# taz.de -- Selbstdiagnosen in sozialen Medien: Wie neurodivers bist du?
       
       > Depression, ADHS, Zwangsstörung – auf den sozialen Medien boomen die
       > Plattformen für Selbstdiagnosen. Aber kann das wirklich sinnvoll sein?
       
 (IMG) Bild: Was stimmt nicht mit mir? Antworten geben die sozialen Medien
       
       Eine junge Frau läuft sichtlich gestresst durch ein Zimmer und setzt immer
       wieder zu neuen Tätigkeiten an. Sie faltet Wäsche, nimmt ein Buch in die
       Hand, föhnt ihre Haare, arbeitet am Laptop. Sie wirkt dabei hektisch und
       geht jeweils zur nächsten Aufgabe über, ohne die angefangene zu beenden.
       
       „Fällt es dir schwer, dich auf deine Aufgaben zu konzentrieren? Ein klares
       Zeichen für ADHS“, erklärt sie mit festem Blick in die Kamera. Erst durch
       diese Diagnose sei ihr das eigene Verhalten klargeworden. Ohne dies weiter
       auszuführen, beginnt sie eine Reihe von Symptomen aufzuzählen, die auf eine
       Aufmerksamkeitsdefizitstörung schließen ließen. Sie ermutigt ihre
       Zuschauer:innen auf Tiktok nicht, sich bei ähnlichen Problemen Hilfe zu
       suchen.
       
       Die Auseinandersetzung mit psychischen Erkrankungen ist auf Social Media zu
       einem beliebten Thema geworden. Das trägt zwar dazu bei, diese Erkrankungen
       zu entstigmatisieren, zugleich aber trägt diese Selbstdiagnosekultur zu
       einer Verzerrung des Verständnisses von psychischer Gesundheit und einer
       Überpathologisierung alltäglicher Gefühle bei. Leichtfertig gestellte
       Selbstdiagnosen können die Erfahrung der eigenen Gefühlswelt erschweren.
       
       Die Zahl von Videos zur Selbst- und Fremddiagnose auf den verschiedenen
       Kanälen von Social Media ist kaum überschaubar: „[1][ADHS bei Frauen] in 25
       Sekunden erkennen. Ist dein Kind autistisch? So kannst du mit
       Neurodivergenz umgehen.“ Manche liefern Listen von Symptomen zur Diagnose
       psychischer Störungen, andere erläutern, weshalb man sich bei einer
       Erkrankung auf eine bestimmte Weise verhält.
       
       Menschen berichten von schweren Traumatisierungen und deuten an, dass sich
       eine bestimmte Schlafposition nur als Trauma-Reaktion verstehen lasse. In
       solchen Videos wird klinisches Vokabular inflationär verwendet:
       Unstimmigkeiten werden zu traumatischen Ereignissen stilisiert.
       
       Andere Menschen, die sich nicht den eigenen Erwartungen entsprechend
       verhalten, werden kurzerhand zu Narzissten erklärt. Zum Teil werden den
       Scrollenden nach dem Schema „wo ein Symptom ist, da muss auch eine Störung
       sein“ handfeste Diagnosen wie ADHS, Autismus, bipolare Störungen und
       Depressionen gestellt.
       
       Neurodivers ist das neue Normal. Das Konzept der neuro(-logischen)
       Diversität geht auf eine in den 1990ern entstandene soziale Bewegung
       zurück, die sich zunächst vor allem gegen die Diskriminierung von
       Autist:innen wandte. Als Bemühung um Entstigmatisierung psychischer
       Störungen hat das Konzept in den vergangenen zwanzig Jahren
       wissenschaftlich, kulturell und politisch viel Beachtung gefunden.
       
       Neurodiversität hebt die natürliche Vielfalt neurologischer Funktionen und
       Verhaltensweisen hervor. Störungen wie ADHS oder Autismus werden nicht als
       Defizite, sondern als Teil menschlicher Verschiedenheit betrachtet. Es wird
       davon ausgegangen, dass „neurotypische“ Entwicklungen eher die Ausnahme als
       die Regel darstellen. Entsprechend lautet die Botschaft auf Social Media
       oft: Wer noch keine Diagnose hat, hat sich bloß noch nicht richtig mit den
       eigenen Symptomen auseinandergesetzt.
       
       Die Verwendung ausschließlich symptom-orientierter und klinisch nicht
       bestätigter Diagnosebegriffe lässt allerdings schnell vergessen, dass
       beispielsweise alle „klassischen“ ADHS-Symptome in einer gewissen
       Ausprägung auch ohne entsprechende Störung vorkommen. Ob es sich beim
       Vorliegen von Symptomen tatsächlich um eine zugrunde liegende Störung oder
       Krankheit handelt, hängt von einem komplexen Zusammenspiel verschiedener
       Kriterien ab, das kaum anhand eines 20-sekündigen Videos zu erfassen ist.
       
       ## Entstigmatisierung erleichtert sich Hilfe zu holen
       
       Nicht zuletzt ist dabei entscheidend, wie gut man mit einer gewissen
       Symptomatik im Alltag zurechtkommt. Nimmt man das Konzept der
       Neurodiversität ernst, stellt sich jedoch die Frage: Wenn die Abweichung
       zur Norm geworden ist, gilt es nicht, die geltenden Vorstellungen von Norm
       zu überdenken?
       
       Oft sind es die Überforderung mit den eigenen Emotionen und das Gefühl,
       dass etwas nicht stimmt, die Menschen dazu bewegen, auf Social Media nach
       Antworten zu suchen. Da liegt die Hemmschwelle tiefer als bei einem Gang
       zum Arzt. Die Recherche im Netz stellt, vor allem in Regionen mit
       unzureichender Gesundheitsversorgung, einen ersten Zugang zu wichtigen
       Informationen dar. Dass Störungen beschrieben und entstigmatisiert werden,
       erleichtert vielen den Schritt, sich die benötigte Hilfe zu holen.
       
       Sucht man bei Social Media nach Mental Health Content, finden sich unter
       den Abertausenden Videos und Posts jedoch auch zahlreiche, die Symptome zu
       Störungen erklären. Viele der Portale haben inzwischen Hinweise geschaltet,
       die auf eine solche Suche hin erscheinen. Bei Instagram gibt es einen Link
       zu „Ressourcen“ für schwierige Zeiten, also „ganz einfache Dinge, die
       andere hilfreich fanden“.
       
       Darunter finden sich Tipps wie „Trinke ein großes Glas Wasser“ oder „Öffne
       ein Fenster oder eine Tür, um etwas frische Luft einzuatmen“. Tiktok weist
       darauf hin, dass das Aufrufen solcher Inhalte keine medizinische Abklärung
       ersetze. Gegen die Eindeutigkeit und Erleichterung, die mit Scheindiagnosen
       einhergehen kann, kommen solche Hinweise aber schwer an.
       
       Dabei haben psychische Erkrankungen in den letzten Jahrzehnten tatsächlich
       zugenommen, insbesondere infolge von Covid-19. Die Suizidrate ist auf dem
       höchsten Stand seit 1995, viele junge Menschen fühlen sich psychisch
       belastet.
       
       ## Psychisches Leid durch Social Media?
       
       Während häufig ein Zusammenhang mit dem Aufkommen von Social Media
       hergestellt wird, lassen Forschungsergebnisse keineswegs eindeutige
       Rückschlüsse auf eine derartige Kausalität zu. Zudem wäre es wohl
       angesichts multipler gesellschaftlicher Krisen zu kurz gegriffen,
       ausschließlich Social Media für den Anstieg psychischer Erkrankungen
       verantwortlich zu machen.
       
       Social Media mag aber auf andere Art zu diesen beitragen: Wird psychisches
       Leid einerseits entstigmatisiert und ein offenes Gespräch über
       [2][Depression] und andere Erkrankungen ermöglicht, führt die leichtfertige
       Identifizierung mit Symptomen andererseits bei vielen überhaupt erst zur
       vermeintlichen Diagnose. Durch die Übernahme klinischer Klassifikationen
       entsteht ein regelrechter Selbstdiagnosehype, bei dem unangenehme Gefühle
       zu Krankheiten werden und Klassifikationen immer nur das bestätigen, was
       vorab schon bekannt war.
       
       Bei körperlichen Gebrechen scheint allgemein bekannt, dass eine
       Symptomrecherche schnell zu unverhältnismäßig besorgniserregenden
       Ergebnissen führen kann. Aus temporärer Müdigkeit wird unversehens ein
       Warnzeichen für eine schwerwiegende Autoimmunkrankheit. Weil es ein
       Bewusstsein für die Fehlbarkeit solcher Selbstdiagnostik gibt, besinnen
       sich viele Menschen darauf, sie nicht überzubewerten.
       
       Aus psychischen Symptomen werden aber nicht selten unkritisch Störungen
       abgeleitet. Besonders junge Menschen ziehen Selbstdiagnosen oft als
       Erklärungen für Verhaltensweisen oder Gefühle heran. Der Ohnmacht, die
       angesichts belastender und doch normaler Gefühle wie Angst oder Trauer
       empfunden wird, wird mit Klassifikationen aus psychologischen Handbüchern
       begegnet.
       
       Die Popularisierung psychologischen Vokabulars ermutigt aber auch Anbieter
       von Therapien und Medikamenten, solche schmerzhaften Gefühle zu psychischen
       Erkrankungen zu stilisieren.
       
       ## Diagnosen längst zu kulturellen Kategorien geworden
       
       Therapie-Plattformen wie BetterHelp, das von Influencern wie Hailey Bieber
       beworben wird, oder Ahead, das selbsternannte „Duolingo for therapy“,
       suggerieren ihren häufig jungen Zielgruppen nicht nur bestehende psychische
       Probleme, sondern erwecken zugleich auch die Illusion einfacher Lösungen.
       Schon deren animierte Fragebögen lassen die Grenze von
       „Wellbeing“-Lifestyle und psychischen Störungen verschwimmen.
       
       Bei der Pathologisierung des Alltagslebens auf Social Media scheint es
       jedoch nicht nur um die Diagnose von Krankheiten zu gehen, sondern auch um
       Anerkennung und Zugehörigkeit. So sind (Schein-)Diagnosen längst zu
       kulturellen Kategorien geworden. Wie Sternzeichen oder Persönlichkeitstypen
       werden sie zu Erklärung eigenen oder fremden (Miss-)Verhaltens genutzt.
       
       Dahinter liegt mitunter auch der Wunsch, auf das eigene Leid hinzuweisen,
       ohne sich mit dessen Ursachen oder der Komplexität psychischer oder
       gesellschaftlicher Verhältnisse zu befassen.
       
       Zwar ist nachgewiesen, dass die Verbalisierung – das Aussprechen und
       Beschreiben – von Gefühlen ein wirksames Werkzeug zu deren Bewältigung ist,
       doch werden emotional herausfordernde Situationen vor allem von jungen
       Menschen auf Social Media in klinische Kategorien gepresst, ohne dass
       tatsächlich eine Auseinandersetzung mit den zugrundeliegenden Gefühlen
       stattfindet.
       
       Eine solche Auseinandersetzung bestünde darin, sich der Emotion, wie
       unerwünscht und unangenehm sie auch ist, hinzugeben – sie zu beachten und
       zuzulassen. Wird Gefühlen nicht eine gewisse Aufmerksamkeit gewidmet, was
       gerade in Zeiten permanenter Reizüberflutung unmöglich scheint, kann das
       Erlebte nicht verarbeitet und auch nicht überwunden werden.
       
       ## „depri“ oder „OCD“ gehören schon zur Jugendsprache
       
       Die unreflektierte Übernahme von Diagnosen hinterlässt zwar den Eindruck
       einer produktiven Auseinandersetzung mit der eigenen Gefühlswelt, einer
       Erfahrung der eigenen Emotionen, verhindert diese aber letztlich. Sie führt
       zu Realitätsflucht, da das Erlebte eben nicht verarbeitet, sondern bloß
       kategorisiert wird. Für Erkrankte kommt eine Diagnose häufig einer Erlösung
       gleich – wer sich aber ohne ärztliche Abklärung selbst eine Störung
       bescheinigt, läuft Gefahr, sich in der Identifikation mit der
       Scheindiagnose zu verlieren.
       
       Auch wenn Begriffe wie „depri“ oder „OCD“ (Obsessive-compulsive Disorder,
       zu Deutsch: Zwangsstörung) längst in den Sprachgebrauch junger Menschen
       übergegangen sind: Nicht jeder Hang zur Ordnung ist eine Zwangsstörung,
       nicht jedes Gefühl der Trauer eine vollwertige Depression. Schmerzhafte
       Gefühle wie Schuld oder Trauer können nur überwunden werden, wenn sie als
       solche empfunden und erfahren werden. Die unangenehme Erfahrung wird
       ergänzt um die bereichernde, gelernt zu haben, eine emotionale Krise zu
       überwinden.
       
       Leichtfertige Selbstdiagnosen, mal scherzhaft, mal ernsthaft verwendet,
       rücken an die Stelle der Aufmerksamkeit, die es bräuchte, sich den eigenen
       Emotionen und den gesellschaftlichen Bedingungen, innerhalb derer diese
       entstehen, zu widmen. Statt die eigene Handlungsfähigkeit wahrzunehmen,
       wird das Gefühl der Ohnmacht und Unsicherheit angesichts allgemeiner
       politischer Destabilisierung, unaufhörlicher Informationsflut und
       kultureller Übersättigung durch eine klinische Klassifizierung überdeckt.
       
       Wer ohne ärztliche Abklärung Diagnosen übernimmt, tut also nicht nur denen
       Unrecht, die tatsächlich an [3][psychischen Erkrankungen] leiden, sondern
       versperrt sich selbst den Weg, Erfahrungen zu machen: An die Stelle
       realer, wenn auch schmerzhafter Erfahrbarkeit, tritt die Diagnose als Art
       und Weise, sich die innere und äußere Welt zu erschließen.
       
       2 Feb 2025
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /ADHS-im-Erwachsenenalter/!6026543
 (DIR) [2] /Depression/!t5012168
 (DIR) [3] /Psychische-Erkrankungen/!t5032855
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Larissa Smurago
       
       ## TAGS
       
 (DIR) ADHS
 (DIR) psychische Gesundheit
 (DIR) Social Media
 (DIR) Psychische Erkrankungen
 (DIR) Autismus
 (DIR) Social-Auswahl
 (DIR) Autismus
 (DIR) Schwerpunkt Stadtland
 (DIR) Medizin
 (DIR) Comic
 (DIR) Kolumne Diskurspogo
 (DIR) Ratgeber
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Autorin über den Umgang mit Autismus: „Die Diagnose hat mir das Leben gerettet“
       
       Die ehemalige Lehrerin Stephanie Meer-Walter wurde zunächst falsch
       therapiert. Durch die Diagnose Autismus kommt sie jetzt mit ihrem Leben
       zurecht.
       
 (DIR) Therapeut über das Reden über Psyche: „Für manche Probleme gibt es keine Lösung“
       
       Man muss manchmal auch das Gefühl der Machtlosigkeit aushalten, sagt Lukas
       Maher. Und es brauche nicht immer eine Therapie, meint der Psychotherapeut.
       
 (DIR) Gesundheitsmythen im Netz: Einmal Supplement gegen alles, bitte
       
       Sogenannte „Medfluencer_innen“ erobern Social-Media-Plattformen – und
       verdienen mit dem Verkauf von Nahrungsergänzungsmitteln viel Geld.
       
 (DIR) Neuer Comic von Liv Strömquist: Gegen individualistisches Elend
       
       Liv Strömquists Comic „Das Orakel spricht“ will uns von Selbstoptimierung
       erlösen. Es geht auch um Angst, die sich hinter Skincare-Routinen
       versteckt.
       
 (DIR) Eine späte Diagnose: ADHS und die Perspektiven of Color
       
       Wenn Matze im Unterricht nicht mitkommt, muss man das mal checken lassen.
       Wenn Malik das gleiche Verhalten zeigt, wird die Sache nicht ernst
       genommen.
       
 (DIR) Ratgeber zum Umgang mit der Angst: Heute üben: Angstverwandlung
       
       In ihrem Buch „Sei stärker als die Angst“ arbeitet die Autorin Sabrina
       Fleisch mit positiven Bildern gegen die Angst – und greift dabei etwas zu
       kurz.