# taz.de -- Holocaust-Überlebender über sein Leben: „Auschwitz gibt dir einen Schlag mit dem Holzhammer“
       
       > Der Holocaust-Überlebende Albrecht Weinberg spricht über die NS-Zeit und
       > warum er sein Bundesverdienstkreuz zurückgegeben hat. Ein Besuch bei dem
       > 100-Jährigen.
       
       Ein Mehrfamilienhaus in Leer (Ostfriesland), direkt an der B 436. Im ersten
       Stock ist das Zuhause von Albrecht Weinberg und Gerda Dänekas. Weinberg ist
       Holocaust-Überlebender und heute 100 Jahre alt. Die 25 Jahre jüngere Gerda
       Dänekas war zunächst seine Altenpflegerin und kümmert sich nun in einer
       Wohngemeinschaft um ihn. Die Wohnung ist ruhig und hell; im Raum steht ein
       Chanukkaleuchter. Die Wände sind dekoriert mit Urkunden, Familienfotos in
       Schwarz-Weiß, einer Collage, die Weinberg bei einem Besuch der Gedenkstätte
       Auschwitz zeigt. 
       
       Gerda Dänekas bittet „Mr. Weinberg“, wie sie ihn nennt, aus dem
       Wohnzimmersessel aufzustehen und mit dem Rollator auf den Balkon zu gehen.
       Dort soll das Interview stattfinden. „Hoch!“, sagt sie. Weinberg müht sich
       aus dem Sessel. „Werd ’' du mal hundert!“, sagt er zu ihr. Auf dem Balkon
       setzt er sich unter einen Sonnenschirm. 
       
       taz: Herr Weinberg, bei einem Menschen in Ihrem Alter und mit Ihrer
       Lebensgeschichte möchte ich mit dieser Frage beginnen: Wie geht es Ihnen? 
       
       Albrecht Weinberg: Mir geht es sehr gut. Wer kann schon auf so einer
       schönen Terrasse wie ich sitzen, mit diesem Ausblick ins Grüne? Die
       Familie von Gerda Dänekas hat mich quasi adoptiert, ich habe ein gutes
       Leben hier. Ich bin jetzt über 100 Jahre alt. Ich genieße jeden Tag. Ich
       weiß genau, dass ich mit einem Fuß im Grab stehe
       
       taz: Sie haben [1][die Lager in Auschwitz, Mittelbau-Dora und
       Bergen-Belsen] überlebt, waren über 60 Jahre in den USA und sind 2012 nach
       Deutschland zurückgekehrt. Wie kam es dazu? 
       
       Weinberg: Ich wollte von Deutschland eigentlich nichts mehr wissen. In den
       USA habe ich versucht, die schreckliche Zeit des Nationalsozialismus aus
       meinem Kopf rauszukriegen. Mitte der achtziger Jahre haben der
       Bürgermeister von Leer und ein früherer Religionslehrer uns Briefe in die
       USA geschickt und uns zu einem Treffen Überlebender eingeladen. Der Lehrer
       hatte ein Gruppenbild von der ehemaligen jüdischen Schule Leer beigelegt,
       aus dem Jahr 1935. Darauf haben wir Schulfreunde und unsere Cousins
       wiedererkannt. So sind meine Schwester Friedel und ich 1985 also nach
       Ostfriesland gereist. Wir trafen tatsächlich Klassenkameraden wieder sowie
       Familienmitglieder, die überlebt hatten, weil sie in den Niederlanden
       versteckt wurden. Und wir freundeten uns mit zwei deutschen Ehepaaren aus
       Leer an. Sie schrieben uns Briefe, schickten uns Ostfriesentee und Kluntjes
       (ostfriesischer Teezucker, Anm. d. Red.) in die USA.
       
       taz: Aber erst viele Jahre später kehrten Sie tatsächlich zurück. 
       
       Weinberg: Ja. Meine Schwester Friedel, mit der ich in New York
       zusammenlebte, wurde 2012 krank. Sie hatte einen schweren Schlaganfall und
       sie wurde in einem fürchterlichen Hospiz in Fort Lauderdale versorgt, weil
       es andernorts keinen Platz für sie gab. Es kostete 8.000 Dollar pro Monat,
       das konnten wir uns nicht lange leisten. Freunde in Ostfriesland boten uns
       an, ein Pflegeheim für mich und Friedel zu suchen. Dorthin zurückzugehen,
       wo sie uns Juden so gequält hatten, fiel mir schwer. Aber ich habe es für
       meine Schwester getan. Sie ist dann kurz nach unserer Rückkehr nach Leer
       verstorben.
       
       taz: Wie haben Sie die frühen 1930er Jahre in Leer und Umgebung erlebt? 
       
       Weinberg: Mein Geburtsort Rhauderfehn war eine Nazi-Hochburg. Die Geschäfte
       hatten Schilder an der Eingangstür: „Arisches Geschäft. Juden kein
       Zutritt.“ Im Dorf trugen viele Uniformen. Meinen Vater nannten sie nicht
       Alfred Weinberg, sondern auf Platt den „Jööd Weinberg“, den „Juden
       Weinberg“. Er hatte keinen Vornamen. Dabei waren wir doch deutsche Bürger
       wie unsere Nachbarn auch, auch wir haben Platt gesprochen. Mein Vater und
       seine Brüder hatten als deutsche Soldaten im Ersten Weltkrieg gekämpft.
       
       taz: Wie bedrohlich haben Sie die Situation als Kind erlebt? 
       
       Weinberg: Zuerst überhaupt nicht. Die Jungs haben schicke Uniformen
       angehabt und kleine Stiefelchen getragen, sie haben zusammen gesungen. Ich
       habe gesagt: „Mama, ich möchte das auch machen.“ Sie sagte, das gehe nicht.
       Wir Kinder hatten ja zunächst keine Ahnung, dass diese Gruppen einem
       Todesurteil für uns gleichkamen.
       
       taz: Wann haben Sie das verstanden? 
       
       Weinberg: Eine Weile später. Ein Erlebnis werde ich nie vergessen: Ich war
       ungefähr 10 Jahre alt, und ich hatte den Dorfschmied dazu gebracht, mir
       Schlittschuhe anzufertigen. Wie stolz und froh ich war! Ich ging sofort zum
       Schlittschuhlaufen auf den Kanal. An einer Stelle hatten Leute das Eis
       aufgehackt, um Wasser aus dem Kanal zu holen. Ich taumelte irgendwann auf
       meinen Schlittschuhen, verlor den Halt und brach schließlich dort ein in
       den bitterkalten Kanal. Einige Jungs standen am Ufer, haben gejohlt und
       gesungen: „Sit een Jööd in’t Deep, sit een Jööd in’t Deep, wenn he
       versuppt, ik help hum neet.“ Auf Hochdeutsch: „Sitzt ein Jude im Kanal,
       sitzt ein Jude im Kanal, wenn er ertrinkt, helfe ich ihm nicht.“ So
       gehässig ging das zu. Der Vater eines Jungen hat mich schließlich gerettet.
       
       taz: Wie haben sich die Nazis in der Stadt präsentiert? 
       
       Weinberg: In der Nähe unseres Wohnhauses wurde ein Platz nach Adolf Hitler
       benannt. Da wurde morgens die Fahne gehisst, [2][und die Hitlerjugend kam
       dorthin] und hat ihre Hetzlieder gesungen.
       
       taz: Sie sind auch von der Schule geflogen. 
       
       Weinberg: Ja, als ich 11 Jahre alt war, kam der Lehrer der Schule in
       Rhauderfehn zu mir und sagte: „Weinberg, du darfst nicht mehr zur Schule
       kommen. Geh.“ Das war ein Jahr nach der Verabschiedung der Nürnberger
       Gesetze. Ich besuchte danach die Jüdische Schule in Leer. Bis 1939 wurde
       sie noch genutzt, 1940 wurde sie offiziell von den Nazis geschlossen.
       
       taz: Wie ging es weiter? 
       
       Weinberg: Über die „Reichsvertretung der Deutschen Juden“ sind meine
       Schwester Friedel und ich Ende 1938 auf ein jüdisches Lehrgut in Groß
       Breesen in der Nähe von Breslau gekommen. Da war ich 13 Jahre alt. Unsere
       Eltern blieben in Leer. In Breslau sollten Juden auf die Auswanderung
       vorbereitet werden. Das war ein Landwirtschaftsbetrieb, wir mussten Kühe
       melken, tischlern, auf dem Feld arbeiten. Für mich war das ein Kinderspiel,
       ich kam ja vom Land. Eine Kuh zu melken oder mit einem Pferdegespann auf
       den Acker gehen und pflügen, das fiel mir nicht schwer.
       
       taz: Wie lange blieben Sie dort? 
       
       Weinberg: Etwa zwei Jahre. Dann hat die Breslauer Gestapo die Belegschaft
       halbiert, viele jüdische Arbeiter wurden in Lager abtransportiert. Friedel
       und mich brachten sie in das Forst- und Ernteeinsatzlager in Hangelsberg an
       der Spree, in der Nähe von Fürstenwalde. Ein Arbeitslager. Wir waren in
       einem Keller untergebracht, ohne fließendes Wasser. Haben Bäume gefällt und
       Briketts umgeladen. Ich habe als 14-Jähriger einen Zentner Briketts auf dem
       Rücken getragen und sie bei den Deutschen in den Keller geschleppt.
       Furchtbar.
       
       taz: Von dort wurden Sie später nach Auschwitz deportiert? 
       
       Weinberg: Ja. Am 20. April 1943, Hitlers Geburtstag. [3][Wir sind von der
       S-Bahn-Station Grunewald] abtransportiert worden. Zehn Waggons standen
       dort, die die Deutsche Reichsbahn zur Verfügung gestellt hatte. Wir wussten
       nur, dass wir in den Osten kamen. Wir haben gedacht, wir müssten dort
       Schützengräben ausheben oder für die Wehrmacht arbeiten. Wir dachten an
       Zwangsarbeit, aber nicht an den beinahe sicheren Tod.
       
       taz: Wie würden Sie einem Nachgeborenen Auschwitz beschreiben? 
       
       Weinberg: Das kann man keinem erklären, der es nicht erlebt hat. Du wurdest
       von deinem Unterdrücker zu Vieh gemacht. Auch die Häftlinge untereinander
       verhielten sich wie Raubtiere.
       
       taz: Das hat [4][Primo Levi in seinem Buch „Ist das ein Mensch?“] auch so
       beschrieben. 
       
       Weinberg: Der war zur gleichen Zeit da wie ich. Es ist unglaublich, was wir
       blöden Menschen miteinander machen. Denken Sie an das Massaker von Babyn
       Jar. Über 30.000 Menschen haben deutsche Soldaten in der Ukraine in 48
       Stunden erschossen. Was macht so ein Soldat, wenn er nach Hause kommt? Wenn
       er am Weihnachtsbaum sitzt mit seinen Liebsten?
       
       Weinberg schweigt und schaut vom Balkon auf die Bäume im Garten. Etwa eine
       Minute bleibt es ruhig. Dann fährt er fort. 
       
       Weinberg: Es ist für einen normalen Menschen kaum zu verstehen. Im Januar
       1945 wurde Auschwitz „evakuiert“, wie die Nazis es nannten, tatsächlich
       trieb man uns in einem Todesmarsch nach Mittelbau-Dora. Viele starben auf
       dem Weg dorthin. Im April wurde ich nach Bergen-Belsen deportiert, kurz vor
       der Befreiung des KZs. Der Gestank dort war unerträglich. Hunderte,
       Tausende Tote lagen dort, einige schon in einem Stadium der Verwesung. Die
       britischen Soldaten hatten sich ein solches Ausmaß auch nicht vorstellen
       können.
       
       taz: Die Briten haben dann die SS-Leute gezwungen, Gräber auszuheben, so
       beschreiben Sie es in Ihrer Biografie. 
       
       Weinberg: Ja. Sie sollten ein Massengrab ausheben. Mit dem Spaten kamen sie
       nicht voran, dann haben sie es mit einem Bulldozer gemacht. Die Engländer
       haben uns Häftlinge nicht direkt an die Grube gelassen, sonst hätten wir
       die SS-Leute da reingeschmissen, wenn wir die Kraft gehabt hätten.
       
       taz: Wie haben Sie die Nachkriegszeit erlebt? 
       
       Weinberg: Ich lief durch die Gegend wie ein geschlachtetes Huhn, das noch
       laufen kann. Ich nahm mir vor, meine Familie zu finden. Meine Schwester
       Friedel hatte ich nach unserer gemeinsamen Ankunft in Auschwitz nicht mehr
       gesehen. Meinem Bruder Dieter war ich in Auschwitz wieder begegnet, wir
       verloren uns beim Transport nach Mittelbau-Dora aus den Augen. Die Briten
       haben mir kurz nach Kriegsende einen Ausweis ausgestellt. Einen Pappdeckel
       mit Foto. Ich hatte ja keine Dokumente und keinen Namen mehr. Es gab nur
       die Häftlingsnummer, die mir die Nazis eintätowiert hatten: 116927. Der
       englische Soldat schrieb die Nummer in den Ausweis.
       
       taz: Haben Sie Ihre Geschwister gefunden? 
       
       Weinberg: Ja. Dieter und Friedel hatten überlebt. Friedel habe ich nach
       langem Suchen im Herbst 1945 in Hannover wiedergefunden. Dieter ist nach
       der Befreiung zurück nach Leer. Dort haben wir drei Geschwister uns 1946
       wiedergetroffen. Dieter erzählte, er sei in Leer nicht mit offenen Armen
       empfangen worden. „Wieso hat man dich nicht in den Gasofen gesteckt?“,
       hätte ihn einer gefragt. Wir erfuhren, dass unsere Eltern in Auschwitz
       ermordet worden waren. Dieter starb 1946 unter ungeklärten Umständen, man
       fand ihn tot im Kanal, wir erfuhren nie, was passiert ist. Friedel und ich
       wanderten kurz darauf nach Amerika aus und lebten dort zusammen.
       
       taz: Haben Sie in New York ein einigermaßen normales Leben führen können? 
       
       Weinberg: Ein wunderbares Leben. Wir sind aufgenommen worden wie Menschen.
       Die Freiheitsstatue im Hafen von New York war für mich das Symbol dafür:
       Willkommen! In Deutschland dagegen gab es keine Zukunft für einen jüdischen
       Jungen damals. In den USA entdeckte ich das Leben wieder, ich ging ins
       Theater, zu Shows und oder zu Filmvorführungen in die Radio City Music
       Hall. Die Rockettes habe ich mir gern angeschaut, das berühmte
       Tanzensemble. Oder ich sah mir ein Baseballspiel der Brooklyn Dodgers an.
       
       taz: Wo haben Sie gearbeitet? 
       
       Weinberg: Ich habe einen eigenen Fleischerladen auf dem Broadway
       aufgemacht, gemeinsam mit einem deutschen Freund. Friedel und ich lebten in
       Manhattan. Wir führten ein recht normales Leben, kamen gut über die Runden
       und sind einmal im Jahr zwei Wochen in den Urlaub gefahren.
       
       taz: Sie haben über all die Jahre mit Ihrer Schwester zusammengewohnt.
       Hatte dieses Lebensmodell auch mit dem Holocaust zu tun? 
       
       Weinberg: Ich glaube, ja. Auschwitz zu erleben, das gibt dir einen Schlag
       mit dem Holzhammer mit, das kannst du nie ganz vergessen. Die gemeinsame
       Erfahrung hat uns geprägt. Einmal hat Friedel sich verliebt, doch der Mann
       wollte, dass sie mit ihm nach Kalifornien geht. Das wollte sie nicht, ich
       hätte sie natürlich nicht aufgehalten. Ob sie mich nicht allein lassen
       wollte? Ich weiß es nicht, ich habe sie nie gefragt.
       
       taz: Sie selbst hatten auch nie längere Liebesbeziehungen? 
       
       Weinberg: Nein. Nur am Wochenende. (lacht)
       
       taz: Haben Sie in den USA Antisemitismus erlebt? 
       
       Weinberg: Nicht direkt. Man hat vielleicht mal in der Zeitung von Hass und
       Gewalt gegenüber Juden gelesen. Mein Viertel in Manhattan war sehr
       gemischt, dort haben Italiener, Griechen, Deutsche und jüdische Deutsche
       wie ich friedlich neben- und miteinander gelebt.
       
       Zwischendurch schaut Albrecht Weinberg nach einer Pflanze auf dem
       Balkongeländer, er hat dort einen Dattelkern eingepflanzt und möchte
       sehen, wie sie gedeiht. Gerda Dänekas hat Tee und selbst gebackene
       Plätzchen serviert. „Trinkst du auch genug, Mr. Weinberg?“, fragt sie. Der
       nippt daraufhin am Tee. 
       
       taz: Ihre Schwester, so erzählen Sie es in Ihrer Biografie, hat die
       Häftlingsnummer auf ihrem Arm oft überschminkt. 
       
       Weinberg: Ja, meine Schwester störte das, wenn die Menschen im Sommer auf
       ihren Arm schauten. Sie hat Make-up darüber gemacht. Viele haben sich die
       Nummer rausschneiden lassen. Das wollten wir nie. Es war ja ein Teil von
       uns.
       
       taz: Wurden Sie oft angesprochen? 
       
       Weinberg: Ja. Ich habe einen Witz daraus gemacht. Wenn jemand nach der
       Tätowierung gefragt hat, habe ich oft geantwortet: „Ich habe meine
       Telefonnummer auf den Arm geschrieben, weil ich zu blöd bin, mir sie zu
       merken.“
       
       taz: Sie haben 2014 Auschwitz besucht. Wie war das? 
       
       Weinberg: Gerda und ich sind damals mit einer Gruppe aus meinem Heimatdorf
       dorthin gefahren. Furchtbare Erinnerungen kamen dort hoch. Wir gingen zum
       Krematorium, dort stand eine Gruppe religiöser Juden mit einer kleinen
       Thora. Jemand aus unserer Gruppe erzählte ihnen, dass ich ein Überlebender
       sei, dessen Eltern hier ermordet wurden. Sie haben mir die Thora in den Arm
       gelegt, und wir haben das Kaddisch-Gebet gesprochen, das Juden in der Regel
       bei Beerdigungen beten.
       
       taz: Sind Sie gläubig? 
       
       Weinberg: Nein. Seitdem ich im KZ war, nicht mehr. Ich glaube nicht, dass
       da oben ein protestantischer oder ein katholischer oder ein jüdischer oder
       ein muslimischer Gott ist. Wenn da einer gewesen wäre, dann wäre Auschwitz
       nicht gewesen, meiner Meinung nach. Ein Mensch sollte menschlich sein – das
       ist jetzt mein Glaube.
       
       taz: Aber Sie führen noch religiöse Rituale durch, haben Sie in Ihrer
       Biografie beschrieben. 
       
       Weinberg: Ja.Zum jüdischen Neujahrsfest Rosch ha-Schana faste ich 24
       Stunden lang. Und zu Jom Kippur zünde ich sechs Kerzen an. Für die 6
       Millionen Juden, die im Nationalsozialismus ermordet wurden.
       
       taz: Sie sind immer noch in Schulen zu Gast, um von Ihren Erfahrungen zu
       berichten. Was sagen Sie den Schüler:innen? 
       
       Weinberg: Ihr müsst den Mund aufmachen, sage ich ihnen. Oder dass sie in
       Politik gehen und ihre Zukunft selbst aufbauen sollen.
       
       taz: Sie haben Anfang des Jahres Ihr Bundesverdienstkreuz zurückgegeben,
       nachdem der spätere Bundeskanzler Friedrich Merz mit der AfD einen Antrag
       zur Zurückweisung an deutschen Grenzen durchgebracht hat. Warum? 
       
       Weinberg: Ich war acht Jahre alt, als Paul von [5][Hindenburg in Potsdam
       Hitler die Hand gereicht hat]. Kaum im Amt, hat Hitler einen Boykott
       jüdischer Geschäfte, Ärzte und Rechtsanwälte eingeführt. Als ich im
       Fernsehen sah, dass die CDU gemeinsame Sache mit der AfD machte, fühlte ich
       mich an diesen Moment erinnert. Wenn diese Partei in der deutschen Politik
       an Akzeptanz gewinnt, kann ich das Bundesverdienstkreuz nicht mehr an
       meinem Sakko tragen, sonst müsste ich gebeugt herumlaufen.
       
       taz: Wie viel Sorge macht Ihnen der Antisemitismus in Deutschland derzeit? 
       
       Weinberg: Vergangenes Jahr wurde der jüdische Friedhof in Leer geschändet.
       Hakenkreuze wurden in den Boden geritzt, zwei Grabsteine wurden beschädigt.
       Das war nicht das erste Mal. Kurz darauf wurde der Gedenkstein für jüdische
       Opfer in Rhauderfehn beschädigt. Stolpersteine werden zerkratzt oder
       beschmiert. Wie sollte ich mir da keine Sorgen machen?
       
       20 Aug 2025
       
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