# taz.de -- Ausstellung „Hauptstraße Deutschland“: Gebautes Versprechen
       
       > Fast 6.500-mal gibt es in Deutschland die „Hauptstraße“. Einige Hundert
       > hat der Hamburger Fotograf André Luetzen besucht. Was erzählen sie über
       > uns?
       
 (IMG) Bild: Hauptstraße, aber wovon genau? Kreuzung in Zörbig-Löbersdorf, Sachsen-Anhalt
       
       Es wäre leicht, sich hier in Sicherheit zu wiegen. Sich zu bescheinigen,
       wie viel besser doch das eigene Urteil ist, auch und gerade in Fragen der
       Ästhetik. Nein, so würde man doch nie leben wollen, es gar nicht können,
       wie es diese Leute da tun, oder? Wobei: Leute, ausgerechnet, sind rar auf
       den Bildern, die André Luetzen derzeit im Hamburg-Altonaer Museum zeigt.
       „Hauptstraße Deutschland“ ist die Ausstellung überschrieben.
       
       Das erklärt den Besucher:innen gleich beim Reinkommen ein Wandtext:
       „Hauptstraße ist der in Deutschland am häufigsten vergebene Straßenname.“
       Knapp sechseinhalbtausendmal wurde er vergeben, laut aktueller amtlicher
       Auskunft heißen genau 6.451 Straßen so.
       
       Sie zu fotografieren, das könnte also heißen, dieses Land an sich in den
       Blick nehmen, oder? In seiner ganzen, siehe oben, belächelnswerten
       Spießigkeit, dem [1][Provinziellen], dem Rückwärtsgewandten, schlicht:
       seiner Hässlichkeit? Ja – aber.
       
       ## Ambitioniert gehaltene Vorgärten
       
       Luetzen hat nicht alle Hauptstraßen besucht, aber mehrere Hundert in allen
       Bundesländern. Davon wird nun eine Auswahl gezeigt, 61 Bilder sind es,
       Reproduktionen in unterschiedlichen Größen, weil das die Betrachtenden dazu
       bringt auch mal näher ran zu gehen oder eben weiter weg. Maximal unmuseal
       gehängt sind diese Ansichten: keine Rahmen drumherum, kein Glas davor, also
       so wenig Distanz Stiftendes, wie möglich. Auf Papier, mit Stecknadeln
       angebracht, präsentiert Luetzen, was eben gerade kein bloßes Schaulaufen
       des schlechten Geschmacks anderer ist.
       
       Wir sehen einerseits erkennbar ambitioniert gestaltete Vorgärten, aber auch
       ihr Gegenteil: [2][Postmoderne Un-Orte] wie den schmalen, nicht vom Regen
       erreichten Streifen Gehweg, auf dem eine Bäckereifiliale ein paar
       Sitzmöbel aufgestellt hat; weder jener noch diese laden nun, wie heißt das
       so schrecklich, zum Verweilen ein.
       
       Manche Bilder sind erkennbar wegen kompositorischer Qualitäten ausgesucht,
       denn damit arbeitet der 62-jährige Luetzen gern: unterschiedliche Texturen
       in Kontrast zu setzen, und das geometrisch interessant. In Aschaffenburg
       musste er einen unverputzten Backstein Altbau und davor ein im weiteren
       Sinne uringelb verputztes neueres Gebäude wahrscheinlich gar nicht
       inszenieren, das hat [3][der Bauherr] schon selbst besorgt.
       
       ## Anstoß zum Fantasieren
       
       Andere Bilder spielen ganz klar mit dem Kuriosen des darauf zu Sehenden,
       laden auch dazu ein, sich Geschichten einfallen zu lassen – was bei einer
       Ausstellungsführung am verregneten Pfingstsonntag passierte: Die
       Besucher:innen wurden animiert, allerkürzest zu fantasieren, was da
       vielleicht zu sehen sei, wer da lebe und wie. Warum also stehen in
       Bergisch-Gladbach Plastikkühe auf dem Dach einer Spielhalle? Warum hat der
       Mannheimer „Traum Imbiss“, der in großen Lettern „Döner Kebap“ ankündigt,
       so viele Schnitzel-Variationen auf der Karte?
       
       In der Hauptstraße [4][im schleswig-holsteinischen Wacken] wiederum würde
       man fast erwarten, dass die Kurzer-Rasen-vor-Rotklinker-Ödnis, na, was
       unterbricht? Richtig: Eines der beiden Fenster ziert eine
       [5][„Motörhead“]-Flagge.
       
       ## Hecken und Jalousien
       
       Die vielleicht zentrale Frage aber wäre: Was verbergen all diese Menschen
       eigentlich hinter ihren Hecken und, immer wieder, heruntergelassenen
       Jalousien? Für Luetzen ist die Hauptstraße nicht zuletzt ein Versprechen:
       Dass dort das Leben geschehe in Dorf, Klein- oder Großstadt, dass sie
       Menschen zusammenführe. Die Hauptstraße als Agora eines häufig auto-, fast
       immer individuell mobilen Zeitalters; als öffentlicher, zugänglicher Raum,
       der Begegnung ermöglicht?
       
       Das tut sie seltener, als man glauben könnte. Manche Hauptstraße scheint
       überhaupt nur die eine Kreuzung mit der anderen zu verbinden (oder
       allenfalls den ähnliche Enttäuschung bereithaltenden Marktplatz mit der
       Bahnhofstraße), längst nicht alle haben überhaupt Anlieger, bei einer ist
       es offenbar einzig ein Plastik-Dinosaurier.
       
       Und so lässt sich aus der kleinen, fixen [6][Deutschlandreise] im Museum
       auch mit sachter Melancholie herauskommen: Weil da, im Bild bewiesen, etwas
       gerade nicht eingelöst wird, und das womöglich sechseinhalbtausend Mal.
       
       12 Jun 2025
       
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