# taz.de -- Streit um das Sorgerecht: Im Zweifel für den Vater
       
       > Maria Hartmann sagt, sie habe häusliche Gewalt erlebt. Um ihren Sohn zu
       > schützen, flieht sie ins Frauenhaus. Dann wird dem Vater das Sorgerecht
       > zugesprochen. Warum?
       
       Maria Hartmann wird niemals den Tag vergessen, an dem man ihr Leon
       weggenommen hat. Noch am Morgen kuschelt sie mit ihrem dreijährigen Sohn
       und spielt mit ihm an seinem Werkzeugkasten. Dann brechen sie gemeinsam zum
       Familiengericht auf. Kaum dort angekommen, beschleicht sie ein mulmiges
       Gefühl, erzählt Hartmann heute, ein Jahr später. Ein Gefühl, als wäre
       bereits eine Entscheidung gefallen.
       
       Bei der Verhandlung sitzt sie im Saal, Leon wartet im Nebenzimmer. In der
       Pause darf sie kurz zu ihm. „Wann fahren wir nach Hause, Mama“, fragt er.
       „Später“, sagt sie. Eine Stunde später wird verkündet: Leon soll von nun an
       bei seinem Vater leben.
       
       Direkt nach der Verhandlung wird er dem Vater übergeben. Hartmann kann sich
       nicht einmal von Leon verabschieden.
       
       Ein Jahr nach diesem Tag sitzt Maria Hartmann in einem Café in Magdeburg
       und erzählt von dem Gerichtstermin im Juli 2024. Sie ist 39 Jahre alt, eine
       schmale Frau mit leiser Stimme und warmem Blick. Einen ganzen Stapel
       Dokumente hat sie dabei, außerdem einen USB-Stick. Es sind Schreiben und
       Beschlüsse vom Gericht, von Anwälten, Gutachten von Ärzt:innen und
       Psychologinnen. Dutzende Seiten, die Hartmanns Kampf dokumentieren – gegen
       ihren Ehemann und für ihr Kind.
       
       Maria Hartmann hat einen jahrelangen Rechtsstreit hinter sich. Er begann
       mit der Scheidung von ihrem Mann 2022. Geendet hat er vorerst damit, dass
       Hartmann im April 2025 das Sorgerecht für ihren jetzt fünfjährigen Sohn
       verloren hat. Sie darf ihn nur noch alle zwei Wochen sehen, dort, wo der
       Sohn heute lebt: bei seinem Vater. Der hat das alleinige Sorgerecht.
       
       Für Hartmann ist das Haus in einer Kleinstadt in Sachsen-Anhalt voll
       schlimmer Erinnerungen. Dort, sagt sie, habe sie in ständiger Angst gelebt.
       Ihr Ex-Partner habe sie geschlagen, beleidigt und degradiert. Auch den Sohn
       soll er geschlagen haben. Die Belege dafür hat Hartmann mitgebracht. Der
       Gedanke, in dieses Haus zurückzukehren, löst bei ihr Panikattacken und
       Albträume aus, sagt sie.
       
       Seit vier Monaten hat sie deswegen ihren Sohn nicht mehr gesehen. Sie
       schafft es einfach nicht, an diesen Ort zurückzukehren.
       
       Maria Hartmann hat ihren Sohn verloren, weil das Gericht und eine
       Gutachterin die Gewaltvorwürfe beiseite gewischt haben. Davon sind Hartmann
       und ihre Anwältin überzeugt. So legen es auch die Dokumente nahe, die
       Hartmann mitgebracht hat. Anstatt das Kind vor dem Vater zu schützen, wurde
       die Mutter vor Gericht zur gefährlichen Person erklärt. Als eine, die ihren
       Sohn manipuliere. Eine, die ihr Kind vom Vater „entfremden“ könnte, die
       „bindungsintolerant“ sei. Die Anwältin, die mit Hartmann das Verfahren
       bestritten hat, beschreibt es als „Täter-Opfer-Umkehr“. Für Hartmann kam es
       einem „Missbrauch nach dem Missbrauch“ gleich.
       
       Die taz hat auf mehreren Wegen versucht, mit dem Exmann von Maria Hartmann
       über seine Version der Geschichte zu sprechen. Sie hat ihn mit den
       Gewaltvorwürfen konfrontiert. Der Mann hat ein Gespräch abgelehnt. Seine
       Sicht soll hier über die Gerichtsunterlagen einfließen. Die zuständige
       Richterin und das Jugendamt dürfen sich nicht zu dem laufenden Verfahren
       äußern, sie haben Schweigepflicht. Die Argumentation des Gerichts und die
       Einschätzung des Jugendamts lassen sich jedoch über die zahlreichen
       Beschlüsse nachverfolgen.
       
       ## Frauenfeindliche Narrative?
       
       Was Maria Hartmann erlebt hat, beobachten Expert:innen regelmäßig in
       Deutschland: Gerichte ignorieren [1][Vorwürfe von häuslicher Gewalt] in
       Familienrechtsverfahren. Anwält:innen raten ihren Klientinnen daher,
       Gewaltvorfälle in Sorgerechtsverfahren lieber nicht zu erwähnen – weil sie
       ihnen im Zweifel negativ ausgelegt werden können.
       
       Einige Beobachter:innen sehen dahinter den Einfluss einer starken, gut
       vernetzten Lobby. Andere berichten, dass sich frauenfeindliche Narrative
       und Theorien hartnäckig an deutschen Familiengerichten halten.
       
       Die taz hat mit sechs betroffenen Frauen gesprochen, Gerichtsakten von fünf
       Fällen ausgewertet, Chat-Nachrichten und Fotos gesichtet, die die häusliche
       Gewalt belegen.
       
       Alle Frauen berichten von ähnlichen Erfahrungen wie Hartmann: Sie sagen,
       sie hätten Gewalt erlebt, dennoch lebten ihre Kinder inzwischen beim Vater.
       Eine Mutter aus Bayern verlor drei Jahre, nachdem ihr Expartner sie
       gewürgt, in eine Tür geklemmt und zu Sex gezwungen haben soll, das
       Aufenthaltsbestimmungsrecht für ihre beiden Kinder. „Es hat keinen
       interessiert, was mein Exmann mir angetan hat“, sagt sie heute.
       
       Auch eine andere Betroffene erzählt, dass ihre Kinder drei Jahre nach der
       Trennung plötzlich beim gewalttätigen Vater lebten: „Er hat einen
       Freifahrtschein bekommen, seine Gewalt fortzusetzen.“
       
       Eine Mutter aus Tunesien, die zehn Jahre in München lebte, berichtet, sie
       habe sich nach wiederholten Übergriffen getrennt. Zwei Jahre später
       entschied das Gericht, dass die Kinder beim Vater leben sollen. „Ich habe
       das Gefühl, ich habe als Frau mehr Rechte in Tunesien als hier in
       Deutschland“, sagt sie.
       
       Keine der Frauen möchte mit ihrem echten Namen in der Zeitung stehen –
       viele fürchten Nachteile vor Gericht oder Reaktionen ihrer Expartner. Auch
       Maria Hartmann und ihr Sohn heißen anders.
       
       Maria Hartmann hat zuletzt in einem Supermarkt gearbeitet. Wegen Problemen
       an ihrer Wirbelsäule und einer chronischen Entzündungskrankheit kann sie
       derzeit nicht arbeiten.
       
       Die Beziehung zu ihrem Exmann sei nur im ersten Jahr harmonisch gewesen,
       sagt sie. Die beiden waren in ihrer Jugend für eine kurze Zeit ein Paar,
       verloren sich aus den Augen, trafen sich 2015 wieder. Einen Monat später
       zieht er bei ihr ein, sie hofft damals, mit ihm ein gemeinsames Leben
       aufzubauen.
       
       Nach knapp einem Jahr habe er angefangen, sie zu isolieren, mit ihren
       Freunden zu streiten, die Kontrolle über ihre Finanzen zu übernehmen. Ein
       Jahr später, im Jahr 2017, soll er zum ersten Mal körperlich gewalttätig
       geworden sein. In einer Facebook-Nachricht bezeichnet er sie damals als
       „Stück Scheiße“ und „Opfer.“ In einer anderen Nachricht schreibt er:
       „Votze, votze, votze, ich hass dich immer mehr, ich schwör es dir.“ In
       weiteren Nachrichten droht er ihr mit Gewalt. Im Jahr 2019 soll er ihr die
       Nase gebrochen haben, ein Arztbrief bestätigt eine „Nasenbeinfraktur“. Alle
       Dokumente und Chats liegen der taz vor.
       
       Im Februar 2020 wird sie unerwartet schwanger. Während der Schwangerschaft
       schlägt und beleidigt er sie weiter, erzählt Hartmann. Manchmal
       entschuldigt er sich und sie verzeiht ihm. In anderen Momenten spielt sie
       mit dem Gedanken zu fliehen, weiß aber nicht wie. Zur Polizei geht sie nie,
       sie hat Angst, dass man ihr nicht glaubt. Mit ihrer Mutter hat sie damals
       nur sporadisch Kontakt, verschweigt auch ihr gegenüber die Gewalt. Die
       Mutter ahnte damals jedoch, dass etwas nicht stimmt, sagt sie im Gespräch
       mit der taz und erzählt, dass sie den Mann später selbst gewalttätig erlebt
       habe.
       
       Schließlich gelingt es Hartmann, ihren Mann zu überreden, dass er in eine
       andere Wohnung im gleichen Haus zieht. Er lässt sich darauf ein, kommt
       jedoch immer wieder ungefragt in ihre Wohnung. Hartmann sagt, sie habe zu
       viel Angst gehabt, um sich zu wehren.
       
       Im März 2022, da ist Leon eineinhalb Jahre alt, lassen sie sich scheiden.
       Ein Arzt stellt im gleichen Monat mehrere Hämatome am Körper von Hartmann
       fest: am Nasenbein, unterm Auge, an ihrer Schulter. Fotos aus dieser Zeit
       zeigen sie mit geschwollener Lippe, blauem Auge und Prellungen am Bein.
       
       Die Eltern einigen sich darauf, Leon weiter gemeinsam zu betreuen, Hartmann
       stimmt der Regelung zu. Aus Angst, wie sie sagt, und nur bis zu einem
       Vorfall im Januar 2023.
       
       Da soll der Vater allein mit seinem Kind in dessen Kinderzimmer gewesen
       sein. Er sei zu Besuch bei Hartmann in der Wohnung gewesen, so erzählt es
       die Mutter. Plötzlich habe sie Schreie aus dem Kinderzimmer gehört,
       wutentbrannt sei der Vater aus dem Raum gestürmt. Als Hartmann zu ihrem
       Sohn eilt, habe er am Ohr geblutet. Sie wollte sofort zum Arzt, doch ihr
       Expartner habe ihr das Handy weggenommen und ihr verboten, das Haus zu
       verlassen.
       
       Am nächsten Tag, so erzählt es Hartmann, eskalierte ein weiterer Streit.
       Ihr Expartner habe sie mehrmals auf den Kopf geschlagen.
       
       In den Gerichtsunterlagen bestreitet der Mann, dass er Hartmann jemals
       körperlich angegriffen habe. Er sei lediglich mal laut geworden oder habe
       Türen geknallt. Er wirft wiederum Maria Hartmann vor, dass sie Leon
       geschlagen habe. „Mein Exmann hat versucht, alle Tatsachen umzudrehen“,
       sagt Hartmann.
       
       Sie habe ihr Kind nie geschlagen. Im gesamten Rechtsstreit hat ihr Mann
       keine stichhaltigen Belege für seine Behauptungen vorgelegt. Es gibt weder
       ärztliche Gutachten noch Aussagen von Psychologinnen oder anderen
       Zeug:innen, die darauf hindeuten, dass Hartmann ihrem Kind gegenüber
       gewalttätig gewesen sei. In den Schriftsätzen der Anwälte ist lediglich von
       Sprachnotizen die Rede, in denen sie zugegeben haben soll, dass sie ihr
       Kind geschlagen hat.
       
       Hartmann sagt, ihr Exmann habe sie gezwungen, diese Aufnahmen zu erstellen.
       Eine soll nach dem Vorfall im Januar entstanden sein. Als ihr Exmann sie
       fragte, ob sie Leon schlage, habe sie aus Angst „ja“ gesagt, damit die
       Gewalt aufhört, schildert Hartmann. Ihre Anwältin beantragte, die Aufnahmen
       nicht als Beweismittel aufzunehmen. Sie durften dann – zumindest offiziell
       – auch nicht im Verfahren verwendet werden. Die Entscheidung könnten sie
       aber dennoch beeinflusst haben.
       
       ## Verletzungen dokumentiert
       
       Drei Tage nach dem Streit flieht Hartmann mit ihrem Sohn aus der Wohnung.
       Ihr erster Weg führt sie zu ihrem Hausarzt, der die Verletzungen
       dokumentiert.
       
       In dem Befundbericht vom 31. Januar 2023, der der taz vorliegt, steht: „Bei
       der Patientin fanden sich Zeichen von äußerer Gewaltanwendung. Es wurden
       Hämatome an der rechten Schläfe sowie ein Taubheitsgefühl des Ohres
       festgestellt.“ Auch bei Leon dokumentiert der Arzt „eine Beule an den
       Stirnbeinhöckern und eine Risswunde am Ohr“.
       
       Hartmann erstattet Strafanzeige gegen ihren Exmann und zieht für fast acht
       Monate in zwei Frauenhäuser.
       
       Nach dem Vorfall Ende Januar stellen Hartmann und ihr Exmann bei Gericht
       jeweils einen Antrag auf das alleinige Sorgerecht. Die Mutter beantragt
       zudem ein Gewaltschutzverfahren. Anders als bei vielen anderen Betroffenen
       von häuslicher Gewalt thematisiert und belegt ihre Anwältin die mutmaßliche
       Gewalt von Anfang an.
       
       Wenn sich Eltern trennen und sich nicht darüber einigen können, wer für die
       Kinder sorgt, wer sie betreut, kommt es zu einem Verfahren vor dem
       Familiengericht. In Fällen von häuslicher Gewalt sind Trennungen besonders
       konfliktreich, sie werden deshalb meist vor dem Familiengericht verhandelt.
       Das Sorgerecht regelt Erziehung, Betreuung und Versorgung des Kindes. Das
       Umgangsrecht regelt, wie oft Eltern mit ihren Kindern Zeit verbringen und
       Kontakt haben dürfen.
       
       Häusliche Gewalt ist vor Gericht oft schwer zu beweisen – meist steht
       Aussage gegen Aussage. Die Familiengerichte sind nicht für die
       strafrechtliche Aufklärung zuständig. Sie ermitteln nicht selbst, befragen
       keine Zeug:innen oder prüfen keine Beweise, wie es in einem
       Strafverfahren der Fall wäre. Doch sie können Mütter wie Hartmann schützen
       – etwa durch Umgangsbeschränkungen oder Kontaktverbote. Außerdem muss das
       Gericht prüfen, ob die Gewaltvorwürfe das Kindeswohl beeinträchtigen. Ziel
       ist immer eine Lösung, die für das Kind am besten ist.
       
       Leicht sind solche Verfahren nie. Wenn Kinder involviert sind, sind sie
       häufig hoch emotional. Kommt dann noch ein Gewaltvorwurf dazu, stehen
       Richter:innen oft vor einem Dilemma: Sprechen sie das Kind jenem
       Elternteil zu, das mutmaßlich gewalttätig ist? Oder enthalten sie jemandem
       sein Kind vor, weil Vorwürfe im Raum stehen, die nicht bewiesen sind?
       
       In den Verfahren werden meist das Jugendamt, Gutachter:innen sowie
       sogenannte Verfahrensbeistände hinzugezogen. Sie reden mit den Eltern und
       Kindern, um sich ein eigenes Bild von der Situation zu machen. Liegen keine
       eindeutigen Beweise für die Gewalt vor, kann der Gewaltvorwurf als
       Falschbehauptung gewertet werden – als Versuch, den anderen Elternteil zu
       diffamieren. Im Extremfall kann das der Betroffenen in den Fragen über das
       Sorge- und Umgangsrecht schaden.
       
       Als über Hartmanns Fall entschieden wird, sind die strafrechtlichen
       Ermittlungen gegen den Vater noch nicht abgeschlossen. Das Gericht beruft
       sich darauf, dass bislang nichts bewiesen sei, so erzählt es ihre Anwältin.
       Dennoch trifft das Gericht zunächst immer wieder auch Entscheidungen, die
       Maria Hartmann und ihr Kind schützen sollen.
       
       Zum Beispiel verbietet das Gericht dem Exmann Ende März 2023, sich Maria
       Hartmann zu nähern. Er verstößt mehrmals dagegen, wie aus den Gerichtsakten
       hervorgeht. Laut Hartmann fand er heraus, in welchem Frauenhaus sie sich
       aufhielt, tauchte dort mehrmals auf, um sie einzuschüchtern.
       
       Ende März 2023 treffen sich Hartmann und ihr Exmann auch vor Gericht.
       Hartmann thematisiert die Gewalt, ihr Exmann behauptet, sie habe ein
       Alkohol- und Drogenproblem. Aufgrund der gegenseitigen Beschuldigungen
       entzieht das Familiengericht beiden Eltern mit ihrer Zustimmung das
       Aufenthaltsbestimmungsrecht und das Umgangsrecht. Das Kind kommt zur
       Mutter, für Fragen der Gesundheitsfürsorge und Kita-Angelegenheiten ist
       aber fortan das Jugendamt zuständig.
       
       „Das wurde mir so verkauft, als müsste ich mich so nicht weiter mit meinem
       Exmann auseinandersetzen“, sagt Hartmann. Deshalb habe sie sich darauf
       eingelassen. Später habe sie das bereut.
       
       Der Vater darf den Sohn in regelmäßigen Abständen sehen, doch das
       eskaliert, erzählt Hartmann. Leon habe nicht zum Vater gehen wollen. Nach
       den Treffen mit dem Vater habe er nachts geschrien und um sich getreten.
       Einmal habe er sich geweigert, auf die Toilette zu gehen. Auf Nachfrage
       habe Leon gesagt, dass sein Vater ihm an seinem „Pullermann“ wehtue. Die
       Mutter hat dieses Gespräch mit ihrem Sohn aufgenommen, der taz liegt die
       Tonaufnahme vor. Das Gericht darf diese Sprachaufnahme nicht verwenden.
       
       Auch die Psychologin des Frauenhauses schreibt, dass Leon anfangs, nach dem
       Einzug ins Frauenhaus, angespannt und unsicher gewesen sei. Er habe andere
       Mitbewohnerinnen getreten, gehauen und gebissen. Sein Verhalten habe sich
       aber in den wenigen Wochen im Frauenhaus verbessert. Aber: „Mit Beginn der
       gerichtlich angeordneten Umgänge zum Kindesvater zeigten sich deutliche
       Rückschritte in der positiven Entwicklung“, fasst sie in einer
       Stellungnahme zusammen.
       
       ## 75 Seiten Gutachten
       
       Nach der Toiletten-Episode ruft Hartmann die Kinderärztin an und schildert
       die Aussagen von Leon. Die Ärztin bittet das Jugendamt, die Umgänge mit dem
       Vater auszusetzen und dieses kommt der Bitte nach. Drei Monate lang sieht
       Leon seinen Vater nicht.
       
       Der Vater bestreitet laut der Dokumente immer wieder, dass er gegenüber
       seinem Sohn gewalttätig wurde.
       
       Das Gericht gibt schließlich ein Gutachten in Auftrag, das feststellen
       soll, ob die beiden Eltern in der Lage sind, ihr Kind zu erziehen. Eine
       Gutachterin, eine Psychologin, spricht dafür mit beiden Eltern und
       beobachtet sie gemeinsam mit Leon. Sie spricht auch mit Leon allein. Das
       75-seitige Dokument wird entscheidend dafür sein, dass das Sorgerecht im
       April 2025 dem Vater zugesprochen wird.
       
       Das Gutachten erwähnt die Gewaltvorwürfe, prüft aber nicht, ob sie
       plausibel sind oder Auswirkungen auf Mutter und Kind haben könnten.
       Stattdessen interpretiert die Gutachterin Hartmanns Angst vor ihrem
       Expartner als „paranoide Tendenz“ und bezeichnet sie als stark belastet und
       überfordert. Hartmanns Sorge um ihren Sohn nach den Umgängen sieht sie als
       Zeichen von mangelnder „Bindungstoleranz“ und „Manipulation“.
       
       Widersprüchliche Aussagen des Kindes – einmal berichtet Leon, der Vater
       habe ihn geschlagen, ein anderes Mal verneint er dies – interpretiert die
       Gutachterin nicht als Hinweis auf mögliche Angst oder Verunsicherung,
       sondern als Beleg für den Einfluss der Mutter, die „eine Ablehnung seines
       Vaters“ fördere.
       
       Den Umgang zwischen Vater und Sohn beschreibt die Gutachterin wiederum als
       liebevoll und harmonisch. Zwar wird erwähnt, dass er schon mal wegen
       Körperverletzung in Haft saß, bewertet wird dies aber nicht weiter.
       
       Der Vater bestreitet die Gewaltvorwürfe stets, er habe lediglich einmal ein
       „Loch in den Tisch gekloppt“. Außerdem gibt er Hartmanns angebliches
       Drogen- und Alkoholproblem zu Protokoll. Belege dafür nennt das Gutachten
       nicht. Dass Hartmann medizinisches Cannabis nur wegen einer chronischen
       Erkrankung konsumiert, wird erwähnt, aber nicht weiter thematisiert. Ein
       Attest hierfür liegt der taz vor.
       
       Die Gutachterin beschreibt Leon als unsicher im Kontakt, mit einer geringen
       Frustrationstoleranz und impulsivem Verhalten. Diese Auffälligkeiten führt
       sie auf die Erziehung der Mutter zurück. Hartmann habe „Schwierigkeiten,
       die kindlichen Bedürfnisse von den eigenen Ängsten zu trennen“. Als Beleg
       wird etwa genannt, dass ihr die Übergabe von Leon an den Vater schwerfalle.
       
       Die vergangenen Jahre haben bei Maria Hartmann Spuren hinterlassen. In
       einem Schreiben, das der taz vorliegt, führt ihre Psychologin aus, dass
       Hartmann aufgrund der Partnerschaftsgewalt und der intensiven
       familiengerichtlichen Auseinandersetzung zeitweise stark von Ängsten
       geprägt und antriebslos war. Auch die Gutachterin sieht „Verhaltensweisen
       einer traumatisierten“ Persönlichkeit – setzt diese aber nicht mit der
       mutmaßlichen Gewalt in Verbindung.
       
       ## Keine psychiatrische Diagnose
       
       „Bindungsintolerant“, „manipulativ“, „Entfremdung“ – das sind Begriffe, die
       in vielen dieser Verfahren auftauchen. Es sind Schlagworte, die viele
       Frauen über sich lesen, bevor sie ihre Kinder verlieren. Sie sind die
       Vokabeln einer wissenschaftlich widerlegten Theorie, dem Elterlichen
       Entfremdungssyndrom, im Original Parental Alienation Syndrome (PAS).
       
       Entwickelt wurde das Konzept von dem Kinder- und Jugendpsychiater Richard
       A. Gardner in den 1980er Jahren. Gardner nahm an, dass Kinder
       Missbrauchsvorwürfe erfinden, weil Mütter sie ihnen einredeten. Die Mütter
       täten dies in der Absicht, das Kind vom Vater zu „entfremden“.
       
       Gardners Ideen waren schon damals hoch umstritten. Heute ist klar, dass PAS
       keine psychiatrische Diagnose ist. In die internationalen Klassifikationen
       von Krankheiten, dem offiziellen ICD-11-Kodex der
       Weltgesundheitsorganisation wurde PAS nicht als Diagnose aufgenommen.
       
       Das Bundesverfassungsgericht beurteilte die Theorie 2023 als
       fachwissenschaftlich widerlegt, auch [2][die Ampel-Regierung distanzierte
       sich] von ihr. Und trotzdem halten sich solche Annahmen hartnäckig, sagt
       die Familienrechtsanwältin Birte Strack vom Deutschen Juristinnenbund. Sie
       können das auch, weil hinter ihnen eine mächtige Lobby steht: d[3][ie
       Väterrechtler-Bewegung.] Sie entstand in den 1980er und 1990er Jahren als
       Reaktion auf die bis dahin gängige Praxis, das Sorgerecht eher Müttern
       zuzusprechen.
       
       Galten die frühen Väterrechtler noch als progressiv und liberal, beobachten
       Expert:innen in jüngeren Jahren eine zunehmende Radikalisierung der
       Bewegung. Sie sehen eine strategische Nähe mit Rechtsextremen. Politisch
       und medial sind ihre Vertreter sehr aktiv, geben Fortbildungen für
       Familienrichter:innen und Verfahrensbeistände. Das bestätigt auch
       Strack: Ihre Mandant:innen sprächen sie immer wieder auf das
       Entfremdungssyndrom an, das ihnen auf den Internetseiten von
       Väterrechtsgruppen begegnet. Eine Correctiv-Recherche zeigte 2023, wie
       Väterrechtler über gezielte Lobbyarbeit versuchen, Justiz und Politik zu
       beeinflussen.
       
       Wolfgang Hammer ist Soziologe und beschäftigt sich seit Jahren mit den
       Missständen an deutschen Familiengerichten. Vor drei Jahren löste er mit
       einer ersten Studie zu dem Thema eine breite Debatte aus. Seine Arbeit wird
       seitdem häufig zitiert, ist aber nicht unumstritten. Kritikerinnen
       bemängeln, die Auswahl der Fälle sei nicht repräsentativ und zeichne ein
       verzerrtes Bild der Justiz.
       
       Für die Studie wertete Hammer 1.000 familienrechtliche Fälle aus, in denen
       Gewalt oder Trennungskonflikte eine Rolle spielten. Er analysierte
       Gerichtsbeschlüsse, Gutachten und Akten von Jugendämtern und führte
       Gespräche mit Betroffenen, Fachanwält:innen und Mitarbeitenden aus
       Behörden.
       
       Sein Befund: Familienrichter:innen treffen Entscheidungen häufig
       [4][auf Basis mütterfeindlicher Narrative]. Den Frauen werde vorgeworfen
       „bindungsintolerant“ oder „manipulativ“ zu sein. Bindungstoleranz
       beschreibt die Fähigkeit, die Beziehung des Kindes zum anderen Elternteil
       zu unterstützen. Müttern werde laut Hammer zudem oft unterstellt,
       Gewaltvorfälle nur zu erwähnen, um den Kontakt zwischen Vater und Kind zu
       verhindern.
       
       Dabei dürfte das eigentlich nicht mehr im großen Stil passieren.
       Deutschland hat sich mit der Unterzeichnung der Istanbul-Konvention, dem
       internationalen Abkommen zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen,
       verpflichtet, von Gewalt betroffene Frauen und Kinder in Familienverfahren
       besser zu schützen.
       
       Grevio, der Expert:innenausschuss des Europarats, überwacht die
       Umsetzung der Istanbul-Konvention. In einem Bericht von 2022 kritisierte
       der Ausschuss, dass die Sicherheit von Frauen und Kindern in Sorgerechts-
       und Umgangsentscheidungen in Deutschland nicht ausreichend berücksichtigt
       werde. Und die UN-Sonderberichterstatterin für Menschenrechte, Reem
       Alsalem, bezeichnete den Umgang mit Frauen und Kindern vor
       Familiengerichten in zahlreichen Ländern – darunter auch Deutschland – auf
       der Sitzung des UN-Menschenrechtsrats im Jahr 2023 offen als
       Menschenrechtsverletzung.
       
       Im Sommer 2024 muss Maria Hartmann erneut vor Gericht. Es soll entschieden
       werden, was aus dem Gutachten folgt, das Hartmann attestiert, sie sei nicht
       in der Lage, ihr Kind zu erziehen. Leon, Hartmanns Sohn, lebt zu diesem
       Zeitpunkt noch bei seiner Mutter. Die Entscheidung über seinen Wohnort
       liegt jedoch bei einer vom Gericht eingesetzten Erziehungspflegerin. Seit
       der Verhandlung im April 2023 hält diese das Aufenthaltsbestimmungsrecht
       inne. Das heißt: Sie entscheidet, bei welchem Elternteil Leon wohnen soll.
       
       Hartmann hat versucht, gegen das Gutachten vorzugehen. Auch ihre Anwältin
       bemängelt, dass die Gewaltvorwürfe darin nicht geprüft, dass Beweismittel
       nicht gewürdigt wurden.
       
       Und trotzdem: Auf Basis des Gutachtens entscheidet die Erziehungspflegerin,
       dass Leon künftig beim Vater leben soll. So geht es aus den Gerichtsakten
       hervor. Der Aufenthalt bei der Kindesmutter sei laut der
       Erziehungspflegerin eine Kindeswohlgefährdung, ist dort zu lesen. „Dieser
       Tag hat mich erschüttert“, erinnert sich Hartmann. Ab diesem Zeitpunkt darf
       sie Leon nur noch alle zwei Wochen sehen, einmal pro Woche dürfen sie
       telefonieren.
       
       Der Vater erhält erst das Aufenthaltsbestimmungsrecht, später auch das
       Sorgerecht für seinen Sohn. Das Familiengericht bewertet das Gutachten als
       „schlüssig, logisch aufgebaut und nachvollziehbar“, heißt es in dem
       Beschluss. Maria Hartmann würde Leon bewusst manipulieren, deshalb müssten
       Umgänge begleitet stattfinden. Beim Vater sei keine Kindeswohlgefährdung zu
       erkennen, steht dort weiter.
       
       Dass das Familiengericht dem Gutachten folgt, ist nicht ungewöhnlich.
       Richter:innen entscheiden in der Regel selten gegen die Einschätzungen
       von Sachverständigen, sagt auch Birte Strack. Gleichzeitig weisen viele
       Gutachten Mängel auf. Das zeigt schon eine Studie der Fernuniversität Hagen
       aus dem Jahr 2014: In einer Stichprobe von 116 Gutachten hatten mehr als
       ein Drittel methodische Fehler.
       
       Im Fall von Maria Hartmann wäre es zu einfach, zu behaupten, dass das
       Jugendamt und das Familiengericht leichtfertig gehandelt hätten. Sie haben
       zunächst verhindert, dass der Vater seinen Sohn sieht. Sie haben ein
       Gutachten in Auftrag gegeben, was die Erziehungsfähigkeit der Eltern
       untersuchen sollte. Und dennoch entsteht in Hartmanns Fall der Eindruck,
       dass die Gewaltvorwürfe am Ende nicht gegen ihren Mann, sondern gegen sie
       selbst ausgelegt wurden.
       
       ## Gegengutachten eingereicht
       
       Um Fälle wie den von Hartmann zu vermeiden, hatte die Ampelkoalition eine
       Reform des Familienrechts geplant. Aufgrund des vorzeitigen Koalitionsendes
       kam es aber nie zu einer Abstimmung. Auch die aktuelle Regierung will
       häusliche Gewalt in Sorge- und Umgangsrechtsverfahren stärker
       berücksichtigen. Das Vorhaben ist jedoch weniger weitreichend als das der
       Ampel: Eine klare Ermittlungspflicht oder Risikoanalyse für die Gerichte
       fehlt bislang. „Die Beweislast liegt weiterhin bei den Betroffenen. Solange
       sich daran nichts ändert, werden die Opfer den Kürzeren ziehen“, sagt
       Hartmanns Anwältin.
       
       Maria Hartmann will weiter für ihren Sohn kämpfen. Sie hat ein
       Gegengutachten erstellen lassen, von einer Psychologin. Diese kritisiert
       das ursprüngliche Gutachten scharf. Sie beschreibt, dass die Mutter keine
       psychischen Störungen habe und sie zur Erziehung ihres Kindes in vollem
       Umfang fähig sei. Das Gutachten arbeite zudem mit Begriffen wie
       „Kooperationsbereitschaft“ und „Bindungstoleranz“, welche nicht
       wissenschaftlich messbar oder diagnostizierbar seien. Deshalb habe es einen
       „groben Evaluationsfehler“.
       
       Mittlerweile hat Hartmann das Gegengutachten im Rahmen einer Beschwerde
       beim Oberlandesgericht eingereicht. Darin beruft sich ihre Anwältin auch
       auf die Istanbul-Konvention. Die Mutter hofft, dass dem Vater so das
       Sorgerecht wieder entzogen wird und sie Leon zu sich holen kann.
       
       Ob die Beschwerde Erfolg haben wird, hängt davon ab, ob das Gericht
       anerkennt, dass das ursprüngliche Gutachten gravierende methodische Mängel
       aufweist und dass die häusliche Gewalt gegen Mutter und Kind ignoriert
       wurde.
       
       Die Ermittlungen zu Hartmanns Strafanzeigen gegen ihren Exmann laufen noch
       immer. Mit ihrer Anwältin kämpft sie darum, dass die Umgänge mit ihrem Sohn
       weiter in einem Familienzentrum stattfinden – und nicht mehr im Wohnhaus
       ihres Exmannes. Vom Jugendamt kam bisher keine Reaktion. Maria Hartmann
       hätte es auch nicht anders erwartet.
       
       Sie hat das Vertrauen in das System längst verloren.
       
       3 Dec 2025
       
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