# taz.de -- Ricarda Lang über Strategie der Grünen: „Die Schuldenlast tragen die Falschen“
       
       > Ricarda Lang, Ex-Parteichefin, fordert einen Strategiewechsel. Sie will,
       > dass die Grünen mehr Konflikte wagen und stärker auf soziale Themen
       > setzen.
       
 (IMG) Bild: Ricarda Lang Ende März 2025 im Jakob-Kaiser-Haus: „Die Leute wollen dich kämpfen sehen“
       
       taz: Frau Lang, die Welt wird autoritärer, Deutschland rückt nach rechts.
       Welche Rolle haben jetzt die Grünen, die nur noch eine kleine
       Oppositionskraft im Bundestag sind? 
       
       Ricarda Lang: Die Zeit bis zur Bundestagswahl 2029 wird zur Crunch-Time für
       die Demokratie. Ziel muss es sein, dass demokratische Mehrheiten dann
       überhaupt noch möglich sind. Bisher war der Ansatz: Dafür müssen alle in
       der Mitte zusammenkommen. Rückblickend ist die Union bloß immer weiter nach
       rechts gerückt und wir anderen sind staffelweise gefolgt. Das kann nicht
       die Lösung sein. Für stabile demokratische Mehrheiten braucht es ein
       starkes progressives Lager. Ich möchte, dass meine Partei in dessen Zentrum
       steht – und das Lager vergrößern. Wir können und sollten der starke
       Gegenpol zu einer konservativen Merz-Regierung sein.
       
       taz: Also ist die Zeit von Robert Habecks Strategie, dass die Grünen
       Brücken bauen müssen, jetzt vorbei? 
       
       Lang: Die Strategie war erfolgreich. Sie hat uns viel weiter in die Breite
       der Gesellschaft gebracht. Aber sie funktioniert heute nicht mehr.
       Inzwischen steht auf der anderen Seite der Brücke häufig jemand, der sie
       abfackelt, noch bevor die Baumaßnahmen abgeschlossen sind. Jede Zeit hat
       ihren Ansatz. So falsch es wäre, jetzt selbst Sprengmeister zu werden: Wir
       brauchen ein neues Politikmodell, das sich einerseits um neue Allianzen
       bemüht, aber andererseits viel konfliktfähiger ist.
       
       taz: Welche neuen Allianzen meinen Sie? 
       
       Lang: Nehmen wir mein Herzensthema, die soziale Gerechtigkeit. Die
       unterschiedlichsten Menschen verbindet der Wunsch, von ihrer Arbeit gut
       leben zu können. Niemand will in Notsituationen ins Bodenlose fallen. Jeder
       will gute Kitas für seine Kinder. Hier sind breite Allianzen möglich.
       Interessenkonflikte gibt es aber trotzdem. Die bestehen nur nicht zwischen
       dem Einzelhändler in der Innenstadt und dem [1][Paketboten], sondern
       zwischen ihnen beiden – und einem Konzern wie Amazon, der Tariftreue
       unterläuft, Arbeitnehmerrechte einschränkt und hier keine Steuern zahlen
       will.
       
       Hier muss dann Schluss sein mit der grünen Vermittlerrolle. Mit
       „konfliktfähig“ meine ich also nicht: mit wehenden Fahnen in den
       Kulturkampf oder über jedes Stöckchen springen. Aber wir sollten die
       Konflikte dort austragen, wo sie für die Menschen echte Relevanz haben.
       
       taz: Der Versuch, in Gerechtigkeitsfragen stärker zu werden, ist bei den
       Grünen nicht neu. Sie werden aber weiter als Elitenpartei wahrgenommen.
       Woran scheitert es? 
       
       Lang: Wir haben Themen wie Bezahlbarkeit zuletzt stärker gesetzt als in der
       Vergangenheit, auch im Wahlkampf. Das Bewusstsein der Partei hat sich
       weiterentwickelt.
       
       taz: Bei den Wähler*innen ist das nicht angekommen. 
       
       Lang: Das ist genau der Punkt. Aus meiner Sicht hat das zwei Gründe.
       Erstens: Glaubwürdigkeit. Es reicht nicht, wenn du Gerechtigkeit im
       Wahlkampf auf Plakate schreibst. Die Leute wollen dich ganzjährig dafür
       kämpfen sehen. Nun würde ich sogar sagen, dass wir uns in der Ampel am
       stärksten für sozialen Fortschritt eingesetzt haben – durchaus mit Erfolg.
       Aber es war keine Priorität, das auch mit aller Macht nach außen zu zeigen.
       Und insgesamt hatte diese Regierung nun mal keine gute Verteilungsbilanz.
       Bei den Mieten etwa hat sie nichts auf die Reihe bekommen.
       
       taz: Und der zweite Grund? 
       
       Lang: Zuspitzung. Gerade in Zeiten, in denen die Union – unabhängig vom
       Thema – spätestens nach drei Minuten bei kulturkämpferischen
       migrationspolitischen Parolen angelangt ist, sind wir mit unseren sehr
       abgewogenen Positionen kaum noch durchgedrungen.
       
       taz: Brauchen Sie also ein bisschen Linkspopulismus? 
       
       Lang: Ich würde das nicht als Populismus bezeichnen. Die Krise der
       repräsentativen Demokratie rührt auch daher, dass wir die
       Unmissverständlichkeit vor allem ihren Gegnern überlassen. Die sozialen
       Ungerechtigkeiten sind real nun mal da. Es reicht also oft, zu sagen, was
       ist – und bestehende Interessenkonflikte in aller Klarheit zu benennen.
       
       taz: Welche genau? Nennen Sie mal ein Beispiel. 
       
       Lang: Nehmen wir die [2][jüngste Lockerung der Schuldenbremse und das
       Sondervermögen]. Wir haben da konstruktiv verhandelt, aber hart. Und ich
       finde es richtig, dass endlich Investitionen möglich werden. Aber,
       Interessenkonflikt: Die Schuldenlast tragen die Falschen.
       
       taz: Inwiefern? 
       
       Lang: Tilgung und Zinsen übernimmt der Steuerzahler. Das Steuersystem aber
       ist zutiefst ungerecht. Das Netzwerk Steuergerechtigkeit hat das mal
       berechnet: Der effektive Steuersatz auf das Vermögenseinkommen von
       [3][Susanne Klatten] – BMW-Erbin und reichste Frau in Deutschland – ist von
       grob 60 Prozent in 1996 auf heute rund 30 Prozent gesunken. Durch Ausnahmen
       und Sonderregeln entgehen dem Staat hier Milliarden. Das kannst du
       niemandem mehr erklären, der den Tag lang ackert und die Miete trotzdem
       nicht zahlen kann. Das weiß hoffentlich auch die SPD, die wir daran messen
       werden.
       
       taz: Die Linke wird solche Punkte noch zugespitzter vortragen – und damit
       stärker durchdringen. 
       
       Lang: Ach, es ist genug Platz im progressiven Lager für unterschiedliche
       Rollen. Die Linkspartei kann Menschen erreichen, die nach der starken
       Deklassierung und dem Sozialabbau der letzten Jahrzehnte nicht bereit sind,
       den Grünen zuzuhören. Gleichzeitig gibt es etwa im liberalen Bürgertum
       viele, die uns nahestehen und auch ein Problem mit der
       Vermögensungleichheit haben – sei es aus Überzeugung oder weil sich zum
       Beispiel ein Haus nur noch leisten kann, wer geerbt hat.
       
       taz: Sehen Sie die klassische Armutsbekämpfung, Themen wie Bürgergeld und
       [4][Kindergrundsicherung], also als Aufgabe für die Linke? Im Wahlkampf der
       Grünen spielte der Punkt keine Rolle mehr.
       
       Lang: Armutsbekämpfung bleibt ein zentrales Anliegen. In der Vergangenheit
       aber haben wir andere Aspekte zu oft liegen gelassen – vor allem im
       arbeitspolitischen Bereich. Mitbestimmungsrechte etwa sind gerade in
       Betrieben, die vor grundlegenden Umbrüchen stehen, ein riesengroßes Thema.
       Die ökologische Modernisierung wird nur funktionieren, wenn die Mitarbeiter
       ernst genommen werden und mitreden können. Es braucht Betriebsräte, die
       wirklichen Einfluss haben. Ich möchte als Abgeordnete dazu beitragen, dass
       meine Partei hier viel stärker in die Auseinandersetzung geht.
       
       taz: Ein zentrales Problem der Grünen ist, dass sie die Deutungshoheit über
       sich und ihre Politik verloren haben. 
       
       Lang: Das stimmt. Gerade in den Ampeljahren haben wir Fehler gemacht, die
       es dem politischen Mitbewerber zu leicht gemacht haben, uns in eine
       ideologische Ecke zu stellen. Da standen wir dann und dachten: Oh Gott, wir
       wollen hier niemandem auf die Füße treten. Statt uns herauszukämpfen, haben
       wir uns bisweilen für unsere reine Existenz entschuldigt. Aus dieser
       Verteidigungshaltung müssen wir raus.
       
       taz: Und wie kommen Sie da raus? 
       
       Lang: Da gibt es sicher nicht die eine Antwort. Aber mindestens einen
       Widerspruch müssen wir auflösen. Zuletzt waren es paradoxerweise die
       Reaktionären, die der Disruption das Wort geredet haben. Den progressiven
       Kräften – die ja eigentlich genuin für Veränderung stehen – kam die Aufgabe
       zu, das Bestehende zu verteidigen: die Demokratie, ihre Institutionen, den
       politischen Anstand. Es ist richtig, das zu tun. Bloß: Immer mehr Menschen
       haben das Gefühl, dass diese Demokratie für sie nicht mehr funktioniert.
       
       Ihre primären Sorgen sind materiell, wirtschaftlich, existenziell. Da
       reicht es nicht, für die Wahrung der Demokratie zu sein. Oder gegen die
       Demokratiefeinde. Erst recht nicht, wenn es als moralische Erpressung
       wahrgenommen wird. Progressive müssen den Kampf um die Zukunft wieder
       aufnehmen.
       
       taz: Dafür fehlt es aber an einer konkreten Vision, an einer positiven
       Erzählung. 
       
       Lang: Ja. Rechtsextreme haben eine klare Zukunftserzählung. Eine
       dystopische, aber es ist eine Zukunftserzählung – vom Recht des Stärkeren,
       des Reicheren, des Gnadenloseren. Den progressiven Parteien ist ihr eigenes
       Narrativ abhandengekommen.
       
       taz: Und, haben Sie eine Idee dafür? 
       
       Lang: Ganz ehrlich: Ich würde lügen, wenn ich behaupten würde, die eine
       abschließende Antwort zu haben. Und das will ich nicht.
       
       taz: Und wie kommen die Progressiven zu einer? 
       
       Lang: Das wird ein weiter Weg und ist Aufgabe der nächsten Monate oder
       Jahre. Sonst verlieren wir die Auseinandersetzung um unsere Demokratie.
       Unter anderem müssen wir raus aus dem Krisenmodus, der immer nur auf die
       nächsten Monate schaut. Und gerade in meiner Partei müssen wir uns fragen:
       Wie kommen wir weg von Formelkompromissen, wie gewinnen wir Klarheit
       zurück? Jetzt, wo wir in die Opposition gehen, ist dafür ein guter
       Zeitpunkt. Ich wünsche mir sehr, dass wir uns zutrauen, diese Debatte zu
       führen.
       
       taz: Sie zielen auf das progressive Lager ab. Ist Rot-Rot-Grün für Sie also
       wieder eine Perspektive? 
       
       Lang: Es ist echt nicht die Zeit für Koalitionsdebatten. Aber natürlich
       muss es Ziel sein, wieder progressive Mehrheiten möglich zu machen. Wir
       brauchen Alternativen, die über die Wahl zwischen einer Regierung unter
       Friedrich Merz und einer Regierung von Rechtsextremen hinausgehen.
       
       taz: Aber Sie suchen die Nähe zur [5][Linken]? 
       
       Lang: Es gibt Gesprächskanäle, klar. Demokratinnen und Demokraten sollten
       stets in der Lage sein, miteinander zu arbeiten. Dafür braucht es
       persönliches Vertrauen.
       
       taz: Die alten Plattformen für einen rot-rot-grünen Austausch wie die
       Denkfabrik liegen brach. 
       
       Lang: Dafür gibt es Gründe: Sie waren erschlafft. Man saß da im
       Hinterzimmer in der Pizzeria, klagte sich gegenseitig sein Leid, ging nach
       Hause, passiert ist nichts. Ein neuer progressiver Aufbruch muss aus der
       Zivilgesellschaft heraus getragen werden, entlang von Themen, die
       mobilisieren – bezahlbare Mieten, Bürgerversicherung. Ein neuer Pizza-Kreis
       wird es nicht richten. Pasta auch nicht.
       
       taz: Sie sind vor einem halben Jahr als Parteichefin zurückgetreten. Sind
       Sie froh darüber? Oder haben Sie bei den Verhandlungen über das
       Schuldenpaket gedacht: Da wäre ich jetzt gerne dabei? 
       
       Lang: Beides. Natürlich juckt es mich in den Fingern, wenn ich das Gefühl
       habe, hier passiert gerade etwas Historisches. Das war so, als Merz
       fatalerweise im Bundestag mit der AfD zusammengearbeitet hat, und jetzt
       wieder. Dann bringe ich mich auch ein. Aber der Wahlabend war für mich in
       einer Kneipe in Schwäbisch Gmünd deutlich weniger anstrengend als im
       Fernsehstudio. Ich will weiter Einfluss nehmen, aber dafür brauche ich kein
       Spitzenamt.
       
       taz: Sie haben viel positive Resonanz bekommen, weil Sie seit Ihrem
       Rücktritt viel freier sprechen. Bedauern Sie, dass Sie das vorher nicht
       gemacht haben? Oder geht das überhaupt nur, weil Sie keine Parteichefin
       mehr sind? 
       
       Lang: Das ist die absolute Jackpot-Frage. Mich treibt sie jedenfalls sehr
       um. Dass man in der ersten Reihe nicht offen reden kann, wäre eine zutiefst
       traurige Feststellung über unseren politischen Betrieb. Und wahrscheinlich
       geht mehr, als man denkt. Ich habe den Rücktritt nicht einen Tag bereut,
       aber ich hätte gern so einen Zeitumkehrer wie bei Harry Potter. Dann könnte
       ich mal versuchen, so aufzutreten, wie ich es jetzt tue. Vielleicht würde
       sich der ein oder andere Journalist darüber ärgern. Aber vermutlich würde
       man die Bürgerinnen und Bürger ganz anders erreichen.
       
       taz: Aber die Journalisten haben sich doch mehr über Ihre Pressestelle
       geärgert, die Ihre mitunter glatten Aussagen noch weiter geglättet hat. 
       
       Lang: Das mag sein. Aber offener und klarer zu sprechen, heißt auch, mehr
       Fehler zu machen. Einzelne Sätze werden immer häufiger und ganz bewusst aus
       dem Kontext gerissen. Dann wirkt die übliche Mediendynamik: Empörung
       klickt, Aufregung verkauft sich. Mit der Zeit wird man automatisch
       vorsichtiger. Wir stecken da gemeinsam in einem Teufelskreis, der unserer
       Demokratie nicht gut tut.
       
       taz: Irgendwann werden Sie doch wieder in die erste Reihe kommen und es
       ausprobieren können? 
       
       Lang: Sollte es so kommen, wird es die taz natürlich als erstes erfahren.
       
       taz: Nach außen wirkt es so, als würde es Ihnen heute viel besser gehen.
       Sie sind mit Ihrem Partner zusammen gezogen, haben geheiratet und viel an
       Gewicht verloren. Und Sie kommunizieren all das. 
       
       Lang: Glauben Sie mir: Es ist unfassbar viel wert, zum Beispiel an
       Weihnachten bei der Familie zu sein, statt in Videokonferenzen zu stecken,
       weil Christian Lindner wieder irgendeine Forderung rausgehauen hat. Ich war
       außerdem sehr jung, als ich Parteivorsitzende wurde. Ich bezweifle, dass es
       so gut gewesen wäre, von 28 an dauerhaft in Spitzenämtern zu sein – und
       noch weniger Zeit für Beziehungen, Familie und all das gehabt zu haben als
       ohnehin schon. Ich genieße es, dass diese neue Phase noch in mein Leben
       getreten ist. Mir geht es gut.
       
       28 Mar 2025
       
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