# taz.de -- Friedensforscher zur Atomwaffendebatte: „Wir sind wieder im atomaren Wettrüsten“
       
       > Eine Rüstungskontrolle ist kaum mehr möglich, sagt Friedensforscher
       > Ulrich Kühn. Die Eskalation um US-Atom-U-Boote bereitet ihm aber keine
       > Sorgen.
       
 (IMG) Bild: Keine Atomwaffen für Deutschland: Konferenz zum Zwei-plus-Vier-Vertrag 1990 mit dem damaligen Außenminister Genscher (2 v.l.)
       
       taz: Herr Kühn, Sie haben dazu geforscht, warum Russland [1][entgegen
       vielfachen Androhungen] in der Ukraine bislang keine Atomwaffen eingesetzt
       hat. Haben Sie eine Antwort gefunden? 
       
       Ulrich Kühn: Eine überzeugende singuläre Antwort habe ich bislang leider
       nicht gefunden.
       
       taz: Machen Sie sich Sorgen nach der jüngsten Ankündigung von US-Präsident
       Trump, Atom-U-Boote in die Region Russlands zu entsenden?
       
       Kühn: Nein, ich mache mir keine Sorgen. Trump versteht scheinbar nicht, wie
       die amerikanische nukleare Abschreckung funktioniert. Von den strategischen
       U-Booten der USA sind ohnehin permanent vier bis fünf auf See. Man muss sie
       nicht in Position bringen, wie es Trump nun gesagt hat. Das ist totaler
       Unfug.
       
       taz: Wie erklären Sie sich dann das nukleare Säbelrasseln? 
       
       Kühn: Das ist unverantwortliches rhetorisches Gepolter. Trump benutzt hier
       eine der extremsten Formen, jemandem zu drohen. Das Ganze ist ja
       entstanden, weil Dimitri Medwedjew ihn als „Opa“ bezeichnet hat. Der
       US-Präsident hätte Medwedjew als unwichtige Figur im russischen
       Schmierentheater auch links liegen lassen können – aber er hat sich
       provozieren lassen.
       
       taz: Also: Was ist Ihre Erklärung dafür, dass Russland vor dem
       tatsächlichen Einsatz von Atomwaffen im Ukrainekrieg zurückschreckt? 
       
       Kühn: Es gibt drei gute Kandidaten für eine Erklärung. Eine Möglichkeit
       wäre: Die Russen hatten nie vor, Nuklearwaffen einzusetzen. Es könnte ihnen
       vielmehr nur darum gehen, Ängste zu schüren und die Strategien im Westen zu
       manipulieren.
       
       taz: [2][Die New York Times hat im März 2024 berichtet, dass die USA im
       Herbst 2022 von einer atomaren Eskalationsgefahr von immerhin 50 Prozent in
       der Ukraine ausgingen.] 
       
       Kühn: Man muss mit solchen Aussagen immer vorsichtig umgehen. Trotzdem
       sollte man sich die Einschätzung auf der Zunge zergehen lassen: Wenn ein
       ernstzunehmender Wissenschaftler damals gesagt hätte, die Chance für einen
       russischen Atomwaffeneinsatz in der Ukraine liege bei 5 Prozent – niemand
       hätte auf den vermeintlichen Panikmacher gehört. Und dann lesen wir eine
       Analyse, die mutmaßlich von der CIA stammt, und die von 50 Prozent ausging.
       Das ist schon heftig.
       
       taz: Und Ihr zweiter Erklärungsansatz? 
       
       Kühn: Der würde zu dem von Ihnen erwähnten Artikel passen. Die zweite
       Möglichkeit wäre, dass es auf der russischen Seite tatsächlich Überlegungen
       gab, taktische Nuklearwaffen in der Ukraine einzusetzen, und dass das
       Risiko durch die USA gebannt wurde – durch militärischen Druck auf der
       einen und direkte Gespräche mit Russland sowie China und Indien auf der
       anderen Seite.
       
       taz: Fehlt noch die dritte mögliche Erklärung. 
       
       Kühn: Dass das Ausbleiben eines Nuklearwaffeneinsatzes ein Zusammenspiel
       aus glücklichen Fügungen war. Als besonders brisant gilt der Spätsommer
       2022, [3][als die ukrainische Armee Russland zum Rückzug aus der Provinz
       Cherson drängte.] Recherchen zeigen, dass die Ukrainer damals kurz davor
       gestanden haben könnten, 30.000 russische Kräfte auf einmal festzusetzen
       und dann eventuell bis zur Krim durchzumarschieren. In Moskau soll es
       Erwägungen gegeben haben, einen solchen Vorstoß der Ukraine mit Atomwaffen
       zu verhindern. Es gibt deshalb Vermutungen, dass das Weiße Haus die
       Ukraine von einem weiteren Vormarsch abgehalten habe. Gegen diese Annahme
       spricht jedoch, dass dafür diverse ukrainische Befehlsstellen hätten
       involviert sein müssen, von denen man sicherlich bis heute etwas darüber
       gehört hätte.
       
       taz: Warum stellt sich jemand wie Kremlsprecher Dimitri Peskow dann wieder
       hin und sagt: Wenn eine Atommacht die Ukraine zum Angriff auf Russland
       „anstiftet“, dann könne Moskau auch Atomwaffen einsetzen. 
       
       Kühn: Das sagt uns, dass Russland nicht aufhören wird, die nukleare Karte
       zu spielen. Es ist ein Spiel mit der Ungewissheit. Russland wird weiter
       drohen und darüber versuchen, Einfluss zu nehmen.
       
       taz: Für wie wahrscheinlich halten Sie es denn, dass es noch zu einem
       russischen Einsatz von Atomwaffen kommen könnte? 
       
       Kühn: Ich halte mich an das, was ich am Anfang des Krieges der New York
       Times gesagt habe: Die Wahrscheinlichkeit ist nicht gleich null. Das mag
       sich jetzt ein bisschen spitzfindig anhören, aber wir haben es hier mit
       einer nuklear bewaffneten Macht zu tun. Daher kann man das nicht komplett
       ausschließen. Zum jetzigen Zeitpunkt würde ich die Möglichkeit aber für
       sehr niedrig erachten. Es ist jedoch nicht undenkbar, dass dieser Krieg
       noch eine weitere dramatische Wendung nimmt. Für autokratische Herrscher
       gilt, dass alles noch unangenehmer werden kann, wenn sie sich persönlich in
       die Ecke gedrängt fühlen. Und das gilt auch für Wladimir Putin. Was, wenn
       eine Clique aus Militärs, Geheimdiensten, Politikern beschließt, dass es
       ihnen mit Putin zu prekär wird? Wenn er um seine eigene Zukunft bangen
       muss, könnte ich mir vorstellen, dass die Wahrscheinlichkeit für eine
       nukleare Eskalation steigt.
       
       taz: Würden deutsche Nuklearwaffen Europa sicherer machen? 
       
       Kühn: Eine spannende Frage. Ich habe bisher keine relevante Stimme in
       Europa vernommen, für die deutsche Nuklearwaffen ihr schlimmster Albtraum
       wären. Aber ich habe auch noch niemanden gehört, der das ernsthaft
       vorschlägt – außer CDU-Fraktionschef Jens Spahn, der [4][unter Druck steht
       durch die Maskenaffäre] und [5][die verkorkste Wahl zum
       Bundesverfassungsgericht].
       
       taz: Dann ist das also nur eine Phantomdiskussion? 
       
       Kühn: Die Sicherheit der Bundesrepublik beruht unter anderem auf
       Nuklearwaffen, und zwar seit die USA sie Mitte der 50er Jahre auf
       westdeutschem Boden stationiert hatten. Von Adenauer über Brandt, Kohl und
       Merkel bis Scholz und jetzt Merz: Obwohl es teils deutliche Mehrheiten in
       der Bevölkerung gegen diese Waffen gab, hat bis heute keine Bundesregierung
       je den Abzug gefordert. Das zeigt mir, dass die führende politische Klasse
       die nukleare Abschreckung als zentral für Deutschlands Sicherheit begreift.
       Das heißt für mich aber auch, dass in dem Moment, in dem die USA ausfallen
       und vielleicht dann auch noch Frankreich unter einer rechtsradikalen
       Präsidentschaft steht, wir in Deutschland eine ernsthafte Debatte über
       deutsche Nuklearwaffen bekommen werden. Das ist für mich das
       Extremszenario, von dem ich leider sagen muss, dass es nicht mehr so weit
       entfernt scheint.
       
       taz: Deutsche Atomwaffen wären allerdings sowohl ein Verstoß gegen den
       Atomwaffensperrvertrag [6][als auch den Zwei-plus-vier-Vertrag.] 
       
       Kühn: Das ist korrekt. Aber unter veränderten Bedingungen können Verträge
       eben auch hinfällig werden. Allerdings sollten immer auch die Folgen
       bedacht werden. Denn wenn der Atomwaffensperrvertrag als hinfällig
       begriffen wird, dann werden auch andere, wie Japan, Südkorea, die Türkei
       oder die Saudis daraus ihre Schlüsse ziehen. Und rein statistisch gesehen
       könnte man argumentieren, dass mit der steigenden Zahl der Besitzer auch
       die Wahrscheinlichkeit steigt, dass irgendwann wieder Nuklearwaffen
       eingesetzt werden.
       
       taz: Den Iran haben Sie in Ihrer Aufzählung nicht erwähnt. Ist das Thema
       nach den [7][israelischen und US-amerikanischen Militärschlägen] jetzt erst
       mal erledigt? 
       
       Kühn: Nein, das ist es nicht. Ein Atomprogramm wie das iranische lässt sich
       nicht durch solch eine militärische Intervention beenden. Dafür hätten die
       USA schon einmarschieren und jeden Stein umgraben müssen, um das
       sicherzustellen. Die Bombardierungen dürften die Bemühungen Irans eher
       befördert haben, jetzt möglichst schnell die Bombe zu bekommen.
       
       taz: Der [8][aktuelle Sipri-Bericht] konstatiert eine neue Dynamik des
       weltweiten atomaren Wettrüstens. Teilen Sie diesen Befund? 
       
       Kühn: Ja, durchaus. Wir sind wieder in einem atomaren Wettrüsten.
       Insbesondere die chinesische Seite schreitet mit einer ziemlichen
       Geschwindigkeit voran, wenn man sich anschaut, wie sie die Anzahl ihrer
       Nuklearwaffen binnen kurzer Zeit erhöht hat. Das führt zu einer sehr
       unschönen Dynamik. Im Vergleich zu den USA hat China zwar immer noch
       weitaus weniger Nuklearwaffen, aber die US-Administration stellt die
       chinesischen Sprengköpfe in einen direkten Zusammenhang mit dem großen
       russischen Arsenal und reagiert entsprechend. So entsteht eine gefährliche
       Rüstungsspirale – diesmal zwischen drei Parteien.
       
       taz: Sehen Sie noch einen Ausweg aus dieser Spirale? 
       
       Kühn: Die Menschheit hat bewiesen, dass sie sehr lernfähig sein kann.
       Deswegen möchte ich die Hoffnung und den Glauben nicht aufgeben. Zum
       jetzigen Zeitpunkt spricht jedoch leider nicht viel dafür, dass wir aus
       dieser Dynamik, in der wir jetzt sind, schnell wieder rauskommen. Für die
       westlichen Demokratien ergibt sich dabei eine zusätzliche Gefahr, weil das
       Geld, das sie für Rüstung ausgeben, an anderer Stelle fehlen wird. Das gilt
       insbesondere für den sozialen Bereich. Das jedoch untergräbt den
       demokratischen Zusammenhalt im Inneren.
       
       taz: Haben Sie den Glauben an Rüstungskontrolle verloren? 
       
       Kühn: Ich befürchte, dass wir in eine Phase eintreten, in der klassische
       Rüstungskontrolle, so wie wir sie aus dem Kalten Krieg kennen, erst mal
       nicht mehr möglich sein wird. Was ich persönlich hoffe und woran ich
       forsche, ist die sogenannte verhaltensorientierte Rüstungskontrolle. Das
       heißt, dass konkurrierende Großmächte erst einmal versuchen, gegenseitig
       festzuhalten: Was sind bestimmte Verhaltensnormen, die man für akzeptabel
       oder inakzeptabel hält?
       
       taz: Was meinen Sie damit konkret? 
       
       Kühn: Ein Beispiel: Wäre es für die USA eine akzeptable Vorstellung, wenn
       China die Entscheidung über den Einsatz von Nuklearwaffen komplett an eine
       künstliche Intelligenz abtreten würde? Und wie fände es umgekehrt China,
       wenn die USA das machen würden? Ich glaube, da kann man sich auf einen
       Common Sense verständigen, auf eine gemeinsam geteilte Norm, dass der
       Mensch hier immer involviert sein muss. Anderes Beispiel: Wäre es eine
       beruhigende Vorstellung, sich gegenseitig seine Radaranlagen im Weltraum
       urplötzlich auszuschalten? Es gibt eine Reihe von Sachen, wo die
       involvierten Politiker und Militärs wahrscheinlich zu dem Ergebnis kommen
       dürften, dass es besser ist, sich an einen Tisch zu setzen und solche
       Angriffsoptionen auszuschließen.
       
       taz: Aber wie kommt man dahin? 
       
       Kühn: Dazu bedarf es nicht eines riesigen neuen Vertrages, sondern
       möglicherweise einigt man sich zunächst nur auf eine entsprechende
       gemeinsame Erklärung. Dann hat man aber schon mal etwas, auf dem aufgebaut
       werden kann. Allerdings braucht man dafür natürlich Staaten, die ernsthaft
       auch Diplomatie betreiben wollen und nicht Regierungen, die gerade dabei
       sind, alle ihre Diplomaten in die Arbeitslosigkeit zu verabschieden, wie es
       eine gewisse Regierung in Washington gerade tut.
       
       4 Aug 2025
       
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