# taz.de -- Geschichte einer Flucht: Rotenburg–Kosovo und zurück
       
       > Familie Shala ist wieder in Rotenburg an der Wümme. Bis zu ihrer
       > Abschiebung in den Kosovo 2010 hatte die Romafamilie über 20 Jahre in
       > Niedersachsen gelebt. Im Februar hatten wir sie noch im Kosovo besucht.
       
 (IMG) Bild: Zurück aus dem Kosovo: Im Oktover 2014 ist Familie Shala wieder in Rotenburg/Wümme
       
       ROTENBURG / PEC taz | Ein Netz bunter Glühbirnen bestrahlt den Kirmesplatz
       von Rotenburg an der Wümme. Lulzim Shala wartet mit seinem zweijährigen
       Sohn Ardi an der Hand vor einem Karussell. Mit Deutschlandfahnen geschmückt
       glitzert es durch die Nacht wie ein Ort aus einer anderen, unerreichbaren
       Welt. Doch Lulzim Shala ist tatsächlich hier, blickt auf die Lichter, in
       seinem alten Heimatort. In Deutschland.
       
       Der zwölfjährige Halil quetscht sich in eine Gondel, seine Knie ragen links
       und rechts über das Spielzeug-Lenkrad hinaus. Er drückt seinen kleinen
       Bruder Ardi fest an sich. Aus den Lautsprechern trötet jene Hupe, die wohl
       auf allen Jahrmärkten der Welt die Karussellfahrt einläutet, dann sausen
       Halil und Ardi zu Lady Gagas „Pokerface“ durch die Luft und alle lachen.
       
       Fast scheinen die Sorgen der letzten Wochen, Monate, Jahre vergessen. Erst
       seit ein paar Tagen ist die Familie wieder in Rotenburg. Für Lulzim und
       seine Frau Ajshe war der niedersächsische Ort zwischen Hamburg und Bremen
       22 Jahre lang ihre Heimat. Dann wurden sie abgeschoben.
       
       Über vier Jahre haben die Shalas versucht, als Roma im Kosovo zu überleben.
       Sie haben es nicht alle geschafft: Die Großmutter Djulsa starb 2012
       entkräftet im Alter von 61 Jahren.
       
       Für die Anderen soll die Rückkehr nach Deutschland nun die Rettung sein.
       Niemand weiß, wie groß die Chance ist, dass sie nicht wieder abgeschoben
       werden. Für ein Bleiberecht, dafür, dass die Verfolgung der Roma in
       Deutschland endlich anerkannt wird, haben Lulzim und Ajshe Shala schon zur
       Zeit der Wende vergeblich demonstriert. Ihre Geschichte ist die eines
       Deutschlands, dessen Asyl- und Aufenthaltssystem Leben zerstört.
       
       Im Februar 2014 sind die Shalas noch im Kosovo. Sie wohnen in einem kleinen
       Haus am Rande von Peç, einer 100.000-Einwohner-Stadt in der Bergregion nahe
       der Grenze zu Montenegro. Das Grundstück ist von einer mannshohen
       unverputzten Backsteinmauer eingefasst. Dort, wo ein Garten blühen könnte,
       liegen Berge von Wackersteinen und Stapel mit Brennholz. Gegenüber,
       nebenan, in der ganzen Straße sind sie die einzige Roma-Familie. Ein
       Nachbar schaut argwöhnisch herüber. Wenn der erfahre, dass Journalisten aus
       dem Ausland zu Besuch sind, gebe es Ärger, erklärt Lulzim Shala. Er bittet
       darum, vorsichtshalber draußen keine Fotos zu machen.
       
       „Es ist wie im Gefängnis hier“, sagt seine Frau Ajshe, „wir haben Angst vor
       den Leuten.“ Sie sitzt auf einem Sofa im Wohnzimmer. Ein weiteres Sofa
       steht vor dem Fenster, ein Tisch, ein Bild, sonst kahle Wände. Der Blick
       nach draußen ist im ganzen Haus durch Gardinen verhängt.
       
       Lulzim Shala erzählt davon, dass sein Sohn Ferdi von Nachbarn mit Steinen
       angegriffen wurde. Er hält ihn im Arm, knapp über dem Auge prangt eine
       fingerbreite Narbe. In der Schule hätten manche Kinder Messer dabei, ein
       Mädchen sei vor allen Augen damit abgestochen worden, Hilfe von der Polizei
       gebe es nur für Albaner, im Supermarkt würde er angemacht, dürfe nichts
       anfassen, erzählt Lulzim. „Die Leute sagen: ’Zigeuner, du stinkst, du
       riechst'“, sagt seine Frau Ajshe. Die Kinder gehen nicht mehr allein nach
       draußen, keiner der Jungen besucht noch die Schule.
       
       1988 waren Lulzim und Ajshe Shala als Jugendliche von Jugoslawien nach
       Deutschland geflohen, mit ihnen die Eltern von Lulzim, Djafer und Djulsa.
       Der Wohnort Rotenburg/Wümme wurde ihnen zugeteilt. Nach einem Jahr kommt
       ihr Sohn Nazmi zur Welt, fünf Jahre später Lutfi, dann Halil und Ferdi.
       Alle wurden in Deutschland geboren, gingen zur Schule, fanden Freunde.
       
       Viele Jahre litt die Familie unter dem unsicheren Status einer „Duldung“,
       der keine Perspektive erlaubt. Als Lulzim irgendwann arbeiten durfte,
       schuftete er erst als Ein-Euro-Jobber, dann bei McDonalds. Er konnte die
       Familie davon ernähren. Das Team der McDonalds-Filiale sammelte vor Lulzims
       Abschiebung noch Unterschriften, um ihn als Kollegen nicht zu verlieren.
       
       Doch er hatte einen Fehler begangen – einen, in seinen zwei Jahrzehnten in
       Rotenburg: 2004 hatte er eine Zeit lang alte Metallstücke gesammelt und an
       einen lokalen Schrotthändler verkauft. Das verschwieg er dem Sozialamt.
       Irgendwann kam es raus. Lulzim erhielt einen Strafbefehl über 1.350 Euro in
       90 Tagessätzen. Er bezahlte alles, doch die Vorstrafe hatte Folgen: Selbst
       die niedersächsische Härtefallkommission wollte den Fall der Shalas
       deswegen später nicht annehmen.
       
       Als 2010 Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) mit seinem
       kosovarischen Amtskollegen ein „Rückführungsabkommen“ unterzeichnete, waren
       die Shalas unter den ersten, die in ein Land „zurück“ sollten, das die
       Kinder noch nie betreten hatten und das es noch nicht gab, als die Eltern
       geflohen waren.
       
       In Peç sitzt der 12-jährige Halil fast regungslos ganz tief in einem Sessel
       neben dem großen Holzofen. Ajshe kocht darauf, im Winter beheizt der Ofen
       das ganze Haus. Halil sagt kaum ein Wort. Neben ihm läuft der Fernseher,
       RTL, Thomas Gottschalk quasselt über seine neue Sendung. „Wir haben den
       besten Freund hier, den Fernseher“, sagt Lulzim Shala.
       
       Nachts schläft die Familie auf den Sofas und auf dem Wohnzimmerboden. Genug
       Matratzen wären vorhanden, in einem Nebenraum stapeln sie sich fast bis zu
       Decke. Ferdi purzelt und hüpft darauf herum, als wären sie ein Trampolin.
       Doch die Matratzen seien voller Schimmel und nicht mehr zu gebrauchen,
       erzählt Ajshe.
       
       Schimmel ist auch in der Küche: Schwarze Flechten benetzen die Wände und
       blühen in den Hängeschränken – Lebensmittel lagern dort ohnehin keine. Die
       ganze Zeit über läuft im Bad der defekte Wasserhahn. Auf den Kacheln am
       Boden steht das Wasser. Risse, kaputte Fliesen.
       
       Lulzim erzählt, dass er hier keine Arbeit bekommt. Ob man Albaner, Serbe
       oder Rom ist, spielt seit dem Krieg 1998 im Kosovo eine unfassbar große
       Rolle. Bei einer Arbeitslosenquote von über 35 Prozent ist es für Roma fast
       unmöglich, angestellt zu werden. Fast. Lutfi erzählt, wie es war, als er in
       einem Callcenter jobbte: Die albanischen Kollegen beschmissen ihn mit
       Papier, beschimpften und bespuckten ihn. „Ich habe das zwei, drei Tage
       durchgehalten“, sagt er. Dann, im Hof, als Pause war, gingen sie auf ihn
       los. „Ich konnte nichts machen. Sechs gegen einen, da geht gar nichts“,
       sagt er. Er wüsste einen Kollegen, dem Gleiches widerfahren sei. „Einer wie
       ich, ein Ausländer“, sagt Lutfi.
       
       Ferdi kommt mit einem kleinen Etui zu seinem Vater ans Sofa, darin
       Teststreifen und ein Blutzuckermessgerät. Routiniert streckt der
       Fünfjährige seinen Finger aus und macht keinen Mucks, als Lulzim ihn
       piekst. Ferdi kennt das Prozedere, das jeder Diabetiker täglich wiederholt.
       Doch die Versorgung der Krankheit ist im Kosovo keine
       Selbstverständlichkeit. Weder Ferdi noch Lutfi, der dieselbe Krankheit hat,
       können eine diabetesgerechte Kost einhalten. Sie sind froh, wenn sie
       überhaupt etwas zu essen haben.
       
       „Es ist schwer, deshalb ist er so dünn geworden“, sagt Ajshe und deutet auf
       Lutfi. Kurz nach der Abschiebung war er noch richtig kräftig, das ist auf
       einem Foto zu sehen. Die Brille von damals, als er 17 Jahre war, trägt
       Lutfi immer noch. Sie ist ihm zu klein geworden, auch seine Sehfähigkeit
       hat sich seitdem verschlechtert. Jeder Arztbesuch kostet, das Geld hat die
       Familie nicht. Ajshe braucht wegen einer schweren Psychose regelmäßig eine
       Depotspritze mit Neuroleptika, die gibt es im Kosovo nicht, nur Tabletten,
       die sie nicht verträgt.
       
       Nur 75 Euro würden die Medikamente im Kosovo kosten – das hatte der
       Landkreis Rotenburg dem Großvater Dzafer damals versprochen. Ihm und seiner
       Frau würde dieser Betrag deshalb über drei Jahre bezahlt, wenn sie
       Deutschland verließen. Dzafer glaubte das und reiste mit seiner Frau Djulsa
       – anders als der Rest der Familie – freiwillig aus. Der Landkreis zahlte,
       doch allein das Schmerzpflaster für Dzafer kostet 160 Euro im Monat.
       
       Wegen ihrer freiwilligen Ausreise bekamen sie für fünf Monate 150 Euro vom
       deutschen Rückkehrerprojekt „URA 2“ in Pristina. Djulsa hat das nicht
       gerettet. Fotos zeigen, wie sie zuletzt gestützt werden musste, um sich
       überhaupt noch aufzurichten. Hoher Blutdruck, Diabetes, fortschreitende
       Erblindung – sie litt an einem Krankheitsbild, das man in Deutschland in
       den Griff bekommen hätte.
       
       In einem medizinischen Gutachten hatte ihre Ärztin noch vor der Ausreise in
       den Kosovo gewarnt: „Auf Grund des stark reduzierten Allgemeinzustandes ist
       von einer Reiseunfähigkeit auszugehen, sollen nicht schwere gesundheitliche
       Gefahren, bis zur Todesfolge in Kauf genommen werden“, hieß es in dem
       Gutachten. Die Ärztin sollte Recht behalten.
       
       Weitere warnende Gutachten gab es für den Großvater, für Lutfi und Ferdi,
       sowie für ihre Mutter Ajshe. Trotzdem mussten sie gehen.
       
       Dass die Shalas im Kosovo überleben, ist der Unterstützung der Verwandten,
       einer Reihe von deutschen Spendern und ihrem Onkel Sami aus Rotenburg zu
       verdanken. „Er teilt mit uns“, erzählt Lulzim. Sami habe auch Diabetes, was
       er bei sich selbst an Insulinspritzen spare, schicke er in den Kosovo. Die
       Dosis reicht nicht immer. „Wenn man nichts hat, dann hat man nichts“, sagt
       Lutfi. Sein kleiner Bruder Ferdi fiel in den letzten Monaten mehrfach in
       Ohnmacht. „Hier hast du kein Leben“, sagt Lutfi.
       
       Sieben Monate später, Ende September 2014, wird die Familie nach den
       Strapazen einer tagelangen Flucht von Bundespolizisten im sächsischen
       Altenberg an der Grenze zu Tschechien aufgegriffen. Die Grenzwächter im
       Erzgebirge sind berüchtigt. Ali Moradi vom sächsischen Flüchtlingsrat
       spricht von einem „eigenen Territorium“, in dem sich die Polizei nach
       seinem Eindruck nicht an Gesetze hält. Immer wieder würde versucht,
       aufgegriffene Flüchtlinge direkt wieder über die Grenzen zu bringen, „ohne
       Einhaltung des Asylverfahrensgesetzes“. Menschen würden rechtswidrig in
       angemieteten Pensionen festgehalten und oftmals pauschal als Schleuser
       verdächtigt. Deutschland versperrt alle Wege, legal ins Land zu gelangen.
       
       Auch den Shalas werfen die sächsischen Polizisten unerlaubte Einreise vor.
       Vater Lulzim sei ein „Schleuser“, weil er den Wagen steuerte, in dem seine
       Familie saß. „Natürlich“ könnten Journalisten die Familie besuchen, gab ein
       Bundespolizist der taz noch am Telefon Auskunft. Und lacht: „Besuchen ja,
       aber in Tschechien“, denn dorthin würde die Familie in ein paar Minuten
       gebracht. „Zurückgeschoben“ ist das Wort, das er benutzt. Einer Prüfung des
       Asylantrags durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge oder einer
       richterlichen Entscheidung bedürfe es nicht, sagte der Grenzpolizist.
       
       Dem Anwalt der Familie, Jan Sürig, versuchen die Beamten zwischenzeitlich
       sogar vorzumachen, es habe keinen Asylantrag gegeben. Doch Lulzim Shala
       hatte „Asyl!“ gerufen, sofort als er aus dem Auto stieg. Das zählt.
       
       Die Shalas hätten ihm berichtet, dass sie alle – auch die minderjährigen
       Kinder – etwa zehn Stunden lang von der Bundespolizei eingesperrt worden
       seien, erzählt Anwalt Sürig. Die Polizei hingegen habe behauptet, die
       Kinder seien nicht eingesperrt, sondern nur mit der Mutter im Hof der
       Polizeiwache festgehalten worden. Erst als Sürig den Beamten droht, sie
       wegen Freiheitsberaubung anzuzeigen, lassen sie die Shalas frei.
       
       In der Ausländerbehörde in Rotenburg schlägt den Shalas eine ähnliche
       Freundlichkeit entgegen. „Was wollen Sie hier?“ begrüßt der Sachbearbeiter
       Herr M. die langjährigen Bürger der Stadt. An der Wand hinter dem Schalter
       ist mit Edding ein Maßband aufgemalt, zur leichteren Vermessung. Ein Schild
       mit der Aufschrift „N bis Z“ schmückt M.s Kabinentür. Die Shalas kennen den
       Sachbearbeiter noch, für „N bis Z“ war er schon vor Jahren zuständig –
       inklusive ihrer Abschiebung. Die Shalas fürchten ihn. Statt ihnen nun für
       die Zeit ihres Asylverfahrens eine Duldung auszustellen, wie es sein Job
       wäre, ruft er die Polizei.
       
       „Der Asylfolgeantrag wird abgelehnt“, sagt Herr M., obwohl nicht er,
       sondern das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge das entscheidet. Die
       Shalas könnten auch in Haft auf die Ablehnung ihres Antrages warten.
       Schließlich sei doch gerade erst entschieden worden, dass diese Länder
       sicher seien.
       
       Er meint das Gesetz über sichere Herkunftsstaaten, in dem vom Kosovo
       allerdings nicht die Rede war. Von einem Paradigmenwechsel, für den die
       rot-grüne Landesregierung in Hannover wirbt und den Innenminister Boris
       Pistorius erst kürzlich per Erlass an die Ausländerbehörden ausbuchstabiert
       hat, scheint er unbeeindruckt. Im Landkreis Rotenburg regiert die CDU. Zwei
       Polizisten tauchen auf und ziehen schließlich wieder ab. Die Shalas
       erhalten eine Duldung für einen Monat.
       
       Lulzim kann nicht mehr. Vorerst konnten sie bei seinem Bruder Sami
       unterkommen. „Manchmal ist mir sogar die Flasche Wasser zu viel, die auf
       einem Tisch steht“, sagt er und sinkt in den Sessel. Direkt nach der
       Ankunft in Rotenburg musste Lutfi ins Krankenhaus. In den letzten Wochen
       wurde das Insulin knapp. Auch Ferdi wird nun dort behandelt. Die Jahre im
       Kosovo, die Flucht, die Ungewissheit haben ihre Spuren hinterlassen.
       
       In Samis Wohnung hängen Bilder, es gibt gefüllte Regale, Heizung und einen
       Computer, der im Wohnzimmer steht. Sami schaut bei Youtube nach einem alten
       Video: „Gelem, Gelem“ heißt eine Dokumentation über Demonstrationen für ein
       Bleiberecht von 1989, bei denen Roma 70 Tage lang durch die Bundesrepublik
       zogen. Lulzim und Ajshe Shala waren dabei.
       
       Das Video zeigt Hamburger Polizisten, die einige Roma wegzerren, die im
       niederländischen Konsulat um Asyl gebeten hatten. Die Schreie, die
       weinenden Kinder – Ajshe kann die Aufnahmen nicht ansehen und verlässt das
       Wohnzimmer. Sami macht den Computer aus.
       
       In der Straße seien sie schon wiedererkannt worden, sagt Lulzim. „Sie haben
       gefragt, wo wir waren.“ Vor der Tür steht ein Kettkar. Das sei der größte
       Unterschied zum Kosovo, sagt Lulzim: „Dass die Kinder draußen spielen
       können.“
       
       Wie es ist, wieder in Rotenburg zu sein, beschreibt Ajshe mit nur einem
       Wort: „Wiedergeburt.“
       
       20 Oct 2014
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Jean-Philipp Baeck
 (DIR) Allegra Schneider
       
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