# taz.de -- Krieg in der Ostukraine: Zwischen Beschuss und Blackouts
       
       > Die letzte große ukrainische Stadt im Donbass liegt nur 15 Kilometer von
       > der Front entfernt. Trotz Angriffen und Blackouts läuft das Leben weiter.
       
 (IMG) Bild: Anti-Drohnen-Netze über einer Landstraße von und nach Kramatorsk
       
       Die Einfahrt nach Kramatorsk verengt sich Anfang Dezember zu einem einzigen
       Korridor. Über der Straße hängen schwere Netze, die sich im Wind kaum
       bewegen, als seien sie selbst erschöpft. Unter den Netzen hindurch dauert
       die Fahrt fast eine Stunde – Schritt für Schritt in Richtung einer Stadt,
       die sich schon lange wie Front anfühlt.
       
       Vor wenigen Wochen hielten hier noch Züge. Jetzt ist die Strecke still. Die
       Front schiebt sich jeden Tag ein Stück weiter nach Westen, Städte fallen
       wie ausgebrannte Haltestellen entlang derselben Linie: Pokrowsk fast
       besetzt, um Kostjantyniwka Gefechte. Von Kramatorsk bis zur Front sind es
       fünfzehn Kilometer, eine Distanz, die Drohnen wie beiläufig überfliegen und
       die für gelenkte Flugbomben kaum mehr als ein Atemzug ist.
       
       Bahnhöfe und Eisenbahnlinien sind kaum noch zu schützen, sie liegen offen
       [1][im Zielbereich russischer Drohnen und Flugbomben]. Deswegen verkehren
       die Züge jetzt nur noch bis zur Grenze des Gebietes Charkiw und nicht
       weiter bis Kramatorsk. Und von der Grenze zwischen den Gebieten Charkiw und
       Donezk an beginnen die langen, mit Netzen überspannten Straßen – die
       einzigen Verkehrsadern, die die Frontstädte mit dem Hinterland verbinden.
       Dort entlang verlaufen die Evakuierungsrouten, dort verkehren Linienbusse,
       Hilfstransporte und der restliche zivile Verkehr.
       
       Die Netze, dieselben Anti-Drohnen-Netze wie auf der Zufahrtsstraße,
       umhüllen Bushaltestellen und die kleinen Verkaufskioske am Straßenrand, an
       denen Gemüse und Milch verkauft werden. „In den Netzen verfangen sich
       Vögel. Neulich haben Soldaten sogar einen Hund daraus befreit. Wir alle
       sitzen hier wie in einer Falle“, sagt die Rentnerin Vira, die in der
       Umgebung von Kramatorsk Äpfel und Kartoffeln verkauft.
       
       Vira sieht sorgenvoll einem harten Winter entgegen. Der Beschuss ist
       intensiver geworden, es gibt immer mehr Strom-Notabschaltungen. Auf der
       Weltbühne werden Verhandlungen geführt, bei denen die Gebiete des Donbass
       nur Tauschobjekte sind. Aber Vira liest keine Nachrichten aus Washington.
       Sie hört die Durchsagen endloser Luftalarme in ihrer Stadt, wieder und
       wieder. „Wieder fliegen Drohnen nach Kramatorsk. Gestern Nacht sind zwei
       Männer hier in der Nähe ums Leben gekommen, in einem Wohngebiet. Wir müssen
       uns verstecken“, sagt sie und packt eilig ihre Waren zusammen.
       
       ## Blütezeit vor dem Untergang
       
       Etwa 30 Prozent des Gebietes Donezk mit einer Bevölkerung von 202.000
       Einwohnern sind noch nicht besetzt. Die größte Stadt in der Ostukraine –
       Kramatorsk, wo noch etwa 80.000 Menschen leben – ist eine Stadt der
       Kontraste. Einerseits sind hier die Hälfte aller Hochhäuser zerstört.
       Andererseits blühen gerade die kleinen und mittleren Unternehmen in der
       Stadt auf. Cafés, kleine Geschäfte und Blumenläden vernageln nach einem
       Angriff ihre Fenster mit Sperrholzplatten, dann arbeiten sie weiter.
       
       „Vielleicht klingt das seltsam. Aber Kramatorsk erlebt gerade einen
       wirtschaftlichen Aufschwung, die Stadt lebt ihr bestes Leben“, sagt Serhij
       Hnezdilov. Kramatorsk und Slowjansk seien jetzt der größte städtische
       Ballungsraum des Gebietes Donezk, sowohl für Soldaten als auch für
       Zivilisten, und diese Stadt sei so etwas wie ein Zentrum geworden – für
       alle Bewohner des Ostens, für Vertriebene aus Kostjantyniwka, Bachmut,
       Mariupol und Pokrowsk, die hier Schutz suchten und Arbeit fänden, für alle,
       die wollten, dass der Osten „unser“ bleibe und die Halden „unsere“ blieben.
       
       Diese Menschen eröffneten hier Geschäfte, böten selbst unter Beschuss einen
       ausgezeichneten Service an und organisierten sogar Kulturabende. Die Stadt
       liege fünfzehn Kilometer von der Front entfernt, aber gleichzeitig könne
       man hier ein skandinavisches Frühstück bestellen und einen Café Latte mit
       laktosefreier Milch trinken, sagt der Soldat der 56. separaten Mariupoler
       Motoreninfanteriebrigade der ukrainischen Streitkräfte, der seit mehreren
       Jahren in Kramatorsk stationiert ist und beobachtet, wie sich die Stadt vor
       seinen Augen verändert.
       
       Serhij, der in Awdijiwka und Bachmut gekämpft hat, hat gesehen, wie eine
       ostukrainische Stadt nach der anderen zerstört wurde. Und eine gewisse
       traurige Tendenz bemerkt er auch schon für Kramatorsk. „Bevor sie sterben,
       erleben die Städte im Osten noch mal eine richtige Blütezeit. Dort
       konzentriert sich quasi das Leben, es kommen viele Soldaten, viele
       Freiwillige, neue Unternehmen werden gegründet. Aber dann rückt die Front
       näher und die Russen beginnen, die Stadt zu zerbomben. Auch Kramatorsk
       ändert sich, die Stadt wird bereits mit Drohnen beschossen. Aber ich denke,
       bis zum Frühjahr wird es hier noch o. k. sein. Es dauert noch bis zur
       Endphase“, sagt Serhij – und betrachtet Kramatorsk als seine zweite
       Heimatstadt, als Stadt, in die er sich „gezwungenermaßen durch den Krieg
       verliebt hat“ und für die er sich ein milderes Schicksal erhofft.
       
       Aber nicht alle glauben daran, dass die Stadt diesen Winter unbeschadet
       überstehen wird. Im Fan-Shop des Donezker Fußballvereins Schachtar ist
       heute viel los, die Tür geht ständig auf und zu. Militärkleidung hängt
       neben patriotischen Souvenirs mit Bildern von Kohlehalden und anderen
       Symbolen des Donbass, als würde hier ein Stück Heimat verkauft. Soldaten
       schieben sich zwischen den Regalen nach vorne; einer fragt, ob es auf die
       gekaufte Kleidung eine einjährige Garantie gebe. „Wer kann heutzutage
       überhaupt noch Garantien für irgendetwas geben?“, erwidert die Verkäuferin
       Lisa traurig. Sie steht seit der Eröffnung hier hinter der Kasse und sagt
       es, als hätte sie die Frage schon oft gehört.
       
       „Vor einem halben Jahr haben wir den Laden hier aufgemacht“, sagt Lisa.
       Jetzt bereiteten sie sich bereits auf den Umzug nach Kyjiw vor: Der
       Beschuss werde stärker, der Zug aus Kyjiw fahre nicht mehr bis Kramatorsk
       und alles sei beängstigender geworden. Sie habe schon früher über eine
       Evakuierung nachgedacht, ihre Familie wolle, dass sie nach Kyjiw komme. Sie
       sei geblieben, weil der Laden hier sei, aber ihr Freund und sie dächten nun
       darüber nach, im neuen Jahr wegzugehen. Sie hätten erlebt, wie die Städte
       um sie herum besetzt worden seien; der Gedanke, dass sich deren Schicksal
       hier wiederholen könnte, mache ihr Angst. Während sie spricht, legt sie
       langsam die T-Shirts mit dem Aufdruck „Der Donbass wird frei sein“
       zusammen, als müsse sie sich von jedem Stück verabschieden.
       
       Ein paar Straßen vom Laden entfernt räumen Arbeiter die Trümmer eines
       Wohnhauses weg, das von einer russischen Drohne getroffen wurde. In allen
       fünf Etagen sind die Fenster kaputt, die Wände voller Granatsplitter.
       Zwischen Staub und zersplittertem Glas steht eine Tür, vernagelt mit
       Sperrholz – und dahinter arbeitet trotzdem eine Tierklinik weiter.
       
       Der 70-jährige Rentner Oleksandr, der mit einer grauen britischen Katze zum
       Tierarzt gekommen ist, betrachtet die jüngsten Zerstörungen in der
       Umgebung. Der Innenhof seines Hauses sei gestern getroffen worden, erzählt
       er, auf einer Seite seien alle Fenster kaputt. Auch hier habe es
       eingeschlagen. Als die Russen sich Kostjantyniwka näherten, sei es ständig
       laut gewesen – ein Luftalarm nach dem anderen, den man irgendwann kaum noch
       wahrnehme. Er rechne mit einem harten Winter, weil der Strom so oft
       ausfalle, und er wisse nicht, wohin man überhaupt gehen solle. „Wir können
       nur hoffen, dass sie uns bei diesen Verhandlungen nicht an Putin
       ausliefern“, sagt Oleksandr und beruhigt die Katze, die kläglich in seinen
       Armen miaut. „Alles wird gut“, sagt er und streichelt das graue Fell des
       Tieres – doch es klingt nicht so, als glaube er selbst daran.
       
       Anders als in den meisten ukrainischen Städten gibt es in Kramatorsk keine
       Pläne für Stromabschaltungen. Der Strom fällt trotzdem häufig aus – weil
       die Energieinfrastruktur immer wieder unter Beschuss gerät, Leitungen
       reißen und ganze Straßenzüge plötzlich im Dunkeln stehen. Statt
       kontrollierter Abschaltungen führen hier Einschläge zu Blackouts.
       
       ## Rote Linien
       
       Der Bahnhof steht jetzt leer. Statt der Schnell- und Nachtzüge fahren hier
       jetzt die Evakuierungsbusse ab. Täglich bringt allein die gemeinnützige
       Organisation „[2][Proliska]“ etwa 100 Menschen aus Kramatorsk und den
       umliegenden Dörfern zum nächsten Bahnhof im angrenzenden Gebiet Charkiw.
       Einige verlassen die Stadt auf eigene Faust und packen ihre Habseligkeiten,
       Fahrräder und Kinderwagen in private Fahrzeuge. Der Chef von „Proliska“,
       Jewhen Kaplin, ist jedoch der Meinung, dass die Evakuierungswelle
       Kramatorsk noch gar nicht erfasst hat.
       
       „Die Leute gehen nach und nach. Zuerst diejenigen, die über die
       entsprechenden Mittel verfügen. Dann folgen die, die einen Ort haben, an
       den sie gehen können. Und erst, wenn die roten Linien überschritten werden,
       verlassen auch alle anderen die Stadt“, sagt Jewhen, der seit Beginn des
       Krieges im Osten der Ukraine Menschen aus den Brennpunkten rettet.
       
       [3][Kürzlich erst geriet das gepanzerte Rettungsfahrzeug seiner
       Organisation während der Evakuierung] von Menschen aus Druschkiwka, einer
       Nachbarstadt von Kramatorsk, unter russischen Beschuss. Als „rote Linien“
       bezeichnen die Freiwilligen den massierten Beschuss und den damit
       verbundenen Ausfall der kommunalen Versorgung – den Moment, in dem eine
       Stadt ohne Strom, Wasser und Heizung bleibt.
       
       „Wenn die Stadt mit Bomben angegriffen wird und es keinen Strom, kein
       Wasser und keine Heizung mehr gibt, wird es zu einer Massenflucht kommen“,
       meint Jewhen. Das habe man schon in Dutzenden anderer Städte im Osten
       gesehen. Wenn die Temperatur auf minus fünfzehn Grad falle und die Russen
       Kramatorsk komplett von der Versorgung abschalteten, könnten die Leute
       nicht bleiben. Sie verstünden, dass Kramatorsk für Putin ein politisches
       Ziel sei, und wenn Russland beschließe, die Stadt zu erobern, würden sie
       als Erstes die einheimische Bevölkerung vertreiben. Dass russische
       FPV-Drohnen in die Stadt eingeflogen seien, zeige ihm, dass diese
       beunruhigende Entwicklung bereits begonnen habe.
       
       In diesem Herbst versuchten die russischen Streitkräfte zum Beispiel, mit
       Drohnen die blau-gelbe Fahne zu zerstören, die über Kramatorsk weht. Sie
       steht auf einem achtzig Meter hohen Fahnenmast im Stadtpark von Kramatorsk
       – dem größten im gesamten Gebiet Donezk – und wurde noch vor der Invasion
       errichtet. Von überall in der Stadt kann man diese Fahne sehen.
       
       „Ich denke, wir sollten diese Flagge herunterholen“, unterbricht Soldat
       Serhij Hnezdilow das Gespräch mit Jewhen. „Es wird sonst sehr schmerzhaft,
       wenn so ein symbolträchtiger Ort Schaden nimmt.“ Dann steht er auf, er muss
       zurück zu seiner Kampfposition. Aber er hofft, dass er wieder Kaffee in
       seinem Lieblingscafé trinken und von dort die blau-gelbe Flagge über einem
       ukrainischen Kramatorsk sehen kann.
       
       Aus dem Ukrainischen: Gaby Coldewey
       
       9 Dec 2025
       
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