# taz.de -- Olivenernte in Gaza: Die Früchte von morgen
> Olivenbäume werden meist über viele Generationen vererbt, doch in Gaza
> hat der Krieg dieses Erbe zerstört. Olivenbauer Ayesh Muslih will
> trotzdem nicht aufgeben.
(IMG) Bild: 36 Bäume hat Tahseen al-Abadla von seinem Vater geerbt, nur ein einziger ist noch übrig. Aus seinem Feld ist eine Brache geworden
Tahseen al-Abadla sagt: „Der Olivenbaum ist ein gesegneter Baum.“ Und fährt
fort: Seitdem er fünf Jahre alt sei, lebe er zwischen den Olivenbäumen, die
sein Vater damals pflanzte, in al-Qarara, einer Kleinstadt zwischen Chan
Yunis und [1][Gaza-Stadt], etwa in der Mitte des Küstenstreifens. „Die
Bäume werden vererbt, von Eltern an ihre Kinder und dann an ihre
Großeltern“, sagt er. „Ein Mensch stirbt vielleicht, aber der Baum bleibt
am Leben.“
Doch nun ist von den 36 Bäumen, die er einmal von seinem Vater erbte, nur
noch ein einziger übrig. Der Rest ist zerstört: Die Stämme sind entwurzelt,
die Äste vertrocknet, das Land ist planiert. Es ist die Saison der
Olivenernte in Palästina – doch zu ernten gibt es kaum etwas, sagt er.
Ab Ende September bis in den November hinein werden in den
palästinensischen Gebieten Oliven geerntet. Doch in diesem Jahr zeigt sich
dabei ganz exemplarisch, wie sich das Leben der Menschen in den
palästinensischen Gebieten seit dem Hamas-Überfall auf Südisrael am 7.
Oktober 2023 verändert hat.
[2][Im Westjordanland haben die Angriffe extremistischer Siedler auf
palästinensische Olivenbauern massiv zugenommen]. Das Büro für die
Koordinierung humanitärer Angelegenheiten der Vereinten Nationen (OCHA)
berichtet von 126 Angriffen in weniger als vier Wochen. Dabei wurden auch
mehr als 4.000 Olivenbäume beschädigt. Ein Video, bei dem ein Siedler eine
ältere Frau bei der Ernte mit einem Holzstock angriff, ging viral. Sie
wurde schwer verletzt. Immer wieder stellen sich israelische und
internationale Aktivistinnen und Aktivisten vor die Bauern, versuchen sie
vor den Angriffen zu schützen. Und immerhin gibt es noch eine Ernte.
## Aus Feldern werden Brachen
Im Gazastreifen hingegen sind von etwa 1,1 Millionen Olivenbäumen, die dort
einmal wuchsen, 1 Million zerstört. Sie wurden bei Angriffen zerstört, vom
israelischen Militär ausgerissen, oder gingen ein, weil sie nicht mehr
gepflegt werden konnten.
Hinzu kommt die anhaltende Präsenz des israelischen Militärs, wie im
derzeit geltenden [3][Waffenruhe-Abkommen] festgehalten. Es hat sich
bislang auf die sogenannte Gelbe Linie zurückgezogen und hält damit noch 53
Prozent des Gazastreifens. Diese No-go-Zone für palästinensische
Zivilistinnen und Zivilisten verläuft entlang der Grenze zu Israel und
Ägypten und reicht etwa 1,5 Kilometer in den Gazastreifen hinein. Innerhalb
der Zone liegen die Überreste von vor dem Krieg dicht besiedelten Orten wie
der südlichen Stadt Rafah. Aber auch viele landwirtschaftliche
Anbauflächen. Denn die befanden sich im dicht besiedelten Gazastreifen vor
allem nahe der Grenze und zwischen Metropolen wie Gaza-Stadt und Chan
Yunis.
Etwa 41 Prozent der Fläche Gazas, so die israelische
Nichtregierungsorganisation Gisha, wurde vor dem Krieg landwirtschaftlich
genutzt. Im Juli 2025, so Gisha, waren etwa 90 Prozent der Flächen
„inaccessible“ – also von Palästinensern nicht betretbar. Die Positionen
des Militärs haben sich in Summe seitdem recht wenig verändert.
Tahseen al-Abadla steht zwar auf seinem Land, das er eigentlich einmal
landwirtschaftlich nutzte. Doch aus dem Feld ist eine Brache geworden. Ein
hagerer Mann mit schütterem Haar inmitten von entwurzelten, toten Bäume,
die Äste grau, das Laub abgefallen. Dazwischen Steine und Schutt. In den
umliegenden Häusern fehlen die Fenster und immer wieder auch einige Wände.
## Das Land planiert
Der Anbau von Oliven, erzählt er, war für ihn und seine Familie ein Zubrot,
die Menge an Bäumen zu gering, um nur von ihrem Ertrag zu leben. Denn auch
vor dem Krieg war die ökonomische Situation im Gazastreifen für einen
großen Teil der Bevölkerung alles andere als gut. Im Jahr 2021, so
berichtet es das Palästinenserhilfswerk UNRWA, war beinahe die Hälfte der
Bevölkerung arbeitslos.
Im Jahr 2023, als der Krieg bereits begonnen hatte, habe er noch mit
einigen Arbeitern die Bäume abgeerntet. Im Jahr 2024, erzählt er, sei die
Ernte sehr schlecht ausgefallen. Denn im Dezember 2023 wird er vertrieben,
als das israelische Militär mit einer Offensive auf al-Qarara beginnt. „Ab
und an haben wir damals auf dem Feld vorbeigeschaut. Doch wir konnten die
Bäume nicht pflegen, sie nicht wässern“, sagt er. Auch in diesem Jahr hat
niemand die Bäume gepflegt.
Auch Ayesh Muslihs Olivenbäume sind in den vergangenen beiden Jahren
verkommen. Etwa 270 Bäume bewirtschaftete er einmal in al-Qarara, erzählt
er. Übrig geblieben, sagt er, sind davon nach zwei Jahren Krieg im
Gazastreifen noch etwa zwanzig Stück.
Der Rest wurde herausgerissen, das Land planiert, auch die Zitrusbäume,
eine Lagerhalle, die Wohnhäuser seiner Geschwister, das alte Leben der
Familie. „Ein Haus, in dem es Olivenöl gibt, hungert nie“, zitiert Muslih
ein geflügeltes Wort im Gazastreifen. Doch eigenes Olivenöl findet sich in
seinem Haus kaum mehr.
## Barfuß auf der Flucht
Der 34-Jährige und seine Familie haben während des Kriegs den Zugang zu
seinem Land verloren, so erzählt er es. Gleich zu Beginn, Anfang Dezember
2023, als die israelische Offensive auf al-Qarara begann. „Meine Frau und
ich flohen, während sie bombardierten, barfuß mit unseren drei Kindern
Richtung Süden“, sagt er. Monatelang blieben sie vertrieben, erst in Rafah,
dann nahe al-Qarara.
Dann zog das israelische Militär wieder aus dem Ort ab, die Familie konnte
auf ihr Land zurückkehren. „Zwölfmal mussten wir dann trotzdem wieder
temporär flüchten“, sagt er, „weil das israelische Militär immer wieder
Evakuierungsaufforderungen schickte.“
Ein Teil seines Hauses stehe noch, sagt er. Aber nicht die Ställe, in dem
er einmal Tiere hielt: Geflügel, ein paar Kühe und Pferde. Sie leben nicht
mehr. Sein Vater, erzählt er, habe beim Anblick der hinterlassenen
Zerstörung einen Herzinfarkt bekommen. „Alles, was er über Jahre aufgebaut
hatte, die Ernte seines Lebens – ein Haufen Trümmer“, sagt er.
Eine produktive Farm betrieb Ayesh Muslih einmal. Doch das ist zum Erliegen
gekommen. Er erzählt: Auch die zwanzig noch stehenden Bäume würden in
diesem Jahr keine Früchte tragen.
Die Pflege eines Olivenbaums sei eigentlich recht einfach: „Man pflanzt ihn
und behandelt ihn wie ein Kind: Jeden Morgen wässern wir den Baum, vierzig
Tage lang. Wir haben ein Sprichwort: „Nach vierzig Tagen – sorg dich nicht
mehr darum.“ Seien die Bäume erst einmal gut angewachsen, werde die Pflege
einfach. „Manchmal versprühen wir Pestizide, zwei- bis dreimal pro Woche
wässern wir die Bäume. Wir nehmen trockene Äste ab und trimmen sie ein
wenig.“ Kein Vergleich, sagt er, zu Obstbäumen oder dem Anbau von
Gemüsepflanzen. Die Ernte, sagt er, war vor dem Krieg recht sicher.
Doch die Leitungen für das Wasser, erzählt er, funktionieren nicht mehr.
Und etwa Dünger ist auf den Märkten des Gazastreifens kaum zu finden, eine
angemessene Pflege der Bäume kaum möglich.
## Keine Beschäftigung für Saisonarbeiter
Das ganze Öl, das er und die vielen anderen Bauern sonst im Gazastreifen
produzieren, fehlt nun. Ebenso die Schlachttiere, das Obst und Gemüse,
Getreide und Hülsenfrüchte. Die lokale Lebensmittelproduktion, [4][schreibt
Gisha in einem Bericht,] sei völlig kollabiert. Das trifft die Menschen
umso härter, weil Israel noch immer zu wenig Hilfslieferungen nach Gaza
durchlässt.
Etwa 62.000 Tonnen Lebensmittel, so schätzen es die Vereinten Nationen,
bräuchten die etwa 2 Millionen Bewohnerinnen und Bewohner Gazas im Monat.
Im Oktober kamen laut der zuständigen israelischen Behörde Cogat etwa
27.000 Tonnen Nahrungsmittel nach Gaza. Vierzig Prozent davon werden vom
„privaten Sektor“ importiert. Sie werden also tendenziell auf den Märkten
verkauft, nicht etwa als Hilfe an die Bevölkerung verteilt. Dass die Hamas
davon profitiert, liegt nahe. Und in einem Gebiet, in dem ein großer Teil
der Menschen im Laufe des Kriegs auch seine Arbeit verloren hat, ist das
bereits das nächste Problem.
Ayesh Muslih entlohnt in diesem Jahr keine Saisonarbeiter. Wie bereits im
vergangenen Jahr. Auch für seine Arbeiter, die die Bäume das Jahr über
pflegten und bewässerten, Pestizide versprühten und neue Sämlinge setzten,
hat er seit Oktober 2023 keine Aufgaben mehr. Das bedeutet: Noch eine
Einkommensquelle weniger im Gazastreifen.
Die Kosten für die Pestizide, die Bewässerung und die Arbeiter machten vor
dem Krieg etwa ein Drittel des Ertrags aus, erzählt er. Den verbliebenen
Gewinn habe er sich mit seinen Brüdern geteilt, die ganze Familie davon
ernährt. „Wir sind ein Familienbusiness.“
## Ein Mix aus Lehm und Sand
Auch al-Abadla beschäftigte einmal Saisonarbeiter: Je nach geschätztem
Ertrag habe er sie angeheuert, ihnen einen kleinen Lohn gezahlt, dazu einen
Teil der geernteten Oliven und des anschließend gepressten Öls. Der Krieg
habe ihm die Ernte genommen – „und auch unseren Arbeitern“, sagt er.
Verschiedene Sorten an Oliven habe er angebaut, mit verschiedenen Vorzügen:
Serri-Oliven, aus denen Öl gespresst wird. Schamlai-Oliven, die besonders
widerstandsfähig sein sollen. Und Syrische Oliven, die als sehr ertragreich
gelten. Der Boden in Gaza, sagt er, sei „ideal für Oliven“: ein Mix aus
Lehm und Sand, der das Wasser für längere Zeit hält und so an die Bäume
abgibt.
Viel Arbeit habe ihm ihre Pflege bereitet, doch das habe ihn nie gestört.
„Ich baue Oliven nicht nur an, weil wir sie brauchen, sondern auch, weil
ich die Bäume liebe.“ Die Bäume habe er fast täglich gewässert, immer
wieder gedüngt, drei- bis viermal pro Jahr Pestizide gesprüht und bei
Bedarf die Äste zurückgeschnitten. Weil keine Leitungen direkt auf sein
Feld führten und er auch keinen Brunnen besaß, erzählt er, habe er das
Wasser einem Nachbarn abgekauft.
Auch Ayesh Muslih baute verschiedene Sorten an, auf verschiedenen Flächen.
Und erntete mit seinen Arbeitern die über 200 Bäume von Hand ab. Nur Netze
habe er als Hilfsmittel benutzt, um die Bäume zu schonen. „Die reifen
Oliven sammeln wir dann in Eimern. Je nach Anzahl der Arbeiter dauert die
Ernte auf einem Dunum etwa zwei bis drei Tage.“ Ein Dunum, eine alte
Landeinheit noch aus osmanischer Zeit, entspricht etwa 1.000 Quadratmetern.
## Nur noch 100 Olivenbäume
Die Oliven, erzählt er weiter, habe er nach der Ernte aufgeteilt: Die
besten Früchte habe er eingelagert. Den Rest habe er zur Ölmühle gebracht.
„Unsere gute Qualität war in ganz Gaza bekannt“, sagt er. „Viele Händler
wollten von uns kaufen.“ Einen Liter normales Olivenöl habe er dann für
etwa 10 Schekel, etwa 2,70 Euro, verkauft. Oder sortenreines Öl in großen
20-Liter-Kanistern für etwa 70 bis 100 jordanische Dinar, also etwa 85 bis
120 Euro. In den palästinensischen Gebieten wird meist in Schekel gezahlt,
größere Beträge aber auch in US-Dollar oder jordanischen Dinar, die
Währungen sind parallel im Umlauf.
Heute, sagt er, koste ein Kanister Olivenöl in Gaza nur etwa 100 Schekel –
weil die Qualität so schlecht sei. Nur zwei Ölmühlen gebe es überhaupt noch
in dem ganzen Küstenstreifen. „Ich sage das mit Trauer“, betont er, „aber
die Qualität der übrigen Oliven ist wirklich gering.“ Nur etwa 100
Olivenbäume, sagt er, gebe es noch in ganz al-Qarara. Der Rest sei
vernichtet worden.
Es sei nicht das erste Mal, dass er und seine Familie wieder ganz von vorn
beginnen müssen, erzählt er. Die Olivenbäume hat er von seinem Vater
übernommen. Seit 1962, betont er, kultiviere seine Familie das Land. Mit
dem Krieg 1967 wurde der Anbau zerstört, sagt er. „Meine Vorfahren haben
alles wieder aufgebaut, wieder Bäume angepflanzt.“ Auch danach, erzählt er,
sei sein Land immer wieder betroffen gewesen vom sich wieder und wieder in
Gewalt entladenden Krieg zwischen Israel und palästinensischen Militanten.
Immer wieder Einschläge, Zerstörung, Neuanfang.
Nun sagt er trotzig: „Wir werden alles wieder aufbauen, solange wir leben,
und noch besser, als es war.“ Er wolle die „stillen Tage“, die der
Gazastreifen während der halbwegs funktionieren Waffenruhe derzeit erlebe,
nutzen, um mit dem Aufbau zu beginnen. Auch wenn die Gelbe Linie und damit
das israelische Militär so nah sind, dass er manchmal Schüsse hören könne.
## Ein gesegneter Baum
Auch Tahseen al-Abadla möchte wieder aufbauen – allerdings erst mal sein
eigenes Zuhause, das Leben seiner Familie. Für einen Wiederaufbau seiner
kleinen Olivenfarm hat er kein Geld: „Landwirtschaft ist zu einem Luxus
geworden, die Kosten nicht mehr reinzuholen.“ Irgendwann, sagt er, wolle er
wieder Bauer in Teilzeit werden, „aber nicht mehr so wie früher“.
Er habe Hoffnung gehabt, als er nach Beginn der Waffenruhe endlich auf sein
Land zurückkehrte. Doch die Zerstötung sei größer gewesen, als erwartet.
„Meine Frau und ich waren schockiert, genauso wie unser Nachbar“, sagt er.
Und bevor er wirklich über den Wiederaufbau seiner Landwirtschaft
nachdenken könne, müsse sowieso die Waffenruhe halten.
„Israel verletzt alle internationalen Abkommen“, meint Ayesh Muslih. „Was
andere Staaten sagen, ist ihnen egal, sogar wenn es die USA sind.“ An einen
dauerhaften Frieden mag er noch nicht glauben.
Er hat nun begonnen, abgetrennte Äste und Holzstücke seiner Bäume
einzusammeln. Er will sie als Feuerholz nutzen, sie einem Zweck zuführen.
„Der Olivenbaum ist ein gesegneter Baum, er wird sogar im Koran erwähnt“,
sagt er. „Und er ist ein Symbol für Resilienz: Selbst nach den
schwierigsten Bedingungen wird der Baum einmal wieder Früchte tragen.“
Auch al-Abadla sagt: Der Olivenbaum sei ein Symbol: der Verwurzelung der
Palästinenser auf ihrem Land, ihrer Identität – und ihres Überlebens.
4 Dec 2025
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