# taz.de -- Therapeut über das Reden über Psyche: „Für manche Probleme gibt es keine Lösung“
       
       > Man muss manchmal auch das Gefühl der Machtlosigkeit aushalten, sagt
       > Lukas Maher. Und es brauche nicht immer eine Therapie, meint der
       > Psychotherapeut.
       
 (IMG) Bild: Es sei gut, dass mehr über die Psyche gesprochen wird: Lukas Maher in seiner Praxis in Herrenberg
       
       taz: Herr Maher, wollten Sie immer schon Psychotherapeut werden? 
       
       Lukas Maher: Seitdem ich 15 bin. Es gibt wahnsinnig viel Orientierung im
       Leben, wenn man sagt, „das ist mein Nordstern, da will ich hin“.
       
       taz: Warum dieser Nordstern?
       
       Maher: Ich war als Kind und Jugendlicher lange in ergotherapeutischer
       Behandlung, weil ich verhaltensauffällig war. Eine Zeit lang bin ich nicht
       regelmäßig in die Schule gegangen und habe lieber World of Warcraft
       gezockt.
       
       taz: Was war da los? 
       
       Maher: Das hat bestimmt mit der Kombination aus Hochbegabung und ADHS zu
       tun, aber auch mit einem komplizierten Elternhaus, später der Scheidung
       meiner Eltern. Die Ergotherapeutin war in der ganzen Zeit meine sichere
       Bezugsperson, mit der es später auch einen intellektuellen Austausch gab.
       Ich glaube, sie hat mir auch von Sigmund Freud erzählt. So kritisch man den
       heute sehen kann – sein Schreibstil ist ziemlich gut, das hat mich damals
       gepackt. Auf jeden Fall wollte ich immer so etwas machen wie sie: eine
       Arbeit mit Menschen, bei der langfristige Beziehungen entstehen können und
       ich jemand auf seinen verschiedenen Ebenen in der Tiefe verstehen kann.
       
       taz: Warum haben Sie sich dann für die Ausbildung als systemischer
       Psychotherapeut entschieden? Dieses Verfahren geht weniger in die
       individuelle Tiefe, sondern schaut sich den sozialen Kontext an. 
       
       Maher: Ich hatte zunächst eine tiefenpsychologische Ausbildung begonnen und
       liebäugle damit, die noch zu beenden.
       
       taz: Warum der Wechsel? 
       
       Maher: Tiefenpsychologie ist wie Psychoanalyse [1][in der Ausbildung
       wahnsinnig teuer], weil die Ausbildungsinstitute viel mehr als die 120
       Stunden gesetzlich vorgeschriebener Selbsterfahrung verlangen, und das als
       therapeutische Einzelstunde. Die kostete vor ein paar Jahren 100 Euro,
       jetzt wahrscheinlich noch mehr. Weil mich meine Eltern finanziell nicht
       unterstützt haben, wollte ich wissen, mit wie vielen Stunden ich
       kalkulieren muss – und mein Institut hat die Auskunft dazu verweigert. Die
       systemische Therapie als von den gesetzlichen Krankenkassen anerkanntes
       Richtlinienverfahren war 2020 noch ganz neu, das fand ich spannend – und
       das Systemische auch.
       
       taz: Was mögen Sie daran? 
       
       Maher: Es ist sehr wertschätzend und unterstellt Menschen erst einmal eine
       gute Absicht. Das hat mich anfangs sehr herausgefordert, weil ich dazu
       geneigt war, defizitär auf sie zu gucken, auf strategisches, manipulatives
       Verhalten, wahrscheinlich auch resultierend aus eigenen Erfahrungen. Da
       einen anderen Blickwinkel einzunehmen, gnädiger zu sein: das war die
       wichtigste Entwicklung in meiner Ausbildung. Ich glaube, wenn ich erst die
       Tiefenpsychologie gemacht hätte, wäre ich ein ziemlicher Snob geworden.
       
       taz: Warum bewahrt das Systemische eher davor? Weil es hier nur
       Beschreibungen von Wirklichkeit gibt und keine Wahrheit? 
       
       Maher: Oder mehrere Wahrheiten, je nach Perspektive. Im therapeutischen
       Prozess muss ich das mit Klient:innen aushandeln. Für mich heißt das,
       dass ich mich mehr mit meinen Klient:innen auseinandersetzen und
       streiten muss als in anderen Verfahren.
       
       taz: Sie sind seit 2020 auch [2][als Influencer in sozialen Medien
       unterwegs] und haben dort Auslegungen des systemischen Ansatzes als
       „neoliberalen Lösungsfetischismus“ bezeichnet. 
       
       Maher: Da war ich ein bisschen sauer. Es ist gut, dass das Systemische sehr
       lösungsorientiert ist, aber für manche Probleme gibt es keine Lösung,
       jedenfalls keine, die das Individuum herbeiführen kann. Ich kann doch
       jemand, der Fluchterfahrung und seine Familie verloren hat, der in Armut
       lebt, den Job verloren hat, aus seiner oder ihrer Wohnung rausmuss, nichts
       von Lösung erzählen, da muss ich doch erst mal das Problem würdigen. Ich
       kann auch jemand mit Rassismuserfahrung kein Arbeitsblatt mitgeben, „Hier
       kannst du mal deine Gedanken umstrukturieren, dann ist das nicht mehr so
       schlimm“. Doch, das ist schlimm. Das ist existenzbedrohend. Aber wenn ich
       das eingestehe, muss ich als Therapeut das Gefühl der Machtlosigkeit mit
       aushalten. Und das wollen manche vielleicht nicht.
       
       taz: In Ihrem gerade erschienenen Buch schreiben Sie, es gehe nicht darum,
       immer mehr Menschen in Therapie zu schicken, vor allem nicht solche, die
       gar nicht krank sind, sondern zu [3][verhindern, dass die Seele Schaden
       nimmt]. 
       
       Maher: Mit der Therapiesprache verstecken wir hinter wohlklingenden,
       psychologisierenden Wörtern gesellschaftliche Probleme. Wenn zum Beispiel
       von Narzissmus die Rede ist, geht es häufig um Partnerschaftsgewalt, die
       gesellschaftlich toleriert, wenn nicht sogar gefördert wird durch
       strukturelle Diskriminierung von Frauen. In der klinischen Praxis habe ich
       erlebt, dass das für Patient:innen schwerer ist sich einzugestehen als
       zu sagen: „Mein Mann ist halt Narzisst, der kann nicht anders.“ Aber auch
       wenn ich denke, dass wir ein bisschen zu viel psychologisieren, finde ich
       es gut, dass wir mehr über die Psyche sprechen.
       
       taz: Eine schwierige Gratwanderung, oder? In sozialen Medien schreiben
       viele ausführlich über ihre Diagnosen. [4][Das hat einerseits etwas
       Entstigmatisierendes.] Andererseits scheinen sie ihr Leben darauf zu
       beschränken. 
       
       Maher: Man könnte fragen, warum ein Mensch diese Überidentifikation so
       öffentlich zur Schau tragen muss. Vielleicht hat es etwas mit mangelnder
       Konfliktfähigkeit zu tun oder mit der Erfahrung, nicht gesehen zu werden.
       In der Praxis habe ich allerdings nur ganz selten Menschen, die sich so
       darstellen, wie ich das auf Instagram erlebe. Da fällt viel häufiger der
       Satz: „Ich will nicht, dass ADHS zu meiner Ausrede wird.“
       
       taz: Und was wollen die anderen? 
       
       Maher: Da gibt es einen Versorgungswunsch, den man aushandeln muss.
       
       taz: Was meinen Sie damit? 
       
       Maher: Manche Menschen, die sich emotional in ihrem Umfeld nicht gut
       versorgt fühlen, nutzen Therapie als Rückzugsort, ohne klares Therapieziel.
       Das ist aber etwas, was Psychotherapie aus meiner Sicht nicht leisten kann
       und sollte. Weil das ja bedeutet, dass es der Person gar nicht besser gehen
       darf, weil sie sonst die Psychotherapie verliert.
       
       taz: Die schicken Sie weg? 
       
       Maher: Nein, aber man muss gemeinsam überlegen, wie sich die Person das,
       was sie in der Therapie so wertschätzend und unterstützend findet, auch in
       ihrem Umfeld holen kann.
       
       taz: Nun befördern Sie als Influencer dieses ständige Sprechen über die
       Psyche. Warum eigentlich? 
       
       Maher: Och, da spielt sicherlich auch Geltungsdrang eine Rolle …
       
       taz: Danach sieht das aber nicht aus. 
       
       Maher: Okay, ich gestalte gerne und konnte viele Ausbildungs-Inhalte
       leichter lernen, wenn ich sie kreativ aufbereite. Und es gab eine Lücke in
       meinem Leben, die ich damit gut füllen konnte.
       
       taz: Was für eine Lücke? 
       
       Maher: Ich habe zeitgleich mit der Ausbildung zum Psychotherapeuten eine
       Promotion begonnen. Da hatte ich noch nicht verstanden, welch prekäre
       Arbeitsverhältnisse man in der Forschung akzeptieren muss, und auch nicht,
       dass man darüber nicht diskutieren darf.
       
       taz: Sie wollten gleichzeitig promovieren und die Therapie-Ausbildung
       machen?! 
       
       Maher: Ich weiß, das klingt krass, weil viele sagen, die Ausbildung sei so
       hart.
       
       taz: Man arbeitet als Therapeut, besucht gleichzeitig Seminare, macht
       selbst Therapie, Inter- und Supervision … 
       
       Maher: Ja, aber mir hat etwas gefehlt, der intellektuelle Input. Den
       brauche ich, um mich ausgelastet zu fühlen.
       
       taz: Jetzt produzieren Sie neben der Arbeit in der Praxis teils recht
       aufwendige Posts, in denen Sie auch wissenschaftliche Studien aufbereiten.
       Wann machen Sie das? Nachts? 
       
       Maher: Ich habe zwei Tage in der Woche, an denen ich keine Therapien mache,
       da habe ich Zeit für so etwas. Aber es stimmt schon, ich neige zu einem
       entgrenzten Arbeitsverhalten. Ich achte da gerade besser drauf, habe Sport
       radikal in mein Leben zurückgebracht und kümmere mich wieder mehr um
       Freundschaften. Deshalb stelle ich auch jemand für die Büroarbeiten ein.
       
       taz: Wann haben Sie gemerkt, dass Ihre Beiträge viele Menschen
       interessieren? 
       
       Maher: Die Followerzahlen haben sich kontinuierlich entwickelt. Einmal
       hatte ich etwas zu ADHS bei Frauen gepostet, da kamen auf einmal so 5.000,
       6.000 dazu.
       
       taz: Und gibt es immer noch einen Kick, wenn die Beiträge geliked werden? 
       
       Maher: Ich merke vor allem, wie frustrierend es ist, wenn es zu wenige
       Likes sind … Das ist keine gute Entwicklung.
       
       taz: Ich habe keine Hasskommentare unter Ihren Posts entdeckt, was mich
       überrascht hat, weil Sie dort immer mal wieder Sachen sagen, die nicht
       allen gefallen können. 
       
       Maher: Stimmt, ich bekomme so etwas sehr selten. Das liegt wohl eher daran,
       dass ich ein Mann bin, als dass ich so ausgewogen formuliere.
       
       taz: In Ihrem Buch werden Sie an einigen Stellen noch deutlicher und
       kritisieren beliebte Konzepte, etwa von Hochsensibilität oder Achtsamkeit.
       Auch mit Stars der Psychoszene wie der [5][Bestsellerautorin Stefanie
       Stahl] gehen Sie teils hart ins Gericht und Sie warnen vor der
       Coaching-Szene mit ihren Heilsversprechen. 
       
       Maher: Ich möchte niemand etwas wegnehmen, und ich finde, ich werte auch
       nichts und niemand ab, ich ordne nur den Nutzen und die Hintergründe ein,
       zum Beispiel, wenn es um die Arbeit mit dem inneren Kind geht, die Stefanie
       Stahl so populär gemacht hat. Mir ist das auch in den sozialen Medien
       wichtig: ich will nicht destruktiv sein. Und wenn ich über bestimmte
       inflationär gebrauchte Begriffe schreibe …
       
       taz: … Ihr Buch heißt „Trigger, Trauma, toxisch“ … 
       
       Maher: … dann versuche ich zu verstehen, warum Menschen die benutzen.
       
       taz: Wie kam es denn eigentlich dazu, dass Sie sich mit diesen Mythen der
       „Pop-Psychologie“, wie Sie sie nennen, beschäftigt haben? 
       
       Maher: Ich glaube, das fing an, als ich immer mehr Posts über Trauma
       gelesen habe. Da habe ich mich anfangs sehr drüber geärgert, weil als
       „traumatisch“ häufig normale belastende Erfahrungen bezeichnet werden, die
       nicht krankheitswertig sind und keine Traumafolgestörungen auslösen, welche
       das Leben sehr einschränken können, mit Albträumen und Flashbacks. Da wird
       etwas bagatellisiert. Vielleicht war ich auch neidisch, weil solche
       Accounts viele Follower haben.
       
       taz: Sie schreiben im Buch über [6][Vor- und Nachteile von
       Selbstdiagnosen], differenzierter als auf Instagram, finde ich. Dort lerne
       ich bei Ihnen, dass Selbstdiagnosen der Hit sind. 
       
       Maher: Oh, krass. Das war mir nicht bewusst. Und nicht beabsichtigt.
       
       taz: Ich habe in einem Interview gelesen, dass Sie noch vor ein paar Jahren
       Selbstdiagnosen abgelehnt haben. Warum? 
       
       Maher: Ich war halt so ein arroganter klinischer Psychologe, der dachte,
       dass er die Wahrheit mit Löffeln gefressen hat. Je unsicherer man ist,
       desto stärker klammert man sich an seine vermeintliche Expertise. Und
       irgendwie muss man dieses Investment von fünf Jahren Studium und fünf
       Jahren Ausbildung ja auch rechtfertigen.
       
       taz: Und wie kam es, dass Sie anders über Selbstdiagnosen dachten? 
       
       Maher: Es geht mir immer mal wieder so, dass ich ein Thema ganz arg hasse
       und weiß, das bedeutet, dass ich mich damit auseinandersetzen muss, dass da
       etwas dran ist. Ich spüre dabei wirklich körperlichen Schmerz. Als ich das
       erste Mal Texte über Neurodiversität gelesen habe, habe ich das abgewehrt,
       weil mir die Leute fehlten, die darunter leiden, für die das keine
       Lifestyle-Sache ist. Geholfen hat mir, nicht nur eine psychologische
       Perspektive zu dem Thema einzunehmen, sondern auch eine
       soziologisch-aktivistische.
       
       taz: Sie haben selbst erst als Erwachsener eine ADHS-Diagnose bekommen? 
       
       Maher: Ja, mit 26 oder 27. Den Verdacht hatte ich schon länger, auch weil
       Familienmitglieder das haben. Aber ich habe nicht in mein Raster gepasst,
       das ich mir von ADHS gemacht hatte, weil ich immer gut durchs Leben
       gekommen bin, und zwar ein schlechtes Abi hatte, aber in den Fächern, die
       mich interessiert haben, immer sehr gute Noten.
       
       taz: Ihnen fehlte der Leidensdruck? 
       
       Maher: Den hatte ich, aber ich bin zum ersten Mal so richtig an die Grenze
       gekommen, als ich an meinem Ausbildungsinstitut eine Anstellung bekommen
       habe, mit Führungsfunktion. Da habe ich gemerkt: „Okay, ich kann jetzt
       entweder versuchen, dieses Team zu organisieren oder ich kann meine Wohnung
       aufräumen oder ich kann mir was zu essen kochen oder ich kann den Müll
       rausbringen.“ Als ich die Diagnose hatte, war ich dennoch überrascht.
       
       taz: Welchen Nutzen hat die für Sie? 
       
       Maher: Zu wissen, dass ich Medikamente nehmen kann. Die helfen, die
       Anforderungen dieser Welt besser auszuhalten. Und ich verurteile mich nicht
       mehr, seitdem ich besser verstehe, wie ich funktioniere. Ich habe mich zum
       Beispiel immer sehr fertig dafür gemacht, dass ich Sachen immer nur auf den
       letzten Drücker hinbekomme. Heute weiß ich, okay, du musst jetzt diese
       Stressamplitude abwarten, dann wirst du dich ransetzen. Das ist dann die
       Hölle. Aber die Tage davor nicht, weil ich mich nicht mehr für mein
       Hinauszögern abwerte. Aber ich bin als selbständiger Psychotherapeut in
       einer sehr privilegierten Situation. Andere stehen vor viel größeren
       Barrieren, können sich ihre Zeit nicht so wie ich aufteilen und sitzen von
       morgens bis abends in einem Großraumbüro, das kann mit ADHS sehr
       anstrengend sein.
       
       taz: Bisher konnten Sie nur Privatversicherte und Selbstzahlende behandeln. 
       
       Maher: Das ändert sich hoffentlich bald: Ich habe mich bei der
       kassenärztlichen Vereinigung [7][auf einen der wenigen Kassensitze]
       beworben. Ich würde selbst davon profitieren, weil ich die Therapie als
       diverser erlebe, wenn Menschen aus der breiten Bevölkerung dabei sind.
       
       taz: Dieses Setting, bei dem sich meistens zwei Menschen gegenübersitzen
       und gepflegte Gespräche führen, muss man kennen und wollen. 
       
       Maher: Stimmt. Bei traditionell männlich Sozialisierten passiert viel mehr
       im Stehen, der Sprachstil ist anders, und es geht mehr um konkrete Sachen.
       Ich könnte mir auch vorstellen, mit Leuten mal ins Fitnessstudio zu gehen.
       Es ist nachgewiesen, dass sportbezogene Interventionen bei Männern bessere
       Auswirkungen auf die Psyche haben, und ich hatte als Trainer auch schon
       echt tiefgründige Gespräche zwischen den Geräten. Es wäre cool, so etwas
       auch in der Therapie zu machen.
       
       22 Mar 2025
       
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