# taz.de -- Israel vor Gaza-Stadt: Am Kipppunkt
       
       > In Gaza-Stadt herrscht Angst vor Israels Angriffen. Trotz Hunger und
       > Zerstörung hatten einige ihr Leben neu aufgebaut – und könnten jetzt
       > alles verlieren.
       
 (IMG) Bild: Bereits am Freitag zerstörte die israelische Armee durch Luftangriffe ein Hochhaus im Stadtzentrum von Gaza-Stadt
       
       Jersualem/Gaza-Stadt taz | Wael Chalifa fürchtet, dass seine 76 Patienten
       in Gaza-Stadts einziger Rehabilitationsklinik al-Wafaa ihren Weg zurück ins
       Leben nicht fortsetzen können. Sollte Israels Armee wie angekündigt die
       Stadt einnehmen, müssten sie trotz Amputationen, Querschnittslähmungen und
       dem Verlust von Angehörigen erneut fliehen. „Ich würde lieber sterben, als
       noch einmal vertrieben zu werden“, sagt der 49-jährige Neurologe, der
       selbst fünfmal binnen zwei Jahren Krieg fliehen musste.
       
       Aus seinem Fenster im bislang weniger zerstörten Stadtzentrum blickt er auf
       die östlichen Vorstädte. Über den Ruinen hängen Rauchwolken, auf
       Brachflächen reihen sich weiße Zelte aneinander. Viele der Geflüchteten
       waren wie Chalifa während der kurzen Waffenruhe Anfang des Jahres aus dem
       Süden zurückgekehrt und hatten versucht, ihr Leben trotz des Krieges wieder
       aufzubauen.
       
       Nun rücken wenige Kilometer entfernt israelische Soldaten bereits in
       Dschabalija und in Vororte von Gaza-Stadt vor. Dort leben Schätzungen
       zufolge noch knapp eine Million größtenteils ausgehungerte Menschen.
       Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu hält weiter um jeden Preis an dem
       Plan zur Einnahme der Stadt fest, gegen den Widerstand seines eigenen
       Generalstabschefs und trotz internationaler Kritik und Massenprotesten im
       Inland.
       
       Zwischen den Behandlungszimmern eilen Pfleger hin und her. Die Männer und
       Frauen in den Betten blicken erschöpft, manche tragen Verbände. Vielen
       wurden Arme oder Beine amputiert, nachdem sie Bombenangriffe überlebt
       haben. „Ein Viertel der Patienten sind Kinder“, sagt Chalifa beim Gang
       durch die Klinik. „Manche haben beide Eltern verloren, Mütter ihre Kinder.“
       Er finde oft kaum in den Schlaf, wenn er sich vorstellt, mit welchem
       Schmerz seine Patienten leben müssten.
       
       ## Bisher haben nur 100.000 Menschen Gaza-Stadt verlassen
       
       Seit Februar, nach Beginn der Waffenruhe, ist die Klinik wieder geöffnet.
       Es mangelt an Rollstühlen, Krücken und Schmerzmitteln, doch die Patienten
       in al-Wafaa bekommen Physiotherapie. Weil die Warteliste sehr lang ist,
       helfen Angehörige oft mit, um die Behandlung zu Hause fortzusetzen.
       „Familientherapie“ nennt Chalifa das.
       
       Bisher haben trotz Evakuierungsaufforderungen online und mit Flugblättern
       nur etwa 100.000 Menschen die Flucht in den Süden angetreten. Nun erhöht
       die Armee den Druck. [1][Zwei Hochhäuser im Stadtzentrum wurden am Freitag
       und Samstag wenige Gehminuten von der Klinik durch Luftangriffe zerstört.]
       Laut Angaben von Bewohnern lagen zwischen den Warnungen und den Angriffen
       rund 20 Minuten. Beweise für die Behauptung, die Gebäude seien von der
       Hamas genutzt worden, legte die Armee nicht vor.
       
       Die Klinikleitung bereitet sich deshalb auf die Evakuierung vor. Über die
       Weltgesundheitsorganisation (WHO) könnten möglicherweise Krankenwagen
       organisiert werden, um die Patienten in 20 bis 30 Kilometer entfernte
       Gebiete im Süden zu bringen. „Die meisten unserer Patienten sind zusätzlich
       unterernährt“, sagt Chalifa. Zwar würde die Klinik von Hilfsorganisationen
       Essen erhalten, mehr als Reis, Linsen oder Kartoffeln gebe es aber selten.
       
       Niemand weiß, wohin die Menschen gehen sollen. Laut den Vereinten Nationen
       stehen mehr als 86 Prozent des Gazastreifens unter Evakuierungsbefehlen
       oder sind als militarisierte Zonen ausgewiesen. In dem sandigen
       Küstenstreifen al-Mawasi bei Khan Younis im Süden stecken laut dem
       Palestinian NGO-Network bereits jetzt mehr als eine halbe Million Menschen
       ohne ausreichende Infrastruktur fest. Um die Menschen zur Flucht in den
       Süden zu bewegen, ließ Israel zuletzt vermehrt Zelte in den Küstenstreifen.
       
       ## Hoffen auf eine Verhandlungslösung
       
       Gegenüber der Klinik liegt der Haushaltswarenladen von Mahmud Abu Shaaban.
       Der 23-Jährige trägt eine schmale Brille und einen Hipsterbart. Die Wand
       hinter seinem Schreibtisch ist von Schrapnell-Einschlägen gezeichnet. Weiße
       Keramikteller stapeln sich in der Mitte des Geschäfts, auf den Regalen
       stehen Kochtöpfe. „Good vibes only“, ist auf einen Standmixer gedruckt.
       „Vor dem Krieg hatte ich alles: ein Haus, ein Auto, ein Geschäft“, sagt
       Shaaban. Als er im Januar nach zehnfacher Flucht aus dem Süden
       zurückkehrte, fand er Haus und Lager zerstört vor. „Was ich hier verkaufe,
       habe ich teuer besorgt, um weiterzumachen.“
       
       Er wollte bereits bei Kriegsbeginn nicht gehen, sagt Shaaban. Bis eine
       Bombe im Nachbarhaus eingeschlagen sei. An die ständige Angst vor den
       Bomben gewöhne man sich nicht, sagt er. Vor Kurzem sei sein Cousin auf der
       Straße getötet worden, als neben ihm eine Bombe in einem Haus einschlug.
       
       Er hofft auf eine Verhandlungslösung: Die US-Regierung hat der Hamas laut
       Medienberichten neue Vorschläge für ein umfassendes Abkommen über ein Ende
       des Krieges vorgelegt. Eine Umfrage des Israelischen Demokratie-Instituts
       zeigt, dass zwei Drittel der Israelis eine Einigung unterstützen, die die
       Rückkehr der knapp 20 noch lebenden Geiseln und ein Ende des Krieges
       vorsieht – selbst wenn Israel dafür Gaza verlassen müsste. Auch unter
       Wählern von Netanjahus Likud-Partei unterstützt eine Mehrheit diese
       Position. Dennoch hat der Regierungschef zuletzt eine bereits
       ausverhandelte Waffenruhe abgelehnt. Shaaban sagt, am Ende liege die
       Entscheidung zu bleiben nicht in seiner Hand. „Überleben ist am
       wichtigsten.“
       
       Israels Armee setzt zunehmend auf Luftschläge, von Drohnen abgeworfene
       Sprengsätze und mit Sprengstoff gefüllte, ferngesteuerte Fahrzeuge, die
       ganze Gebäudeblöcke zerstören. So sollen Soldaten geschont und Sprengfallen
       und Tunnel ausgeschaltet werden. Von Gaza-City dürfte dabei wenig übrig
       bleiben – ganz im Sinne von rechtsextremen Regierungsmitgliedern wie
       Finanzminister Bezalel Smotrich, die offen eine Vertreibung der
       Palästinenser und eine jüdische Wiederbesiedlung befürworten.
       
       ## Essen ist für die Menschen unbezahlbar
       
       Um die Menschen aus der Stadt zu drängen, stoppte Israel Ende August
       humanitäre Pausen für Hilfstransporte in den Norden. Seither steigen die
       Lebensmittelpreise wieder. [2][Erst Anfang August hatten UNO-Experten eine
       Hungersnot ausgerufen].
       
       Seit der vollständigen Blockade baut Israel mit Unterstützung der USA ein
       System an Verteilstellen auf, die die Versorgung durch etablierte
       Hilfsorganisationen ersetzen sollen. An den wenigen Verteilzentren
       herrschen chaotische Zustände, seit Mai wurden mehr als 2000 Hilfesuchende
       erschossen, die meisten von der israelischen Armee. Den IPC-Bericht hat
       Israels Regierung als „falsch“ zurückgewiesen. Zuletzt veröffentlichte das
       Außenministerium Videos von Märkten und Restaurants im Gazastreifen, die
       eine Hungersnot widerlegen sollen.
       
       Olga Cherevko, die für das UN-Nothilfebüro OCHA in Gaza arbeitet, warnt,
       dass Videos von Märkten keine Beweise gegen eine Hungersnot seien. Selbst
       die gesunkenen Preise blieben für den Großteil der Bevölkerung weiter
       unbezahlbar: „Die meisten Familien haben nach fast zwei Jahren ohne
       Einkommen ihre Ersparnisse aufgebraucht“, sagt Cherevko am Telefon. Um eine
       Katastrophe zu verhindern, müsse der Gazastreifen mit Hilfsgütern
       „überschwemmt“ werden.
       
       Israel treibt derweil die Offensive voran. [3][Vergangene Woche wurden
       60.000 Reservisten einberufen]. Die Zahl der Soldaten, die den Dienst
       verweigern, steigt. Viele, auch in der Militärführung, sehen keinen Sinn
       mehr in der Offensive. Generalstabschef Eyal Zamir betont dennoch trotz
       seiner Kritik, die Armee werde „nicht aufhören, bevor wir die Hamas besiegt
       haben“.
       
       7 Sep 2025
       
       ## LINKS
       
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