit wahrscheinlich alle Reformjuden
       kennen, aber hierzulande fast niemand. Denn Seesen war im 19. Jahrhundert
       Hotspot des [1][Reformjudentums]. Das konnte es auch deshalb werden, weil
       es dort keine jüdische Gemeinde gab, die protestiert hätte.
       
       Initiator der Reformen war der Halberstädter Bankier und Kaufmann Israel
       Jacobson. Früh begeisterte er sich für die aufklärerischen Ideen Lessings
       und [2][Moses Mendelssohns]. Als Landesrabbiner im Herzogtum Braunschweig
       sah er später die Armut und die fehlenden Bildungschancen der jüdischen
       Kinder. Also eröffnete er 1801, unterstützt vom örtlichen Vertreter des
       Herzogs, in Seesen eine Schule für zunächst zwölf jüdische Jungen. Für
       Mädchen war der Schulbesuch damals auch in der christlichen
       Mehrheitsgesellschaft nicht vorgesehen.
       
       Um den jüdischen Kindern also Berufs- und Integrationschancen zu bieten,
       konzipierte Jacobson eine Religions- und Industrieschule, die auch
       handwerkliche Fächer lehrte. Die Hälfte der Lehrer war jüdisch, die Hälfte
       christlich; auch das ein Novum. Und schon 1802 wurde auch der erste
       christliche Schüler aufgenommen. „Das war klar im Sinne der auklärerischen
       Ideen Jacobsons“, sagt Frassl.
       
       Erforscht hat das Joachim Frassl, langjähriger Kunsterzieher am heutigen
       Seesener Jacobson-Gymnasium. Die Ergebnisse seiner Recherchen sind seit
       einigen Tagen [3][auf der Homepage „Jüdisches Niedersachsen online“ zu
       sehen]. Frassls Forschungen bilden dort den Auftakt des Projekts „Jüdische
       Geschichte im ländlichen Raum“. Betrieben wird die Internetseite vom 2016
       gegründeten Israel-Jacobson-Netzwerk für jüdische Kultur und Geschichte.
       
       ## Synagoge als Provokation
       
       Angefangen hat die Recherche ganz unspektakulär: 2001 suchte Frassl Bilder
       für eine Jubiläumsfestschrift der Schule. Aber er fand nur ein, zwei Fotos
       der weltweit ersten Reformsynagoge, die Jacobson 1810 in deren Innenhof
       eröffnetet hatte. Also recherchierte Frassl, ließ von Schülern ein Modell
       und später eine 3-D-Rekonstruktion der Synagoge fertigen. Baulich war sie
       an Abbildungen des antiken [4][Salomonischen Tempels] in Jerusalem
       orientiert.
       
       Zufällig ähnelt auch die benachbarte evangelische Kirche dem Tempel,
       weshalb viele glaubten, die Synagoge sei ihre Kopie. „Aber das stimmt
       nicht“, sagt Frassl. „Jacobson selbst hat sich bei der Eröffnung
       ausdrücklich auf den Tempel Salomos bezogen.“ Allerdings durfte sie nicht
       in Stein gebaut werden – dieses „wertvolle“ Material war damals
       christlichen Kirchen vorbehalten. „Also schuf man einen Fachwerkbau, der,
       weiß getüncht, die Qualität eines Tempels bekam“, sagt Frassl.
       
       Abgesehen davon war die bloße Existenz, die Sichtbarkeit der Synagoge eine
       Provokation. „Bis dato waren Synagogen hinter Fassaden verborgen“, sagt
       Frassl. „Hier zeigte sich jetzt ein emanzipiertes Judentum“. Auch
       methodisch agierten Schule und Synagoge modern: So unterrichtete der
       christliche Musiklehrer Chorgesang – „ein gutes Mittel auch zur
       sprachlichen Integration der jüdischen Kinder, die zu Hause Jiddisch und
       Platt sprachen und nun singend perfektes Hochdeutsch lernten“, sagt Frassl.
       „Das geht aus Berichten damaliger Besucher hervor.“
       
       Auch die Gottesdienste ließ Jacobson von Gesang und [5][Orgelmusik]
       begleiten: Letztere galt als christlich und war bis dato in der Synagoge
       tabu. Und damit die Kinder alles verstanden, predigte der Rabbi nun deutsch
       statt hebräisch. Der Gottesdienst wurde kindgerecht verkürzt, das Gitter
       zur Frauenempore geöffnet.
       
       1828 starb Jacobson. Seine Söhne übernahmen, die Schule wuchs, hatte um
       1900 rund 300 Schüler aus aller Welt. Mit der Verstaatlichung 1922 wurden
       dann auch Mädchen zugelassen.
       
       ## „Undeutsche“ Synagoge bekämpft
       
       1933 wurde ein NSDAP-Mann Direktor und kämpfte sofort vehement gegen die
       noch bis 1935 genutzte „undeutsche“ Synagoge auf dem Schulgelände. Und
       obwohl deren Abriss im Herbst 1938 schon beschlossen war, „musste die
       Synagoge in der [6][Reichspogromnacht] am 9. November 1938 brennen, quasi
       als Fanal“, sagt Frassl. SA-Leute erschossen den Synagogenaufseher in
       derselben Nacht. Seit 2012 erinnert eine „Stolperschwelle“ an die bislang
       260 bekannten [7][Shoah-Opfer.] Weitere einzelne „Stolpersteine“ könnten
       folgen. Bodenmarkierungen auf dem Jacobson-Platz zeigen den einstigen
       Standort der Synagoge.
       
       Deren Reformideen verbreiteten sich schnell: Schon 1804 eröffnete die
       moderne Samson-Schule in Wolfenbüttel, 1806 folgte das Philantopin in
       Frankfurt/M. 1817 gründete sich dann der [8][Israelitische Tempelverband]
       in Hamburg, es folgten Reformsynagogen in Berlin, Israel, den USA.
       
       4 Sep 2025
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
 (DIR) Petra Schellen
       
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       Poolstraße.