# taz.de -- Ökonomin zur Lage in Deutschland: „Ohne Wachstum geht's schneller Richtung Autoritarismus“
       
       > Dass Deutschlands Wirtschaft schwächelt, bedroht die Demokratie, sagt die
       > Ökonomin Nicola Fuchs-Schündeln – und macht Vorschläge.
       
 (IMG) Bild: „Uns fehlt eine Zukunftsvision“, sagt Nicola Fuchs-Schündeln
       
       taz: Frau Fuchs-Schündeln, Deutschland ist seit drei Jahren in der
       Rezession, der Internationale Währungsfonds rechnet für 2026 mit weniger
       als einem Prozent Wirtschaftswachstum trotz massiver staatlicher
       Investitionen in Rüstung und Infrastruktur. Muss sich Deutschland [1][auf
       dauerhaftes Nullwachstum einstellen]?
       
       Nicola Fuchs-Schündeln: Das können wir nicht.
       
       taz: Vielleicht müssen wir? 
       
       Fuchs-Schündeln: Wir sollten uns lieber fragen: Wie bekommen wir wieder
       mehr Wachstum? Denn bleibt das aus, ist der gesellschaftliche Frieden in
       Gefahr. Wir wissen aus der Forschung: Demokratie ist gut für
       Wirtschaftswachstum, aber Wirtschaftswachstum ist auch gut für die
       Demokratie. Wenn wir langfristig kein Wachstum hätten, bekämen wir ein
       ernsthaftes Problem.
       
       taz: Demokratie geht in der Bundesrepublik nur mit Wirtschaftswachstum? 
       
       Fuchs-Schündeln: Ich glaube, langfristig ist das so. Die Zufriedenheit mit
       den öffentlichen Gütern und mit dem Handeln des Staates ist wichtig für die
       Unterstützung der Demokratie. Das ist das Problem: Wir haben in den letzten
       Jahrzehnten in Deutschland die öffentlichen Güter vernachlässigt.
       [2][Investitionen in Straßen, Schiene, Schulen fehlten]. Auch deshalb wird
       der Staat als handlungsunfähig wahrgenommen.
       
       taz: Aber stimmt dieser Zusammenhang zwischen Autoritarismus und
       Wirtschaftswachstum? China und die USA haben Wirtschaftswachstum. 
       
       Fuchs-Schündeln: Wir erleben im Moment weltweit eine populistische,
       autoritäre Welle, und der Mangel an Wachstum ist nicht der einzige Grund.
       Aber wenig Wachstum bedeutet härtere Verteilungskämpfe. Die
       Antimigrationsrhetorik gewinnt an Boden, wenn öffentliche Güter knapp sind
       und das Gefühl wächst, dass „die Migranten uns das Geld wegnehmen“.
       Wirtschaftswachstum dämpft solche Stimmungen. Ich bin felsenfest überzeugt,
       dass es schneller in Richtung Autoritarismus geht, wenn Wirtschaftswachstum
       ausbleibt.
       
       taz: Friedrich Merz ist überzeugt, dass die Viertagewoche und
       Work-Life-Balance Wirtschaftswachstum und Wohlstand in Deutschland
       bedrohen. Hat er recht? 
       
       Fuchs-Schündeln: Je weniger gearbeitet wird, desto weniger produzieren wir.
       Insofern stimmt das. Für Wohlstand ist aber das Produktivitätswachstum viel
       entscheidender – also wie viel wir in einer Stunde herstellen. Das ist zu
       niedrig.
       
       taz: Warum? 
       
       Fuchs-Schündeln: Wegen Deutschlands Rückstand bei der Digitalisierung. Der
       Kapitalstock von Informations- und Kommunikationstechnologien hat sich bei
       uns in den letzten drei Jahrzehnten verdreifacht, in den USA aber
       verzehnfacht. Das ist einer der Hauptgründe, warum das
       Produktivitätswachstum in Europa so viel niedriger ist als in den USA. Ich
       fürchte, das wird mit der künstlichen Intelligenz so weitergehen.
       
       taz: Was empfehlen Sie also? 
       
       Fuchs-Schündeln: Uns fehlt eine Zukunftsvision: Was kann uns in zwei
       Jahrzehnten tragen? Das wird nicht die Automobilindustrie sein. Wir
       brauchen mehr Risikofreude bei den Unternehmen, Arbeitnehmern und in der
       Regierung. Deutschland muss deregulieren und die überbordende Bürokratie
       herunterfahren. Die Gesetze und Maßnahmen haben für sich meist gute Ziele,
       das macht Deregulierung so schwierig. Aber die Regelungsdichte insgesamt
       hat enorme Kosten.
       
       taz: Die deutsche Wirtschaft leidet auch an Arbeitskräftemangel. 
       
       Fuchs-Schündeln: Wenn Friedrich Merz den Mangel an Arbeitskräften
       kurzfristig beheben will, sollte er sich [3][auf die Frauen konzentrieren].
       
       taz: Weil Frauen weniger arbeiten als Männer? 
       
       Fuchs-Schündeln: Die Erwerbstätigenquote von Frauen ist in Deutschland
       hoch, da sind wir nicht schlechter als andere europäische Länder. Aber die
       Arbeitsstunden sind niedrig. Zwei entscheidende Faktoren für die
       Frauenerwerbstätigkeit sind Mutterschaft und Normen. Es gibt immer noch die
       sogenannte Motherhood-Penalty. Das heißt: Frauen verdienen nach der
       Mutterschaft deutlich weniger als vorher. Nicht nur in den ersten Jahren,
       sondern langfristig. In Deutschland verdienen Mütter zehn Jahre nach der
       Geburt des ersten Kindes im Durchschnitt 60 Prozent weniger als im Jahr vor
       dieser Geburt.
       
       taz: Weil sie Teilzeit arbeiten? 
       
       Fuchs-Schündeln: Das ist der Hauptgrund. Diese Motherhood-Penalty ist in
       Deutschland und Österreich sehr groß, weniger groß in den angelsächsischen
       und am niedrigsten in skandinavischen Ländern.
       
       taz: Liegt das an fehlender Kinderbetreuung? 
       
       Fuchs-Schündeln: Nicht ausschließlich, dann würden die USA nicht deutlich
       besser dastehen als Deutschland und Österreich. Entscheidend sind
       Gendernormen. Die müssen wir verändern.
       
       taz: Was heißt das konkret? 
       
       Fuchs-Schündeln: Es ist immer noch die Norm, dass der Mann voll arbeitet
       und das Gehalt nach Hause bringt. Und von der Frau wird erwartet, dass sie
       hauptverantwortlich für die Kindererziehung ist. Das schlägt sich im
       Verhalten nieder, weil Normen zu brechen mit konkreten Kosten verbunden
       ist. Es gibt zum Beispiel Forschungen, die zeigen, dass beruflicher Erfolg
       für Frauen [4][die Scheidungswahrscheinlichkeit erhöht]. Und für Männer
       eben nicht.
       
       taz: Wie erklären Sie das? 
       
       Fuchs-Schündeln: Da wird mit den Normen gebrochen. Und das erhöht Konflikte
       in der Außenwelt und in den Ehen.
       
       taz: Weil Männer es immer noch nicht ertragen können, wenn Frauen
       erfolgreicher sind als sie? 
       
       Fuchs-Schündeln: Es ist halt nicht die Norm. Und Frauen verinnerlichen das.
       Wenn Frauen anfangen, mehr zu verdienen als ihre Männer, dann machen sie
       wieder mehr Hausarbeit, um das zu kompensieren. Sie wissen um die Kosten
       und reagieren darauf. Das findet man in den USA und in Westdeutschland. In
       Ostdeutschland trifft es nicht zu. Das ist auch ein Grund, warum viel mehr
       Frauen als Männer Beförderungen ablehnen. Sie wissen, dass das für sie
       risikoreicher und mit mehr Kosten verbunden ist. Es gibt sehr viele
       talentierte Frauen, die ihre Fähigkeiten nicht entsprechend in den
       Arbeitsmarkt einbringen. Das ist schlecht für das Wirtschaftswachstum und
       sollte der Regierung nicht egal sein.
       
       taz: Kann man das ändern? 
       
       Fuchs-Schündeln: Die soziologische Forschung zeigt, dass Politikmaßnahmen
       nicht nur finanzielle Anreize setzen, sondern auch Normen verändern können.
       Das Elterngeld etwa wird ein Jahr bezahlt. Damit signalisiert der Staat, es
       ist okay, wenn man ein einjähriges Kind in die Krippe gibt. Es ist also
       nicht nur ein finanzieller Anreiz, sondern auch ein Signal, was
       gesellschaftlich akzeptabel ist. Ich habe Forschung zum Ehegattensplitting
       gemacht. Das ist ein deutsches Spezifikum, das es in anderen Ländern nicht
       oder nicht in diesem Maße gibt. Es stärkt die alte Norm. Ich würde
       empfehlen, es abzuschaffen.
       
       taz: Die [5][Diskussion über das Ehegattensplitting] gibt es seit
       Jahrzehnten. Warum tut sich da nichts? 
       
       Fuchs-Schündeln: Es wäre eine relativ komplizierte Reform. Wenn man das
       Ehegattensplitting einfach abschafft und alle so besteuert wie Ledige,
       müsste ein sehr großer Teil der Bevölkerung mehr Steuern zahlen. Es gäbe
       einen öffentlichen Aufschrei. Man müsste diese Abschaffung also in eine
       größere Steuerreform verpacken, in der man die Arbeitsanreize verändert,
       aber die Steuereinnahmen nicht erhöht. Das ist kompliziert, aber möglich.
       Hinzu kommt, dass auch viele Politiker und Parlamentarier vom
       Ehegattensplitting profitieren. Großbritannien hat das Ehegattensplitting
       abgeschafft, langsam und schrittweise zwischen 1990 und 2000. Das hat ohne
       große politische Proteste funktioniert.
       
       taz: Es ist also eine Frage des Wollens? 
       
       Fuchs-Schündeln: Auch vielen Politikern ist inzwischen klar, dass dies ein
       Hebel wäre, um den Arbeitskräftemangel zu mildern. Aber der politische
       Wille, dies anzugehen, ist noch nicht da.
       
       taz: Ein anderes Problem ist die starke Ungleichheit bei Vermögen. Sollte
       man die Erbschaftssteuer erhöhen? 
       
       Fuchs-Schündeln: Wir brauchen keine höhere Erbschaftssteuer, aber eine
       breitere Bemessungsgrundlage. Sehr große Vermögen werden zu oft verschont.
       Die Erbschaftssteuer zahlt hauptsächlich die obere Mittelschicht. Die sehr
       Reichen vermeiden dies oft mit raffinierten Konstrukten.
       
       taz: Familienunternehmen argumentieren, dass Erbschaftssteuern ihre Firmen
       ruinieren würden. Ist da was dran?
       
       Fuchs-Schündeln: Das Problem lässt sich lösen, indem man die
       Erbschaftssteuer für Unternehmen über zehn Jahre streckt.
       
       taz: Warum ist es dann so schwierig, eine effektivere Erbschaftssteuer
       durchzusetzen? 
       
       Fuchs-Schündeln: Das hat wahrscheinlich mit Lobbyarbeit zu tun.
       
       taz: Es gibt beim Vermögen eine [6][krasse Teilung zwischen Ost und West]. 
       
       Fuchs-Schündeln: Ja. Vereinfacht gesagt: Ostdeutschland hatte 1990 faktisch
       kein Vermögen. Vermögensunterschiede lassen sich, anders als
       Einkommensunterschiede, nur sehr langsam abbauen. Sie akkumulieren sich
       eher. Reichtum und auch Erfahrungen mit Vermögen werden über die
       Generationen vererbt. Im Westen investiert man zum Beispiel mehr in Aktien
       als im Osten.
       
       taz: Welche politischen Auswirkungen hat das? 
       
       Fuchs-Schündeln: Es gab zuletzt viele Krisen, von der Finanzkrise über
       Corona bis zum Ukrainekrieg und der Inflation. Im Osten werden Krisen
       stärker als fundamentale Verunsicherung begriffen. Das hat auch damit zu
       tun, dass Vermögen gerade in Krisenzeiten ein Sicherheitsnetz bedeutet.
       Dieses Netz ist im Westen viel dichter als im Osten. Wahrscheinlich ist die
       größere Attraktivität der AfD im Osten auch eine Folge der geringeren
       Vermögen.
       
       2 Nov 2025
       
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