# taz.de -- Krieg im Gazastreifen: Die unerträgliche Bequemlichkeit der einseitigen Solidarität
> Der Protest gegen das israelische Vorgehen im Gazastreifen wird in
> Deutschland immer lauter. Gleichzeitig nehmen antisemitische Übergriffe
> massiv zu.
(IMG) Bild: Demonstration in Berlin am 27.09.2025 mit dem Titel: „All Eyes on Gaza“ – und Israel?
Am 27. September, knapp zwei Jahre nach dem Terroranschlag der Hamas vom
7. Oktober 2023, demonstrierten in Berlin Zehntausende gegen das Sterben
in Gaza. Es war [1][eine laute, sichtbare, wütende Demonstration]. Und eine
nachvollziehbare: Seit zwei Jahren sterben palästinensische Kinder, Frauen,
Männer – durch Bomben, Hunger, Krankheit. Die Demonstrierenden forderten zu
Recht Empathie für dieses Leid ein.
Was fehlte, war die Empathie für die Opfer des Terrorüberfalls. Am Morgen
des [2][7. Oktober 2023] drangen islamistische Terroristen in gut 20 Orte
im Süden Israels ein, darunter die Kibbuzim Be’eri und Kfar Aza. Innerhalb
weniger Stunden wurden mehr als 1.200 Menschen getötet. Männer, Frauen,
Kinder, ganze Familien. Rund 250 Menschen wurden [3][in den Gazastreifen
verschleppt], viele von ihnen sind bis heute nicht zurückgekehrt. Es war
der größte Massenmord an Juden und Jüdinnen seit Ende des Zweiten
Weltkriegs.
In Deutschland, wo der größte antisemitische Massenmord der Geschichte
stattfand, gab es daraufhin keine mit den Opfern und Geiseln solidarische
Massendemonstration in vergleichbarem Umfang. Schon ab dem 8. Oktober
begannen die Erklärungen, Kontextualisierungen und Relativierungen. Die
Demonstration vom 27. September zeigte nur Solidarität mit den Menschen in
Gaza (alle Flaggen außer der palästinensischen waren verboten). Sie machte
eine Asymmetrie deutlich, die inzwischen den Alltag prägt.
Auf vielen Straßen flattern Palästinensertücher, das Modeaccessoire dieses
Sommers, während Juden berichten, dass [4][sie nicht mehr ihre Kippa in der
Öffentlichkeit tragen]. In Deutschland stieg die Zahl antisemitischer
Vorfälle um 77 Prozent – durchschnittlich 24 pro Tag. Antisemitismus lässt
sich längst nicht mehr einer Gruppe zuordnen – er ist wieder deutsche
Tradition geworden. Man trifft auf ihn auf Demos, wo Parolen gerufen
werden, die nach Auslöschung klingen und die natürlich auch andernorts zu
hören sind.
Wo das hinführen kann, zeigt nicht zuletzt der [5][Anschlag in Manchester]
mit zwei Todesopfern. Die [6][Soziologin Eva Illouz] hat diesem Mechanismus
einen Namen gegeben: „selektive Empathie“. Die entscheidet, wessen Leid
betrauert wird und wessen nicht. Am Tag nach dem 7. Oktober zeigte sich,
dass für viele das jüdische Leid nicht als menschliches, sondern nur als
politisches Leid zählt – erklärbar, verrechenbar, sekundär. Illouz nennt
das „virtuosen Antisemitismus“: die Überzeugung, moralisch zu handeln,
während man in Wahrheit Juden entrechtet.
## Zweifel an Fakten
Israel ist der einzige Schutzraum des jüdischen Volks. In den vergangenen
Jahren wurde das Land zu einer Projektionsfläche gemacht, die alles
Negative verkörpert: Kolonialismus, Kapitalismus, Rassismus. Und in dieser
Projektion kann kein Jude einfach nur Opfer sein. Das erklärt vielleicht
auch, warum nach dem 7. Oktober selbst über Fakten gestritten wurde, etwa
über die Zahl der Opfer oder über die bloße Existenz der Geiseln. Es war,
als würde man nicht mehr dieselbe Realität teilen.
Wer die Kategorien der Dekolonialismusdebatte so verinnerlicht hat, passt
die Fakten an seine Narrative an. Plötzlich zählt nicht mehr, was passiert
ist, sondern, was in ein Schema passt. Natürlich kann man es niemandem
verübeln, zerrissen zu sein beim Blick auf Israel und Gaza. [7][Der Krieg]
des israelischen Premierministers Benjamin Netanjahu und seiner
rechtsradikalen Regierung ist brutal, Geiseln werden in Tunneln gefangen
gehalten, palästinensische Kinder sterben, das Ziel der Hamas ist die
Vernichtung Israels.
Diese Gleichzeitigkeit auszuhalten und anzuerkennen, wäre die eigentliche
Aufgabe. Doch genau hier versagt gerade die Debatte. Sie flieht in die
Bequemlichkeit der Eindeutigkeit. Und die macht blind für die
Gleichzeitigkeit zweier Leiden. Empathie, so scheint es, duldet kein
Nebeneinander. Deutschland ist im Gedenken stark, aber in der Empathie
schwach. Erinnerung funktioniert, solange sie ritualisiert ist. Wenn sie
lebendig wird, wenn sie das Leid der Juden heute ernst nehmen müsste,
bricht sie zusammen.
Die Lehre des 7. Oktober lautet: Erinnerungskultur verliert ihre moralische
Autorität, wenn sie sich nicht auf die Gegenwart einlässt. Humanismus
verliert seine Substanz, wenn er selektiv wird. Universalismus verliert
seine Glaubwürdigkeit, wenn er aufhört, universell zu sein. „Nie wieder“
ist wertlos, wenn es nur für die Vergangenheit gilt. Es muss auch für die
Gegenwart gelten; für Auschwitz und Kfar Aza, für Rafah und Sderot, für
jüdische Kinder im Kibbuz wie für palästinensische Kinder unter Trümmern.
Wer das nicht aushält, verrät die Idee des Universalismus selbst – und
damit die Grundlage jeder Moral.
4 Oct 2025
## LINKS
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(DIR) [6] https://www.sueddeutsche.de/kultur/eva-illouz-gastbeitrag-antizionismus-antisemitismus-li.3278346?reduced=true
(DIR) [7] /Gaza-Tagebuch-/!6116189
## AUTOREN
(DIR) Matthias Kalle
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