# taz.de -- Die taz Kulturredaktion zieht Bilanz: Heilige Texte und unheilige Orte
       
       > War da was? Blicke aufs Wattenmeer und Alpen, Israel und Westjordanland,
       > Uni- und Kunststreits sowie eine Berliner Friedrichstraße mit
       > Autoverkehr.
       
 (IMG) Bild: Die Berliner Friedrichstraße im September 2020, damals autofrei
       
       Mittelerde ist nicht Europa. Die fiktive Welt des Schriftstellers J. R. R.
       Tolkien hat gleichwohl Ähnlichkeiten mit diesem Kontinent. Und wenn es nach
       der italienischen Premierministerin Giorgia Meloni geht, hat das Zuhause
       von Figuren wie Frodo und Konsorten mit unserer Gegenwart sogar noch
       einiges mehr gemein.
       
       Die „Postfaschistin“ lässt keine Gelegenheit ungenutzt, um auf Tolkien zu
       sprechen zu kommen, dessen Roman „Der Herr der Ringe“ für sie ein „heiliger
       Text“ ist. Im November etwa gab sie sich bei der Eröffnung einer großen
       Tolkien-Ausstellung in Rom als Fan zu erkennen. Mit ihrer Begeisterung für
       den Roman „Der Herr der Ringe“ steht sie in Italien dabei in einer längeren
       Tradition. Dort versucht man seit Jahrzehnten, Tolkien von rechts zu
       vereinnahmen. Mittelerde als utopischer Ort für Faschisten, pardon,
       Postfaschisten?
       
       Meloni zumindest identifiziert sich im Kampf gegen das Böse regelmäßig mit
       den Hobbits. Man könnte meinen, dass ihre geistige Heimat Mittelerde ist,
       wobei unklar scheint, ob sie diese nicht großzügig mit der Realität
       verwechselt. In jedem Fall eine Beleidigung für den akribischen Philologen
       Tolkien. Der dachte sich seine mythologische Welt überhaupt erst aus, weil
       er begonnen hatte, alte Sprachen zu erfinden. Egal. Dass man sich [1][die
       Wirklichkeit nach Wunsch bastelt], hat ja Konjunktur. Fantasiereiche
       braucht man dafür gar nicht.
       
       Tim Caspar Boehme 
       
       *** 
       
       Kfar Aza, Israel. Wie fragil die Sicherheit in Israel ist, lässt sich schon
       anhand von Entfernungen erahnen. In der Metropole Tel Aviv ist man von der
       libanesischen Grenze, hinter der Hisbollah-Terroristen von der Vernichtung
       Israels träumen, bloß 130 Kilometer weit weg. Das ist in etwa die
       Entfernung zwischen Hamburg und Bremen, Berlin und Cottbus. 15 Kilometer
       ist Israel an seiner engsten Stelle breit. Die läuft man in drei bis vier
       Stunden.
       
       In Fußwegen lässt sich auch die jüngste Geschichte von Kfar Aza erzählen.
       Vielleicht 30 Schritte sind nötig, um von den letzten Häusern des
       südisraelischen Kibbuz den Zaun zum Gazastreifen zu erreichen. Schritte,
       die am 7. Oktober über Leben und Tod entschieden. [2][Es sind diese letzten
       beiden Häuserreihen], die von den Hamas-Terroristen am brutalsten und
       gründlichsten durchkämmt worden sind.
       
       Kein Stein steht mehr auf dem anderen, Schutt vermischt sich mit Möbeln,
       mit Kleidung, Spielzeug. Die Wände sind schwarz verkohlt. Obwohl sich die
       meisten Kibbuzim von ihrer ursprünglich sozialistisch-altruistischen
       Organisationsweise verabschiedet haben, haftet den Gemeinden immer noch
       etwas Utopisches, Oasenhaftes, Lebenswertes an. Auch für Kfar Aza gab es
       einmal lange Wartelisten.
       
       Julia Hubernagel 
       
       *** 
       
       Friedrichstraße, Berlin. An Variationen einer Frage hat sich Berlin im Jahr
       2023 immer wieder aufgerieben: Wem gehört die Stadt? Besonders oft war
       dabei die Friedrichstraße Schauplatz, in der auch das Medienhaus der taz
       liegt. Gleich am südlichen Ende etwa, wo sie in den Mehringplatz mündet,
       eine Großwohnsiedlung aus den 1970ern. Im Sommer hat sich dort der
       Revolutionäre Anwohner*innen Rat gegründet, um gegen die Verwahrlosung
       der Mietshäuser zu kämpfen und für einen neuen Supermarkt. Erreicht hat er
       bislang: wenig.
       
       Folgt man dem Verlauf der Friedrichstraße hingegen gen Norden, vorbei am
       Checkpoint Charlie, wo selfieschießende Touris einem den Weg blockieren,
       gelangt man zu dem Abschnitt, den der vorvorherige Senat zur autofreien
       Zone erklärt hatte. Erklären wollte. Denn seit Juli stehen dort keine
       Pflanzenkübel mehr, sondern wieder Autos im stockenden Verkehr. Die neue
       CDU-Verkehrssenatorin Manja Schreiner hält nichts von der „Flaniermeile“.
       Modellversuch gescheitert.
       
       Auch das Quartier 207, aus dem das französische Luxuskaufhaus Galeries
       Lafayette Ende 2024 auszieht, befindet sich hier. Die Zentral- und
       Landesbibliothek würde gerne übernehmen. Es wäre die beste Nachricht für
       die Friedrichstraße seit Langem: E[3][in Konsumtempel wird zum Kulturort
       für alle]. Im neuen Doppelhaushalt sind jedoch keine Mittel für den Erwerb
       aufgeführt. CDU-Kultursenator Joe Chialo arbeite an einer Lösung, so heißt
       es.
       
       Dann, kurz bevor die Friedrich- zur Chausseestraße wird, lässt sich am
       früheren Kunsthaus Tacheles besichtigen, wie es aussieht, wenn man
       Gentrifizierung durchspielt. Dort recken sich jetzt hochpreisige Wohn- und
       Bürogebäude in die Höhe. Dekoriert von einer Dependance des schwedischen
       Privatmuseums Fotografiska.
       
       Beate Scheder 
       
       *** 
       
       Bödele, Vorarlberg. Klassisch durch die Fohramoos-Loipe am Bödele. Hier am
       Rand des Bregenzerwalds in den österreichischen Alpen sollte sich heuer
       nicht die Frage nach BDS und PEN Berlin stellen, sondern die nach guten
       Schneeverhältnissen und köstlichen Spinatknödeln. Die Langlauf-Loipe liegt
       idyllisch auf 1.100 Metern. Doch da von Rheintal und Bodensee her wärmere
       Winde wehen, schmilzt der Schnee auch schon mal schnell dahin.
       
       Aber so die Natur will, werde ich dieses Jahr hier bald wieder meine Runden
       ziehen. Berlin, die Arbeit und all jene vergessen, die 2023 die Kritik an
       antiisraelischer Literatur und Statements sogar juristisch verbieten lassen
       wollten. Und damit – zum Glück für Literaturkritik, Journalismus [4][und
       Meinungsfreiheit – vor Gericht scheiterten]. In der Hoffnung auf Tage mit
       Sonne und Schnee werde ich abends erneut in David Motadels Buch „Für
       Prophet und Führer“ blättern. Untertitel: „Die islamische Welt und das
       Dritte Reich“.
       
       Und wie wunderbar absurd wäre es, hier auf der Loipe am Bödele das Board
       des PEN Berlin anzutreffen. Langlaufskier unter den Füßen, Motadels Buch im
       Gepäck, wild gestikulierend und Spinatknödel werfend. Sechs Kilometer Loipe
       durch ein Naturschutzgebiet, 200 Höhenmeter. Schwierigkeitsgrad: leicht bis
       mittel.
       
       Andreas Fanizadeh 
       
       *** 
       
       Schiermonnikoog, Nordsee. „Freemantle Highway“, so hieß das Schiff. Die
       Nachricht war auf allen Kanälen. Der gewaltige Autotransporter brannte ein
       paar Seemeilen vor der Küste. Geladen hatte er 3.000 Luxusmodelle, 500
       davon mit Elektroantrieb, die kaum löschbar waren. Wenn das Schiff
       untergehen würde, wäre das eine Katastrophe, so hieß es. Das gesamte
       Wattenmeer war in Gefahr.
       
       Wir machten gerade Ferien auf Schiermonnikoog, der niederländischen
       Nordseeinsel, in deren Nähe der Frachter brannte. Wir tobten in den Wellen,
       und zwischendurch schauten wir auf den Horizont. Vom Strand aus war die
       „Freemantle Highway“ nicht zu sehen. Aber irgendwo da draußen musste sie
       sein. Und eine ganze Meeresregion bedrohen.
       
       Dieses Schiermonnikoog-Gefühl hat mich durch das Jahr 2023 begleitet. Man
       steht auf, bringt die Kinder zur Schule, setzt sich an den Schreibtisch,
       liest, joggt. An alles, was am Alltag funktioniert, möchte man sich
       klammern; denn gleich nebenan gibt es Gefahren, Sorgen, Schrecken:
       Klimakatastrophen, AfD-Umfragen, ein wildgewordenes russisches Imperium,
       Massaker und aus ihnen resultierend einen neuen Krieg im Nahen Osten – und
       über all das hypernervöse Debatten. Das Brodeln, denkt man, ist ringsumher.
       Das Bild des hinter dem Horizont schwelenden Schiffes steht, denke ich
       manchmal, für die Weltlage.
       
       Immerhin: Es ist vor Schiermonnikoog alles gutgegangen. Die „Freemantle
       Highway“ konnte schließlich gelöscht werden. Vielleicht muss man versuchen,
       sich an den ausgebliebenen oder überstandenen Katastrophen festzuhalten.
       
       Dirk Knipphals 
       
       *** 
       
       Internet. Müsste ich einen Ort benennen, an dem ich in den letzten Jahren
       viel Zeit verbracht, mich ausgetauscht, gelernt habe, wäre dieser Ort das
       Internet, genauer gesagt, die sozialen Medien. Ich bin dankbar für diesen
       Ort, denn er hat mir in Zeiten der Isolation und Einsamkeit Hoffnung
       gegeben, mir geholfen mich besser kennenzulernen. Inzwischen aber fühlt er
       sich verkommen an, seine Selbstregulierung krankt, das Experiment eines
       urdemokratischen Raumes wirkt gescheitert. Hasskommentare, Denunziationen,
       Gewaltandrohungen und Bilder, die längst das Ertragbare übersteigen, all
       das ist real, obwohl es virtuell passiert.
       
       Zwischen alldem, zu absurd, um sich der Absurdität wirklich gewahr zu
       werden: cute Tiervideos, personalisierte Werbung und Tipps für mentale
       Gesundheit, die ich mir beim Weiterscrollen sofort wieder versaue.
       Kognitive Dissonanz nennt sich dies in der Psychologie: Wir nehmen zwei
       konträre Dinge wahr, können die Information, die damit einhergeht, nicht
       verarbeiten – und verdrängen, was uns besonders beunruhigt.
       
       Eigentlich ist es wie mit dem Rauchen, das sich ähnlich wie meine
       Social-Media-Nutzung seit der Pandemie potenziert hat: Ich weiß um die
       negativen Konsequenzen der Droge, schiebe dieses Wissen aber weit von mir
       weg, weil Krankheit erst real wird, wenn sie nicht mehr zu ignorieren ist.
       Wie auch das Rauchen kann uns kognitive Dissonanz auf Dauer krank machen.
       
       Es entsteht, was Autorin Carolin Emcke als „Gefühl der Ohnmacht gegenüber
       der sozialen Wirklichkeit“ beschreibt. Sich in ihm zu verbünden ist nicht
       konstruktiv, nährt Hass, der, weil er auf unsichtbaren Ängsten beruht,
       nicht solidarisch mobilisiert, sondern spaltet, indem er ein „Wir“ gegen
       „Die“ kreiert. Um echte Solidarität entwickeln zu können, nicht nur eine,
       die sich unserem Lebensstil gerade besonders nah anfühlt, müssen wir
       einander real begegnen, miteinander sprechen, zuhören und manchmal auch
       aushalten, dass sich unser Blick auf die Welt nie gleicht. Denn wie sagte
       es letzthin ein deutscher Dichter und Denker: „Einander ist leider alles,
       was wir haben.“
       
       Sophia Zessnik 
       
       *** 
       
       Universität. Dass Hochschulen ein Ort politischer Öffentlichkeit sein
       sollen, ist seit der 68er-Bewegung eigentlich eine beantwortete Frage. Doch
       soll nicht ein Haufen postpubertärer Komplexitätsverweigerer mit Hang zum
       Antisemitismus den Diskurs auf dem Campus beherrschen, gilt es für
       Unileitungen und Wissenschaften nachzulegen. [5][Nicht nur an FU, HU, und
       UdK in Berlin].
       
       Mehr professorale Expertise, mehr Podiumsdiskussionen, Workshops und
       kurzfristige Vorlesungsreihen. Etwa zu den Themen: Welche Geschichte hat
       der Staat Israel, welche das palästinensische Volk? Was ist ein Genozid?
       Was können postkoloniale Theorien beschreiben und was nicht? Was bedeutet
       Demokratie, was „Staatsräson“? Differenzierend debattierende Studierende
       fallen nicht vom Himmel.
       
       Zum Thema Nahost beziehen die wenigsten Studierenden derzeit Stellung. Und
       die wenigen, die dies tun, baden ihre Hände manchmal in roter Farbe. Das
       sollte sich ändern.
       
       Julian Sadeghi 
       
       *** 
       
       Efrat, Westjordanland. Der schreckliche Krieg in Gaza ist noch nicht
       vorbei, der Schock des 7. Oktober ist immer noch nicht verarbeitet. Fast
       ist darüber in Vergessenheit geraten, dass das Jahr 2023 in Israel von den
       Protesten gegen die ultrarechte Regierung geprägt war.
       
       Ich erinnere mich gut daran, wie ich von Tel Aviv in die Siedlung Efrat
       östlich von Jerusalem fuhr. Sie existiert seit über vierzig Jahren und wird
       von orthodoxen Jüdinnen und Juden aus dem nationalreligiösen Lager
       bewohnt. Selbst dort, hatte ich gehört, wurde regelmäßig gegen die
       Regierung und für ein demokratisches Israel protestiert. Es war ein kleines
       Häuflein von Demonstranten, das sich nach dem Ende des Schabbat dort an
       einem Verkehrskreisel versammelte. Banner wurden aufgehängt, Reden wurden
       gehalten.
       
       Eine Rednerin berichtete von einer Meinungsumfrage: Auch im
       nationalreligiösen Lager hatte sich der Wind gedreht. Viele waren mit der
       Regierung unzufrieden und lehnten die Justizreform ab. Würden jetzt Wahlen
       stattfinden, dann würden der Likud, die Partei Netanjahus, und die
       ultrarechte Partei des religiösen Zionismus deutlich weniger Stimmen
       erhalten. Am Ende der Kundgebung sagte mir ein Mann, er sei sich sicher:
       [6][Die Protestbewegung werde Erfolg haben]. Wir werden sehen, was im
       kommenden Jahr passiert.
       
       Ulrich Gutmair 
       
       *** 
       
       Lublin, Polen. Eine vollkommen überfüllte Mailbox, das ist wohl der Ort,
       mit dem sich dieses Jahr beschreiben lässt. Und dieses virtuelle Postfach
       wird weniger mit Alltagskorrespondenzen gefüllt, es birst vor offenen
       Briefen eines Kunstbetriebs, der sich gerade an einem neuen Krieg im Nahen
       Osten zermürbt.
       
       Schwere Worte wie [7][„Genozid“, „Antisemitismus“ und „Zensur“] prasseln
       auf einen ein, Begriffe von politischem Gewicht werden in den Schreiben zu
       unscharfen und gleichsam polarisierenden Schlagworten. Und selten nur noch
       glaubt man den Unterzeichner:innen, wie ernst ihnen ihr Anliegen ist, oder
       ob hier nicht ein Aktivismus Gestalt annimmt, der einzig die Fronten
       verhärtet.
       
       Sollen offene Briefe nicht eigentlich über einen Missstand aufklären und
       politisch differenzieren? Danach muss ich in meiner Mailbox suchen. Man
       möchte dann an einen Ort, einen wirklichen Ort reisen, an dem die Kunst
       über die Krisen nachdenkt, die dieses Jahr so düster machen.
       
       In Lublin, im Osten Polens, habe ich im Oktober so einen Ort gesehen.
       Dort hatte sich aller rechtspopulistischen Agitation der lang regierenden
       PiS-Partei zum Trotz der linke Direktor einer Kunsthalle gehalten. Der
       stellt in seiner Galeria Labirynt nun ukrainische Künstlerinnen aus, die
       Russlands Angriffskrieg als Soldat:innen an die Front zwang. Es sind
       leise, angriffslose Stimmen aus einem festgefahrenen Krieg, den wir
       gerade zu überhören drohen.
       
       Sophie Jung 
       
       ***
       
       31 Dec 2023
       
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