# taz.de -- Ökonom über die Schuldenbremse: „Die Regierung verarmt sich selbst“
       
       > Der Ökonom und Wirtschaftsweise Achim Truger empfiehlt, öffentliche
       > Investitionen systematisch mit Schulden zu finanzieren – und schlägt
       > einen Energie-Soli vor.
       
 (IMG) Bild: Steht auf der Bremse: Bundesfinanzminister Christian Lindner
       
       wochentaz: Herr Truger, viele sinnvolle Vorhaben lassen sich aufzählen, für
       die die Bundesregierung zusätzliches Geld ausgeben könnte – Kinderarmut
       verringern, Schulen und Unis renovieren, in die Bahn investieren, Wohnungen
       bauen, Industrieunternehmen auf dem Weg zur Klimaneutralität unterstützen.
       Ist der deutsche Staat zu arm, um diese Aufgaben zu erfüllen? 
       
       Achim Truger: Nein, er könnte die finanziellen Mittel mobilisieren, die er
       braucht. Aber spätestens seit Ende 2022 macht sich die Bundesregierung
       selbst arm.
       
       Was meinen Sie damit? 
       
       Vor allem Bundesfinanzminister Christian Lindner hat eine Finanzlücke im
       Bundeshaushalt inszeniert, die er mit bis zu 18 Milliarden Euro bezifferte.
       Dieser Fehlbetrag war nicht gottgegeben, sondern er wurde politisch
       erzeugt. Und zwar dadurch, dass die Koalition unbedingt ab 2023 die
       Schuldenbremse einhalten will und jegliche Reform dieser Regel ausschließt.
       Die Steuern sollen ebenfalls nicht steigen. Im Gegenteil, Lindner setzte
       eine Senkung der Einkommensteuer durch, die alleine den Bund etwa 6,5
       Milliarden Euro jährlich mehr als nötig kostet.
       
       Anfang September debattiert der Bundestag den Bundeshaushalt 2024,
       enthalten sind rund 450 Milliarden Euro – eine Menge Geld. Und jeden
       zweiten Euro, den die Beschäftigten und Firmen erarbeiten, verteilt die
       öffentliche Hand bereits um. Ist es nicht nachvollziehbar, zu einer
       gewissen Sparsamkeit zurückzukehren? 
       
       Dass die Staatsquote wegen der Coronapandemie, des russischen Angriffs auf
       die Ukraine und der Energiepreisinflation hochging, ist ja klar. Die
       Unterstützung der Unternehmen und Privathaushalte war teuer. Allerdings
       hätte niemand erleben wollen, was passiert wäre, wenn der Staat diese Hilfe
       unterlassen hätte. Dann wäre die Wirtschaft ins Bodenlose gestürzt.
       
       Aber vor diesem Hintergrund erscheint es politisch plausibel, dass Lindner
       allmählich wieder zum Normalzustand ohne neue Schulden zurückkehren will. 
       
       Ja, aber man darf es nicht forcieren. Die Energiekrise hält an, die Preise
       sind hoch. Und die deutsche Wirtschaft hat einen enormen Bedarf an
       Investitionen, um die Transformation zur Klimaneutralität anzuschieben.
       Daran sollte sich der Staat orientieren.
       
       Viele Ökonomen, etwa die SPD-Ökonomin Philippa Sigl-Glöckner, schlagen
       einen flexibleren Umgang mit der Schuldenbremse vor: Sie sollte sich am
       Ziel der Vollbeschäftigung und der aktuellen wirtschaftlichen Lage
       orientieren. Bei hoher Arbeitslosigkeit und [1][schlechter Konjunktur]
       würde sie dann größere finanzielle Spielräume eröffnen. Halten Sie das für
       einen richtigen Ansatz? 
       
       Vollbeschäftigung als Kriterium der Finanzpolitik kann sinnvoll sein. Und
       ein größerer Spielraum für Kredite zur Finanzierung von Investitionen ist
       nötig. Ich plädiere dafür, die Schuldenbremse grundsätzlich zu
       modifizieren. Das hieße, systematisch öffentliche Investitionen – zum
       Beispiel auch in Klimaneutralität – von der Schuldenregel im Grundgesetz
       auszunehmen.
       
       Dann könnten die Milliarden Euro, mit denen Bund und Länder zum Beispiel
       die neuen wasserstoffbefeuerten Hochöfen in Salzgitter und Duisburg
       fördern, einfacher aus öffentlichen Krediten bezahlt werden. Wie lautet die
       grundsätzliche Begründung dafür? 
       
       Die sogenannte goldene Regel der öffentlichen Investitionen war früher ein
       akzeptiertes Kriterium der Staatsfinanzen. Demnach dürfen öffentliche
       Investitionen, die ja langfristig gesellschaftliche Erträge bringen, mit
       Krediten finanziert werden. Die Logik: Wir vererben den künftigen
       Generationen zwar mehr Schulden, dafür bekommen sie aber gleichzeitig eine
       moderne Ausrüstung von Staat und Unternehmen, was ihren künftigen Wohlstand
       sichert.
       
       Genau das macht Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck jetzt schon, indem
       Milliarden Euro aus dem Klima- und Transformationsfonds etwa an den
       Stahlkonzern Thyssenkrupp fließen. Die Schuldenbremse scheint das nicht zu
       verhindern. 
       
       Augenblicklich beruht so etwas auf Einzelentscheidungen, die oft auch
       infrage gestellt werden. Wir brauchen eine grundsätzliche Regelung mit
       einer klaren Abgrenzung. Man könnte auch einen Deckel von 1 oder 1,5
       Prozent des Bruttoinlandsprodukt vorsehen, damit es nicht ausufert.
       
       Neue Schulden sind die eine Finanzierungsvariante. Die Bundesregierung
       könnte auch Ausgaben kürzen. Was schlagen Sie in dieser Hinsicht vor? 
       
       [2][Da fällt mir unter anderem das Dieselprivileg ein.] Ein Liter Diesel
       wird heute um 20 Cent niedriger besteuert als die gleiche Menge Benzin. Das
       ist eine – zudem ökologisch schädliche – Subvention.
       
       Wie könnte der Staat seine Steuererträge auf unschädliche Weise noch
       erhöhen? 
       
       Neben dem Dieselprivileg verteilt der Staat zig Milliarden Euro in Form von
       umweltschädlichen Subventionen. Das Umweltbundesamt hat eine ganze Liste,
       auf der sich sicher ein paar Maßnahmen finden, die man schrittweise abbauen
       kann. Sinnvoll wäre außerdem ein befristeter Energie-Solidaritätszuschlag,
       ähnlich wie wir ihn beim Sachverständigenrat vorgeschlagen haben.
       
       Wie funktionierte dieser Energie-Soli? 
       
       Das wäre ein Zuschlag auf die Einkommensteuer, den nur Bezieherinnen und
       Bezieher hoher Verdienste zahlten, ähnlich dem Solidaritätszuschlag. Die
       Einnahmen flössen in den Bundeshaushalt. Angesichts des russischen
       Angriffs, der Energiekrise und der Transformation halte ich so etwas für
       gerechtfertigt. Es ist gerade nicht die Zeit für einen schlanken Staat, der
       sich zurücknimmt, sondern für einen starken.
       
       Während Finanzminister Lindner in vielen Bereichen die Kürzung von Ausgaben
       durchsetzt, gibt es bei der Schuldenbremse oder höheren Steuern seit Jahren
       eine grundsätzliche Blockade. Und eine Sparpartei – Union oder FDP – sitzt
       immer in der Regierung. Wie kommt man da raus? 
       
       Nach der Bundestagswahl 2021 waren zunächst pragmatische Lösungen möglich.
       Die Ampelparteien steckten 60 Milliarden Euro kurzfristig nicht benötigter
       Kredite in den Klima- und Transformationsfonds, wo sie jetzt finanziellen
       Spielraum bieten. Ich hoffe, dass sich die Regierung unter dem Druck der
       Verhältnisse noch mal zusammenrauft und wieder zum Pragmatismus
       zurückfindet.
       
       Gibt es denn einen Punkt, an dem Sie ein wenig Bewegung sehen? 
       
       Kürzlich sendete die Union das Signal, dass ein höherer Spitzensteuersatz
       denkbar sei. Wobei dieser Ansatz durch Vorschläge für umfangreiche
       Steuersenkungen an anderer Stelle konterkariert wurde. Und Berlins
       CDU-Bürgermeister Kai Wegner sagte, man solle die Schuldenbremse für fünf
       Jahre aussetzen, um mehr öffentliche Investitionen zu ermöglichen.
       
       26 Aug 2023
       
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