# taz.de -- Linkenparteitag in Halle: „Wir brauchen eine Phase der Konsolidierung“
       
       > Der scheidende Linken-Vorsitzende Martin Schirdewan will der Partei Zeit
       > zur Reparatur geben – und im Europaparlament gegen den Rechtsruck
       > kämpfen.
       
 (IMG) Bild: Zur Zeit noch Co-Vorsitzender der Linken: Martin Schirdewan
       
       taz: Herr Schirdewan, beim Parteitag in Halle geben Sie den Co-Vorsitz der
       Partei Die Linke ab. Ist dies eine Konsequenz aus den herben
       Wahlniederlagen der letzten Zeit? 
       
       Martin Schirdewan: Es ist vor allem eine Konsequenz aus dem Fakt, dass wir
       die Erneuerung der Partei weiter vorantreiben müssen. Wir haben in den
       letzten Jahren, als ich Co-Vorsitzender war, gemeinsam mit Janine Wissler,
       eine ganz entscheidende Klarheit geschaffen für die Partei – durch die
       Trennung von Sarah Wagenknecht. Wir haben aber auch deutlich gemacht, wo
       sich die Partei weiterentwickeln muss. Ich halte das für einen guten
       Zeitpunkt, dass jetzt andere in der Steuer übernehmen und die Erneuerung
       vorantreiben.
       
       taz: Nach dem Bruch mit Wagenknecht wollten Sie Die Linke stärken.
       Stattdessen ist sie in Ostdeutschland halbiert worden – und das BSW
       profitiert. Was ist schief gegangen? 
       
       Schirdewan: Nach der Abspaltung der Personenkulttruppe um Wagenknecht haben
       wir 12.000 neue Mitglieder gewonnen, die wirklich Lust haben, Politik zu
       machen – und zwar linke Politik. Dass es aber erstmal nicht die besten
       Wahlergebnisse geben wird, war allen klar. Wir brauchen eine Phase der
       Konsolidierung, wir brauchen Zeit um Image und Glaubwürdigkeit wieder
       herzustellen, die durch die ewigen Konflikte, die ja vor allem von der
       Gruppe um Wagenknecht in der Öffentlichkeit geschürt wurden, systematisch
       kaputtgemacht wurden.
       
       taz: Sehen Sie eine persönliche Mitverantwortung? Eigene Fehler oder
       Schwächen? 
       
       Schirdewan: Ich stand an vorderster Stelle und natürlich bedeutet das auch,
       dass ich Verantwortung trage für das, was passiert ist. Ich bin überhaupt
       nicht zufrieden mit den Wahlergebnissen, die auch Ausdruck von
       verschiedenen Schwachpunkten sind. Zum Beispiel programmatisch, wo wir
       Erneuerungsprozesse zu lange auf die lange Bank geschoben haben. Es reicht
       heute nicht dagegen zu sein. Wir müssen mehr als eine anti-neoliberale
       Sammlungsbewegung sein, uns glaubwürdig auf Seiten der Demokratie in Europa
       verorten und als sozialistische Gestaltungspartei für einen sozialen
       Politikwechsel im Bund eintreten.
       
       taz: Im Europäischen Parlament, dem Sie angehören, sind die Linken nach der
       Europawahl im Juni zahlreicher geworden. Aber auch zersplitterter und
       isolierter. Was können Sie in dieser Lage überhaupt machen? 
       
       Schirdewan: Tatsächlich sind wir das linke Korrektiv hier im Europäischen
       Parlament zu dieser ganz großen Koalition, die von Sozialdemokraten,
       Grünen, Liberalen und Konservativen reicht – bis hin zu Parteien der
       Nationalkonservativen oder Rechten um Meloni, die ja alle die von der
       Leyen-Kommission stellen und tragen werden. Wir verstehen uns als eine
       Oppositionskraft, die die soziale Frage immer wieder thematisiert und immer
       wieder deutlich macht, dass zum Beispiel die doppelte Transformation, vor
       der die europäische Automobilindustrie gerade steht, also Digitalisierung
       und Nachhaltigkeit, nicht auf Kosten der Arbeitnehmenden gehen kann.
       
       taz: Wie ist denn das Verhältnis zum BSW? Mit Fabio De Masi ist ja ein
       prominenter Ex-Genosse zurück im Europaparlament. Gibt es da
       Anknüpfungspunkte? 
       
       Schirdewan: Wenige. Im Vorfeld der Europawahl hat das BSW angekündigt, eine
       Fraktion zu gründen, das haben sie nicht geschafft. Im Ergebnis haben sie
       hier politisch kaum Einfluss. Inhaltlich gibt es im Moment auch keine
       Zusammenarbeit – und die muss es auch nicht geben. Heute gab es zum
       Beispiel Applaus von BSW-Abgeordneten für den Autokraten Viktor Orbán.Das
       zeigt doch deutlich, wo die politisch inzwischen stehen.
       
       taz: Wie sieht es denn auf der anderen Seite aus – mit der sogenannten
       Brandmauer gegen rechts? Zuletzt hat die EVP mit den Rechtsradikalen eine
       Venezuela-Entschließung durchgebracht. Offenbar hält die Mauer nicht… 
       
       Schirdewan: Es gibt mehrere Beispiele dieser Art. So moderat und
       proeuropäisch sich die Konservativen in Deutschland auch darstellen: Die
       Politik, die hier gerade betrieben wird, ist wirklich eine andere, die im
       Grunde genommen auf Machttaktik basierend darauf aus ist, immer wieder
       Mehrheiten zu schmieden – und das eben auch völlig skrupellos mit teilweise
       offen faschistischen Parteien.
       
       taz: Wie schätzen Sie denn [1][die neue Kommission] unter von der Leyen
       ein? 
       
       Schirdewan: Sie rutscht politisch immer weiter nach rechts. Die
       allermeisten Kommissare kommen aus der EVP. Es gibt keine grünen
       Kommissare, es gibt keine linken Kommissare und nur wenige
       Sozialdemokraten. Es sind auch Rechte dabei, wie Raffaele Fitto aus
       Italien, der von einer postfaschistischen Partei nominiert wurde. Und
       programmatisch setzt die neue Kommission offenkundig den Schwerpunkt
       darauf, die Interessen der großen Konzerne und ihrer Aktionäre zu bedienen,
       während die soziale Frage hinten runterfällt.
       
       taz: Von der Leyen stand selbst gar nicht zur Wahl, versucht jetzt aber,
       die Macht in der EU vollständig an sich zu ziehen… 
       
       Schirdewan: Diese Machtkonzentration ist nicht gut. Wir haben jetzt schon
       ein Demokratiedefizit in der EU. Ich befürchte, dass sich das in den
       nächsten fünf Jahren noch vertiefen könnte.
       
       taz: Hauptthema der EU scheint derzeit Migration: Da hört man wenig von
       Ihnen und der ehemaligen Spitzenkandidatin Carola Rackete. Dabei macht nun
       auch Deutschland seine Grenzen dicht. Was ist da los? 
       
       Schirdewan: Das stimmt nicht, ich habe mich sehr klar gegen die
       Grenzschließung gestellt, weil ich das für eine reaktionäre
       Kurzschlussbehandlung halte, die letztendlich eine der wichtigen
       Errungenschaften der Europäischen Union, die Bewegungsfreiheit auch der
       Arbeitnehmer, zu zerstören droht. Wir werden uns allerdings auch Fragen zu
       stellen haben, wie Integration gelingen kann, wie eine Migrationspolitik
       aussehen kann, die sich nicht immer weiter von rechts treiben lässt und die
       Menschenrechte achtet, die das Asylrecht nicht auf einen Müllhaufen der
       Geschichte entsorgt, [2][so wie das ja im Moment alle anderen Parteien
       betreiben].
       
       taz: Ist das derzeit vielleicht die größte Achillesferse der Linken? 
       
       Schirdewan: Nein, auf keinen Fall - es ist wichtig, dass es eine Partei
       gibt, die Völkerrecht, Menschenrecht und Asylrecht entschieden verteidigt.
       Aber wir müssen durchaus klarer werden bezüglich der Herausforderungen, die
       durch Migration entstehen. Die sind real und die kann man auch nicht
       leugnen: Integration in den Schulalltag und Arbeitsmarkt, die Integration
       in Kindergärten die Versorgung mit Wohnraum oder die Versorgung im
       Gesundheitssystem.
       
       Deswegen sage ich, wir brauchen ein Einwanderungs- und Integrationskonzept
       als Partei, die drei Dinge zusammenbringt: Die Verteidigung des Rechts,
       andererseits aber auch die Stärkung der Kommunen in der Integration, und
       drittens die den Arbeitsmarkt öffnet für die Menschen, die zu uns kommen.
       
       taz: Ihr Schwerpunkt liegt im Wirtschaftsausschuss. Die
       wirtschaftspolitische Debatte wird hier in Brüssel im Moment vom
       sogenannten [3][Draghi-Bericht] geprägt. Der frühere Zentralbankchef Mario
       Draghi sagt, ohne radikale Reform drohe der EU der Niedergang. Hat er
       Recht? 
       
       Schirdewan: In einem Punkt ja: Wir brauchen Investitionen – und zwar
       massiv. Er beziffert den Investitionsbedarf auf 800 Milliarden Euro pro
       Jahr in der gesamten EU. Aber den Weg über eine stärkere Kapitalmarktunion,
       die nur Riesenbanken und Finanzdienstleistern wie BlackRock dienen wird,
       und andererseits der Rüstungsindustrie, das wiederum halte ich für eine
       Schnapsidee. Da wird Draghi meine Unterstützung nicht finden.
       
       taz: Aber die Analyse, dass die EU in einer tiefen Krise steckt und dass
       sie im Vergleich zu den USA und China zurückfällt, würden Sie teilen?
       
       Schirdewan: Die ist tatsächlich richtig. In der Auseinandersetzung mit den
       beiden anderen großen industriellen Zentren USA und China fällt die EU
       gerade wegen des Investitionsstaus seit Jahren zurück und droht den
       Anschluss zu verlieren. Es droht der Niedergang ganzer Industriezweige, das
       muss man in aller Klarheit so benennen. An der Stelle hat Draghi recht.
       
       taz: Beim Thema Ukraine wirkt die europäische Linke gespalten. Auch die
       deutschen Abgeordneten zeigen keine klare Linie. 
       
       Schirdewan: Ich bin der Überzeugung, dass eine moderne linke
       Friedenspolitik sowohl antimilitaristisch und gegen Aufrüstung sein muss
       und sich klar auf die Seite der Diplomatie stellen sollte. Aber
       gleichzeitig müssen wir auch das Völkerrecht und die Menschenrechte achten
       und Putin endlich an den Verhandlungstisch zwingen. Da gibt es aktuell
       keine einfache Lösung.
       
       taz: Die Stichworte Waffenstillstand, Diplomatie oder gar Frieden hört man
       in Brüssel überhaupt nicht mehr. Warum treibt die Linke das nicht voran? 
       
       Schirdewan: In meinen Reden in den letzten zweieinhalb Jahren habe ich
       immer über Diplomatie geredet. Ich war auch der erste, der eine gemeinsame
       Initiative mit China angeregt hat, um zu Frieden zu kommen. Dafür bin ich
       schwer kritisiert worden. Natürlich muss eine Beendigung des Krieges das
       oberste Ziel sein.
       
       taz: Das hat das Europaparlament aber nicht gefordert… 
       
       Schirdewan: Es ist derzeit keine Mehrheitsposition, sich für eine
       diplomatische Lösung des Krieges einzusetzen. Das war aber immer unsere
       Position, und die werden wir auch weiterhin aufrechterhalten, weil es keine
       militärische Lösung geben wird. Davon bin ich nach wie vor überzeugt. Und
       wir werden nicht umhinkommen, immer weiter darüber nachzudenken, wie
       entsprechende diplomatische Initiativen befördert werden können.
       
       taz: Wären das nicht Berührungspunkte mit dem BSW? 
       
       Schirdewan: Die können gerne so abstimmen wie wir. Aber sie applaudieren
       lieber öffentlich Putins Kumpel Orbán und erweisen einer ernstgemeinten
       Friedenspolitik einen Bärendienst.
       
       18 Oct 2024
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Von-der-Leyens-Wunsch-EU-Kommission/!6034252
 (DIR) [2] /Migration-in-die-EU/!6040140
 (DIR) [3] /Rezepte-gegen-Konjunkturflaute/!6032521
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Eric Bonse
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Martin Schirdewan
 (DIR) Schwerpunkt Europawahl
 (DIR) Die Linke
 (DIR) Europaparlament
 (DIR) Ursula von der Leyen
 (DIR) Migration
 (DIR) Europäische Kommission
 (DIR) GNS
 (DIR) Die Linke
 (DIR) Geflüchtete
 (DIR) Die Linke
 (DIR) Ampel-Koalition
 (DIR) Bundesverfassungsgericht
 (DIR) Die Linke
 (DIR) Die Linke
 (DIR) Die Linke
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Linksparteitag in Halle: Neue Doppelspitze bemüht sich um „Hoffnung und Zuversicht“
       
       Ines Schwerdtner und Jan van Aken sind zu neuen Vorsitzenden der
       Linkspartei gewählt worden. Und Gregor Gysi macht eine besondere
       Ankündigung.
       
 (DIR) Sicherheitspaket der Ampel: Wer ist hier gefährdet?
       
       Bundesregierung und Opposition fordern eine Verschärfung des Asylrechts.
       Die Sicherheit von Schutzsuchenden gerät aus dem Blick.
       
 (DIR) Linksparteitag in Halle: Der große Knall bleibt vorerst aus
       
       Auf ihrem Bundesparteitag in Halle hat sich die Linke nach langem Ringen
       hinter den Kulissen auf einen Kompromiss im Nahost-Streit verständigt.
       
 (DIR) IG-Metall-Chefin über Lohnerhöhungen: „Die Menschen brauchen mehr Geld“
       
       In der Konjunkturflaute sei Lohnzurückhaltung keine Option, sagt
       IG-Metall-Chefin Christiane Benner. Auch die Bundesregierung müsse mehr
       investieren.
       
 (DIR) FAQ zum Parteiverbotsantrag: Ein AfD-Verbotsantrag? So könnte es ablaufen
       
       Eine Gruppe Bundestagsabgeordneter will, dass das Bundesverfassungsgericht
       die Verfassungswidrigkeit der AfD prüft. Das gibt es zu wissen.
       
 (DIR) Linke wählen neue Spitze: Letzter Parteitag vor dem Nirwana?
       
       Die Wahl des neuen linken Spitzenpersonals gilt vor dem Parteitag zumindest
       als unumstritten. Das war es aber schon mit der Harmonie.
       
 (DIR) Die Linke vor ihrem Bundesparteitag: „Wir haben den Schuss gehört“
       
       Ines Schwerdtner und Jan van Aken wollen nächstes Wochenende neue
       Vorsitzende der Linkspartei werden. Ein Gespräch über neue Pläne und alte
       Konflikte.
       
 (DIR) Neue Spitze bei den Linken gesucht: Zuversicht wird nicht reichen
       
       Der personelle Neuanfang verdeckt die grundsätzlichen Probleme der
       Linkspartei. Bislang fehlt eine Analyse der tiefen Krise.