# taz.de -- Die Linke und der Nahost-Konflikt: Nun sag, wie hältst du es mit Gaza?
       
       > In Berlin-Neukölln lebt die größte palästinensische Diaspora Europas.
       > Linke Parteien werben dort um eine Klientel, die sich politisch heimatlos
       > fühlt.
       
 (IMG) Bild: Nach wenigen Minuten beim Thema Waffenlieferungen: Hakan Demir (SPD) unterwegs in seinem Wahlkreis in Nord-Neukölln
       
       Es dauert wenige Minuten, bis der alte Mann zum Thema kommt: „Deutschland
       liefert immer weiter Waffen an Israel“, bricht es aus ihm heraus. „So“,
       sagt Hakan Demir, als habe er es geahnt, dass dieser Satz jetzt kommen
       würde. Der SPD-Politiker zieht im Haustürwahlkampf durch Berlin-Neukölln,
       vor ein paar Minuten hat er an die Tür des Mannes geklopft. Was als
       Gespräch über einen zu teuren Rundfunkbeitrag und die Unzuverlässigkeit der
       Deutschen Bahn begann, hat sich innerhalb weniger Minuten zu einer
       Diskussion über den Krieg in Gaza entwickelt.
       
       Das Gespräch findet statt wenige Tage bevor [1][ein vorläufiger
       Waffenstillstand] zwischen Israel und Hamas in Kraft tritt. Doch die
       Kriegsruhe in Gaza ist eine fragile, dass der Krieg nach einer ersten
       sechswöchigen Phase des Geiselaustauschs und Truppenrückzugs wieder
       aufflammen könnte, ist möglich. Eine wirkliche politische Lösung für die
       Palästinenserfrage ist nicht in Sicht.
       
       Die Diskussion um den Nahostkonflikt verdichtet sich in Berlin-Neukölln wie
       an kaum einem anderen Ort in Deutschland. Mehr als 330.000 Menschen wohnen
       in dem Bezirk im Süden der Hauptstadt. Fast jeder Zweite hier hat eine
       Migrationsgeschichte, auch die größte palästinensische Diaspora Europas
       lebt in dem Stadtteil. Viele Menschen in Neukölln haben Angehörige in den
       palästinensischen Gebieten, gerade für junge Menschen ist die Lage in
       Nahost oft der erste explizite Berührungspunkt mit Politik.
       
       Seit dem terroristischen Angriff der Hamas auf Israel und dem darauf
       folgenden erbarmungslosen Krieg in Gaza wird bundesweit auch immer wieder
       über Neukölln berichtet. Kurz nach dem Hamas-Angriff verteilten mutmaßliche
       Islamist*innen hier Baklava und feierten den Überfall am 7. Oktober
       2023 als „palästinensischen Widerstand“.
       
       Eine massive Repressionswelle folgt: Palästina-solidarische Proteste werden
       in Neukölln damals teilweise pauschal untersagt, an Schulen kann das Tragen
       von Pali-Tüchern verboten werden. Die Polizei geht massiv gegen
       Demonstrierende vor, es kommt zu brutalen Festnahmen und Gewalt. Menschen,
       die auf Demos ihre Sorge über den Krieg in Gaza ausdrücken wollen, trauen
       sich nicht auf die Straße.
       
       Andere fordern auf Demos eine „Befreiung Palästinas vom Jordan bis zum
       Mittelmeer“ oder heroisieren die Hamas, ohne dass es die restlichen
       Protestierenden zu stören scheint. Juden und Jüdinnen fühlen sich massiv
       bedroht.
       
       Hakan Demir erinnert sich an diese Tage in Neukölln. „Ich habe mir auch
       überlegt, was ich machen kann“, erzählt er. Der SPD-Politiker startete dann
       eine Initiative, die Imam Mohamed Taha Sabri von der palästinensisch
       geprägten Dar-as-Salam-Moschee mit dem orthodoxen Rabbiner Jeremy Borowitz,
       der ebenfalls in Neukölln lebt, zusammenbringt. Heute sind die beiden
       Geistlichen befreundet und schlendern regelmäßig zusammen durch den
       Stadtteil. „Die sind zusammen mit Borowitz’ Kinderwagen unterwegs“, erzählt
       Demir und lacht.
       
       Wie stolz Demir auf diese Verbindung ist, zeigt sich an dem Flyer, den er
       im Haustürwahlkampf verteilt: Gleich im ersten Absatz berichtet er da von
       dem Rabbi und dem Imam. Miteinander im Gespräch bleiben, um so zumindest im
       Lokalen den Hass einzudämmen, so lässt sich die Haltung des SPD-Kandidaten
       wohl am besten beschreiben.
       
       Bei dem alten Mann, an dessen Tür Demir geklopft hat, kommt er damit gut
       an. Der Mann macht einen Schritt in das Treppenhaus und lehnt die
       Wohnungstüre hinter sich an, damit die Heizluft nicht aus der Wohnung
       weicht, wie er sagt. Dann ringt er einen Moment nach Worten und legt beide
       Hände aufs Herz, als würde er dort etwas verwahren. „Meine Nachbarn, die
       über und unter mir wohnen, sind Juden“, sagt er. „Es geht doch darum,
       Menschen als Menschen zu sehen.“
       
       ## Mehr Entfremdung, als Feindseligkeit
       
       Später erzählt Demir, etwa an jeder zehnten Haustüre werde er auf die
       Situation in Nahost angesprochen. Immer wieder treffe er auf Israelis oder
       deutsche Jüdinnen und Juden, die sich mehr Unterstützung wünschten. „Die
       haben Angst um ihr Leben.“ Mehr Unterstützung wünschten sich auch
       Neuköllner*innen mit arabischen Wurzeln. „Ich begegne Menschen, deren
       Angehörige in Gaza getötet wurden“, berichtet er. „Die haben das Gefühl,
       dass ihr Leid nicht anerkannt wird, und ich teile das.“
       
       Demir sagt heute, auch die SPD habe teilweise nicht die Ansprache gefunden,
       der es bei dem Thema bedurft hätte. „Unsere Herzen sind groß genug, um mit
       beiden Seiten mitzufühlen.“ Er hat genau so etwas vor einem Jahr auch schon
       einmal in einer Bundestagsrede gesagt, doch er findet, dieser Satz hätte
       nicht von ihm kommen sollen, sondern vom Kanzler oder von der
       Außenministerin.
       
       Muslimische Mütter erzählten ihm, dass ihr Sohn nun pauschal als Antisemit
       verdächtigt werde. Manche fragten aber auch, warum er überhaupt das Leid
       der Israelis thematisiere. Da halte er dann dagegen, sagt er. Feindselige
       Stimmung erlebe er bei dem Thema kaum, eher Entfremdung. Einige fühlten
       sich nicht abgeholt bei dem Thema. „Das bekomme ich schon mit“, sagt Demir.
       
       Eine Analyse der Forschungsgruppe Wahlen aus dem März 2024 ist eine der
       wenigen Umfragen, die dieser Entfremdung empirisch nachgegangen ist.
       Demnach hielten 70 Prozent der Wähler*innen in Deutschland das Vorgehen
       des israelischen Militärs angesichts der vielen zivilen Toten in Gaza für
       nicht gerechtfertigt. Mit 82 Prozent war diese Haltung bei
       Linkspartei-Anhänger*innen am stärksten ausgeprägt, gefolgt von
       Grünen-Wähler*innen (78 Prozent) und denen der SPD (75 Prozent).
       
       Laut der Forschungsgruppe wünschten sich außerdem 52 Prozent der
       Wähler*innen mehr Druck von Deutschland auf die israelische Regierung,
       um den Krieg in Gaza zu beenden. Das sahen am stärksten
       Grünen-Anhänger*innen so (69 Prozent), gefolgt von Linken (67 Prozent),
       FDP-Wähler*innen lagen mit 60 Prozent noch vor denen von SPD und BSW
       (jeweils 59 Prozent).
       
       Doch auf diese Erwartungen sind die Parteien in den vergangenen Monaten
       kaum eingegangen. Olaf Scholz bekräftigte zuletzt im Oktober den Export
       deutscher Rüstungsgüter nach Israel. [2][„Es gibt Lieferungen und es wird
       auch immer weitere Lieferungen geben“, hatte der SPD-Politiker in einer
       Rede im Bundestag gesagt.] Für Diskussionen sorgte dabei vor allem, dass
       der Kanzler nicht einmal rhetorisch die Lieferung von Waffen an Israels
       Kriegsführung knüpfte.
       
       „Es gibt eine wahnsinnige Enttäuschung bei dem Thema“, sagt der
       Politikwissenschaftler Jannis Grimm. Er arbeitet an der Freien Universität
       in Berlin in der Friedens- und Konfliktforschung und hat dort im
       vergangenen Jahr die Palästina-Demos in Deutschland kartografiert und
       hinsichtlich antisemitischer Vorfälle, Polizeirepression und Gewalt
       analysiert. Das Schweigen der Bundesregierung zu möglichen Menschen- und
       Völkerrechtsverstößen des israelischen Militärs in Gaza habe dazu geführt,
       dass mehr und mehr Menschen das Vertrauen in die moralischen Maßstäbe der
       Regierung verloren und sich von der deutschen Politik abgewendet hätten.
       
       „Der Umgang mit dem Krieg in Gaza wird als Ausdruck einer Weltordnung
       gelesen, in der mit zweierlei Maß gemessen wird“, sagt Grimm. Dieser
       Vorwurf treffe vor allem die Grünen, etwa Außenministerin Annalena
       Baerbock. „Bei den Demos heißt es dann, warum redet sie von feministischer
       Außenpolitik, spricht aber kein Tacheles, wenn es um Gaza geht.“ Dies werde
       auch bei der Union und bei der SPD so gesehen. „Man ist aber vor allem von
       denen enttäuscht, von denen man mehr erwartet hat.“
       
       Auch Ursula Münch, Direktorin der Akademie für politische Bildung, erkennt
       „ein größeres Problem“, darin, dass sich ein Teil der Bevölkerung nicht
       gehört fühlt. In der deutschen Geschichte sieht sie gute Gründe für die
       Unterstützung Israels. Aber: „Man muss die deutsche Haltung gegenüber
       Israel besser begründen und den Leuten nicht nur vor den Latz knallen.“
       Solidarität mit Israel bedeute außerdem nicht, gegenüber dem Leid der
       Menschen in Gaza gleichgültig zu sein.
       
       Münch denkt auch: „Ich glaube nicht, dass die Lage in Gaza für besonders
       viele Menschen wahlentscheidend ist.“ Auch andere Positionen seien in der
       Bevölkerung weit verbreitet, ohne dass die Parteien sie aufgriffen. „Man
       könnte das im aktuellen Wahlkampf sogar über den Klimaschutz sagen.“
       
       SPD und Grüne lassen die Frage, ob sie wegen ihrer zurückhaltenden Kritik
       gegenüber der israelischen Kriegsführung Vertrauen im linken Spektrum
       verspielt haben könnten, unbeantwortet. Auch zu der Frage, ob die beiden
       Regierungsparteien Defizite darin sehen, wie sie den Krieg in Gaza
       thematisieren, ist keine Antwort zu bekommen. Zu der Frage, wie die SPD zu
       Waffenlieferungen nach Israel steht, heißt es aus der Partei: „Obwohl wir
       uns mit Waffenlieferungen in Krisengebiete immer schwer tun, umfasst das
       auch Waffenlieferungen an Israel – eine Haltung, die unserer historischen
       Verantwortung entspricht.“ Diese Exporte müssten „mit den Prinzipien des
       Völkerrechts“ im Einklang stehen.
       
       ## Berliner Linkspartei war vor einer existenzielle Krise gestellt
       
       Die Grünen argumentieren auf Nachfrage ähnlich: Es gebe keinen Blankoscheck
       für Waffenexporte nach Israel, heißt es aus der Partei. „Wenn dem Schutz
       der Zivilbevölkerung im Einzelfall nicht genug Rechnung getragen ist,
       dürfen Waffen nicht exportiert werden.“
       
       Ferat Koçak könnte von der Uneindeutigkeit, mit der SPD und Grüne dem Thema
       gegenübertreten, profitieren. Der 45-Jährige tritt in Neukölln als
       Direktkandidat für die Linke an, die unter anderem einen Exportstopp von
       Waffen an Israel fordert. Bislang saß er im Berliner Abgeordnetenhaus, nun
       will er Hakan Demir das Direktmandat im Bundestag abnehmen. Auch Koçak
       setzt voll auf den Haustürwahlkampf – nur, dass er dabei weitaus
       systematischer vorgeht, als sein Konkurrent.
       
       Zu beobachten ist das an einem Donnerstagabend im Linken-Büro im Norden von
       Neukölln. Eine Handvoll junger Menschen übt hier Gesprächsstrategien. Es
       geht um steigende Mieten, explodierende Lebenshaltungskosten und darum, wie
       man an der Haustür dem Argument begegnet, dass Migration die Ursache dieser
       Probleme sei. „Wir sind Linke und wir glauben an das Gute im Menschen“,
       sagt einer der Campaigner aus Koçaks Team. Es gehe darum, die
       wirtschaftlichen Ursachen der Probleme zu sehen und den Menschen im
       Gespräch entgegenzuhalten – idealerweise mit einem Angebot, das die Linke
       dann vorzuweisen habe.
       
       Koçaks Kampagnenteam hat sich vorgenommen, an 80.000 Türen in Neukölln zu
       klopfen – die SPD peilt nur 20.000 an. Dafür hat die Neuköllner Linkspartei
       nach eigenen Angaben hunderte Helfer*innen mobilisiert, die auch aus
       zivilgesellschaftlichen Initiativen wie den Studis gegen Rechts kommen.
       
       Koçak und seine Leute setzen auf strategische Argumente: Wem linke Inhalte
       wichtig seien, könne nicht allein auf SPD und Grüne vertrauen. Für die
       Haustürgespräche bekommen die Wahlkämpfer*innen auch ein Mathe-Spiel
       als Argumentationshilfe an die Hand: Wenn es die Linkspartei in den
       Bundestag schaffe, bedeute dies etwa fünf bis sieben Sitze weniger für die
       AfD, etwa 11 Millionen Euro staatlicher Zuwendung weniger. Außerdem stünden
       SPD-Kandidat Demir und sein Pendant bei den Grünen, Andreas Audretsch, auf
       ihren Landeslisten auf aussichtsreichen Plätzen für einen Einzug in den
       Bundestag.
       
       Der Umgang mit dem Krieg in Gaza hatte die Berliner Linkspartei im Herbst
       vor eine existenzielle Krise gestellt. Im Oktober waren mehrere prominente
       Mitglieder, darunter der ehemalige Berliner Kultursenator Klaus Lederer,
       aus der Partei ausgetreten. Die Gruppe hatte kritisiert, dass sie im
       Landesverband immer seltener mit ihren Positionen durchgedrungen seien und
       nannten dabei Diskussionen um Antisemitismus als Problem. Anlass für den
       Streit war auch der Umgang mit einem ehemaligen linken Parteimitglied aus
       Neukölln, Ramsis Kilani, der in einem Chat unter anderem davon geschrieben
       hatte, dass der „antikoloniale Befreiungskampf“ der
       Palästinenser*innen noch mehr brauche als „einen Mord an Israelis“.
       
       Kilani wurde aus der Partei geschmissen, auf dem Landesparteitag einigten
       sich die Delegierten außerdem darauf, „gegen jede Form des Antisemitismus,
       unabhängig davon, von welcher politischen und weltanschaulichen Richtung er
       ausgeht“ vorzugehen. Koçak würde die Debatte um Kilani deshalb gerne hinter
       sich lassen.
       
       Seine eigene Position zum Nahostkonflikt beschreibt er so: „Wir stehen an
       der Seite des Völkerrechts und der Menschenrechte.“ In ihren Jutebeuteln
       tragen die Linken-Wahlkämpfer*innen dabei nicht nur Flyer zum eigenen
       Wahlprogramm sondern auch eine Petition mehrerer deutscher
       Hilfsorganisationen wie Pax Christi und Medico für einen dauerhaften
       Frieden in Gaza. „Wenn Leute an der Tür Kufiya tragen, steige ich direkt
       mit dem Thema ein“, sagt Koçak.
       
       Und die antisemitischen Parolen auf den Demonstrationen? „Natürlich sind
       wir gegen Antisemitismus“, sagt Koçak. Er sagt, es sei absurd, dass er sich
       als Alevit und Kurde mitunter gegen den Vorwurf verteidigen müsse, er habe
       Verständnis für die Haltungen von Islamisten.
       
       Als es in Neukölln einen [3][Brandanschlag auf die proisraelische Bar
       Bajszel] gab, habe er diesen verurteilt. Aber er stehe zu seiner Kritik an
       der israelischen Politik in Gaza.
       
       An den Haustüren merkt man schnell, dass diese Haltung gut ankommt. In
       einem Haus einige hundert Meter von der S-Bahn-Station Neukölln öffnet eine
       junge Frau die Tür. Lange dunkle Locken, Adiletten an den Füßen. Erst ist
       sie zurückhaltend: „Ich hab gerade gekocht, das Essen wird kalt.“ Aber als
       Koçak sie fragt, ob sie die Gaza-Petition unterschreiben will, taut sie
       merklich auf. Wie sie die deutsche Nahost-Politik finde? „Sehr schlecht“,
       kommt es aus ihr herausgeschossen, „meine Eltern sind aus Palästina“. Und
       dann: „Man darf ja nichts mehr sagen.“ Auf die Frage, was sie sonst noch
       umtreibe, sagt sie: „Polizeigewalt, und dass das Recht eingeschränkt wird,
       frei zu sprechen.“ Koçak selbst sagt eher wenig, lässt die junge Frau
       einfach reden, bei ihr scheint sich etwas angestaut zu haben. Nach etwa 15
       Minuten verabschiedet sich die Frau. Das Essen ist in der Zwischenzeit kalt
       geworden.
       
       22 Jan 2025
       
       ## LINKS
       
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