# taz.de -- Neurodivergenz und Psychiatrie: Kein Hirn gleicht dem anderen
       
       > Das Leben mit Neurodivergenzen wie AD(H)S und Autismus kann psychisch
       > krank machen, wie ein Fachtag in Bremen zeigte. Mehr Verständnis könnte
       > helfen.
       
 (IMG) Bild: Auch Neurotypische profitieren von Lärmschutz
       
       Bremen taz | Neurodivergenz gilt als Modethema, gehyped von Medien aller
       Art. Man kann lange darüber spekulieren, ob wirklich jede und jeder
       Einzelne, [1][der oder die sich für neurodivergent hält], dies auch
       wirklich ist – oder zur Kenntnis nehmen, dass das Leben mit
       Normabweichungen wie AD(H)S und [2][Autismus großes Leiden erzeugen kann].
       Denn Neurodivergente werden überdurchschnittlich oft psychisch krank.
       Darauf wies Mitte Mai Jochen Gertjejanßen hin, Oberarzt am psychiatrischen
       Fachklinikum Ameos in Bremen.
       
       Er tat dies auf einem Fachtag im Speicher XI in der Bremer Überseestadt,
       organisiert von Ameos und dem Verein Initiative zur sozialen
       Rehabilitation. Der Titel der mit 200 Teilnehmenden ausgebuchten
       Veranstaltung: [3][„Was hat Neurodivergenz in der Psychiatrie verloren?!“]
       
       Eigentlich nichts – zu diesem Schluss kamen alle Referent:innen, die auch
       auf persönliche Erfahrungen zurückgreifen konnten. Krankhaft sei erst
       einmal nichts an Autismus, AD(H)S, Legasthenie, Dyskalkulie oder
       Tourette-Syndrom, sagte Jochen Gertjejanßen. [4][Niemand sei aufgrund
       dieser Diagnose Psychiatrie-Patient:in], sondern aufgrund von Depressionen,
       Ängsten, Zwangsstörungen, posttraumatischen Belastungsstörungen und
       Suchterkrankungen, um nur eine Auswahl der Begleit- oder Folgeerkrankungen
       zu nennen.
       
       Dem Psychiater zufolge weisen sieben Prozent aller Kinder und zwei Prozent
       aller Erwachsenen Symptome einer Aufmerksamkeitsdefizitstörung mit (ADHS)
       oder ohne Hyperaktivität (ADS) auf, – Tendenz steigend. [5][Nach einer
       Studie aus dem Jahr 2019] hätten demgegenüber 59 Prozent aller
       Patient:innen einer psychiatrischen Station in Schleswig-Holstein eine
       [6][AD(H)S-Diagnose] gehabt.
       
       Weil AD(H)S und Autismus häufig einhergehen, sei eine überdurchschnittlich
       hohe Rate an stationär behandelten psychischen Erkrankungen vermutlich auch
       für Autismus anzunehmen. Hier wird die weltweite Prävalenz auf 0,6 bis 0,7
       Prozent geschätzt.
       
       ## Krankmachende Umstände
       
       Gertjejanßen listete auch die krankmachenden Umstände auf: Mobbing, oft
       schon im Kindes- und Jugendalter, Unverständnis, zwanghaftes Abgewöhnen von
       stressregulierendem Verhalten wie dem so genannten „Stimming“. Darunter
       versteht man sich wiederholende Bewegungen oder Geräusche, etwa das
       Schaukeln mit dem Oberkörper. Gertjejanßen erinnerte daran, dass dies
       natürliche Verhaltensweisen seien, die man zum Beispiel beim Beruhigen von
       Babys anwende. Menschen aus dem ADHS-Spektrum hörten aber häufig schon als
       Kinder, sie sollten aufhören herumzuzappeln. Damit würde man ihnen eine
       wichtige Ressource nehmen, ihr Stresslevel zu senken.
       
       Das aber ist bei Neurodivergenten in den meisten Lebens- und
       Arbeitsumständen in einer zunehmend komplexen Welt dauerhaft erhöht. Der
       Grund: Sie nehmen sensorische Reize anders wahr und verarbeiten diese auch
       anders als die Mehrheitsbevölkerung. Viele Autist:innen beschreiben dies
       wie einen fehlenden Reizfilter, sodass sie etwa alle Geräusche oder
       visuellen Eindrücke in derselben Intensität wahrnehmen. Das löst einerseits
       Stress aus, andererseits kostet die Verarbeitung sehr viel Energie.
       
       Insofern könnten die neurodivergenten Symptome, wie sie etwa für Autismus
       beschrieben werden, als Kompensationsstrategie beschrieben werden, sagte
       ein weiterer Referent, der Hamburger Pädagogik-Professor André Frank
       Zimpel. So gilt als ein Leitsymptom für Autismus, dass jemand Probleme
       damit hat, die Gefühlsregungen anderer anhand ihrer Mimik zu erkennen.
       
       Dies wäre dann eine Folge des Umstands, dass Autist:innen mehr Details
       wahrnehmen als sogenannte Neurotypische und sich mit der Beschränkung
       beispielsweise auf die Mundpartie vor zu vielen Eindrücken schützen. Die
       alleine gibt aber zu wenig Informationen über einen Gefühlszustand.
       Neurotypische haben dies Problem nicht, ihre intuitive Reizverarbeitung
       überfordert ihr Gehirn nicht – weil weniger gleichzeitig zu verarbeiten
       ist.
       
       ## Andere Wahrnehmung
       
       Würde man auf andere Arten von Wahrnehmung nicht eingehen – auch die von
       Menschen mit Trisomie 21 – erzeuge man erst Behinderung, sagte Zimpel. Dann
       nämlich verlange man so viel Anpassung eines neurodivergenten Gehirns, dass
       es für die Entwicklung anderer Fähigkeiten keine Energie mehr übrig habe.
       
       In einem Workshop zu Autismus ging darauf Aleksander Knauerhase ein, selbst
       im Autismus- und AD(H)S-Spektrum und freiberuflicher Referent zum Thema.
       Sein Workshop war von sieben der mit am Abstand am meisten nachgefragte.
       Aus den Fragen der Teilnehmer:innen ging hervor, dass von diesen viele
       mit Menschen aus dem Autismus-Spektrum arbeiten, andere brachten
       persönliche Erfahrung als Angehörige mit.
       
       Knauerhase erzählte, wie unter anderem „stumme“ autistische Kinder immer
       noch gezwungen würden, gesprochene Sprache zu lernen – anstatt ihnen die
       Möglichkeit zu geben, sich nach ihren Fähigkeiten auszudrücken. „Viele
       nutzen andere Arten der Kommunikation, die wir dann eben lernen müssen, um
       sie zu verstehen.“ Dann hätten sie nämlich die Möglichkeit, sich auch in
       anderen Bereichen weiterzuentwickeln.
       
       Auch das Bedürfnis der meisten Menschen im Autismus-Spektrum nach Ritualen
       und Vorhersehbarkeit, erklärte Knauerhase. „Es geht um Sicherheit.“ Das
       Sicherheitsbedürfnis sei wiederum deshalb so ausgeprägt, weil das
       Stresslevel eben aufgrund der vielen Außenreize so hoch sei.
       
       Das erschwere auch den Genesungsprozess für Neurodivergente in
       psychiatrischen Einrichtungen, sagte Jochen Gertjejanßen in seinem
       Eingangsvortrag. „Das kann sehr viel Stress bedeuten“, Einbettzimmer seien
       selten, eine reizarme Umgebung sehe anders aus.
       
       [7][Diese fehlt allerdings in fast allen Lebensbereichen], beispielsweise
       in Kindertagesstätten und Schulen. Aleksander Knauerhase wies darauf hin,
       dass auch neurotypische Menschen von reizdämpfenden Maßnahmen profitieren
       würden. „Wenn Sie in einer Schulklasse Lärmschutz zur Verfügung stellen,
       greifen nicht nur die neurodivergenten Kinder zu.“ Analog dazu täte es
       nicht nur AD(H)S-, sondern auch neurotypischen Kindern gut, wenn sie nicht
       acht Stunden auf ihrem Stuhl hocken müssten.
       
       27 May 2025
       
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