# taz.de -- Gesine Schwan über politische Kultur: „Ich hätte einen Unterschied gemacht“
       
       > Gesine Schwan kandidierte zweimal als Bundespräsidentin, auch heute
       > engagiert sie sich öffentlich. Ein Gespräch über die Krise der
       > Demokratie, eine späte Liebe und den Tod.
       
 (IMG) Bild: „Für andere da zu sein ist die beste Selbsterfüllung“: Gesine Schwan in ihrem Haus im Südwesten Berlins
       
       An einem Mittwochvormittag bittet Gesine Schwan an ihren weißen Küchentisch
       in Berlin-Nikolassee. Ein Altbau mit hohen Decken, der Blick geht hinaus
       auf die Holzterrasse und in den Garten. Draußen leuchtet das letzte
       Herbstlaub in der Sonne. „Wasser oder Kaffee?“, fragt sie und hantiert an
       der Sprudelmaschine, normalerweise bedient die ihr Mann, 87, aber der ist
       gerade bei einer Konferenz in China. Gesine Schwan selbst ist 82. Wir sind
       verabredet, um über das Altwerden zu sprechen. Während des Interviews ist
       sie so offen und zugewandt, als würden wir uns schon lange kennen. 
       
       taz: Frau Schwan, was hilft beim Altwerden am besten: Humor? Neugier?
       Arbeit? 
       
       Gesine Schwan: Es braucht von alldem etwas. Ich habe keine spezifische
       Strategie, um gut alt zu werden. Ich habe nur eine Frage: Was kann ich aus
       dieser Phase meines Lebens am sinnvollsten machen?
       
       taz: Und? 
       
       Schwan: Der Vorteil im Alter ist ja, dass man sehr viel erlebt hat, auch
       schwierige Zeiten. Mein erster Mann hatte drei Jahre lang Krebs, dann sein
       Tod, das war keine Kleinigkeit, die Kinder waren damals 12 und 14. Als
       alter Mensch weiß man, es wird auch wieder etwas anderes kommen, man
       entwickelt eine gewisse Gelassenheit und kann dadurch anderen Ruhe und
       Sicherheit geben. Jetzt bin ich ja noch ziemlich mobil und mache alles
       Mögliche. Aber ich frage mich schon, wie es ist, wenn ich 100 bin. Ich will
       es nicht werden, aber wenn doch, was kann ich dann noch Sinnvolles tun? Ich
       möchte nie in die Situation kommen, dass ich nur die Alte bin, die man
       besuchen muss. Was bleibt, ist, die eigenen Fähigkeiten so anzuwenden, dass
       sie immer noch für andere etwas bedeuten.
       
       taz: Erfüllend ist für Sie, anderen etwas zu geben? 
       
       Schwan: Unbedingt! Für andere da zu sein, ist die beste Selbsterfüllung.
       Nichts ist nachhaltiger für das eigene Wohlbefinden, da bin ich ganz von
       überzeugt.
       
       taz: Ist das eine Erkenntnis, die mit dem Alter kam? 
       
       Schwan: Nein, das habe ich von meinen Eltern. Mein Bruder und ich, wir sind
       anständig weltanschaulich befeuert worden. Meine Mutter war Fürsorgerin,
       heute würde man Sozialarbeiterin sagen. Sie hat mir früh schon mitgegeben:
       Achte darauf, dass niemand allein außen steht. Sie kannte das Wort
       [1][Inklusion] nicht, sie hatte auch kein Abitur. Aber das hat sie mir tief
       eingepflanzt. Ich war Klassensprecherin auf dem Französischen Gymnasium
       hier in Berlin, da kriegten wir immer mal neue Schülerinnen. Ich habe mich
       in den Pausen sofort mit ihnen unterhalten. Eine von ihnen habe ich 40
       Jahre später wiedergetroffen. Sie sagte: Du, Gesine, hast mich reingeholt,
       das werde ich nie vergessen. Das war ganz klar die Botschaft meiner Mutter:
       Man soll niemanden alleine stehen lassen.
       
       taz: Und das begleitet Sie bis heute? 
       
       Schwan: Ja. Ich sehe mich im Alter nicht anders als früher, ich habe auch
       keine andere Philosophie als früher. Was deutlich anders ist, ist die
       Physis. Ich kann beispielsweise nicht mehr rennen. Ich dachte, Mensch, das
       konntest du doch. Es geht nicht mehr.
       
       taz: Belastet Sie das? 
       
       Schwan: Erst mal ist das eine Enttäuschung, aber dann begreift man es. Man
       sollte sich nicht nur damit arrangieren, zu einem guten Umgang gehört, sich
       damit zu versöhnen. Bei meinem Mann war das schwer, er hatte einen
       Reitunfall und kann seitdem seinen linken Zeigefinger nicht mehr heben. Er
       hat früher sehr gut Klarinette, auch Flöte und Gitarre gespielt. Als er
       plötzlich merkte, dass er das nicht mehr konnte, hat er geweint. Aber er
       hat es akzeptiert. Immerhin bleibt ihm noch das Saxofon. Wir leben das
       Alter sehr bewusst und dankbar zu zweit. Wir freuen uns an allem, was wir
       noch können.
       
       taz: Nichts ist mehr selbstverständlich? 
       
       Schwan: Um uns herum können sie nicht mehr verreisen, müssen ins Altenheim
       oder sterben weg. Wir müssen akzeptieren, dass die Dinge weniger werden,
       wie bei meinem Mann und seiner Musik. Dass er damit nicht hadert, das
       rechne ich ihm hoch an. Ich sage ihm auch immer wieder meine Hochachtung.
       Denn es ist viel einfacher, seine Talente auszuspielen, als zu sehen: Die
       Talente gehen weg.
       
       taz: Wie sieht Ihr Alltag aus? 
       
       Schwan: Ich mache alles ein bisschen langsamer. Aber im Grunde sind meine
       Tage immer noch voll. Am Montag war ich in Mannheim, fünf Stunden hin, dort
       einen Vortrag halten, wieder zurück. Nachts konnte ich nicht schlafen. Das
       passiert mir öfters, wenn ich so hochgetourt bin. Dann muss ich geduldig
       sein, eine warme Milch trinken. Am Dienstag musste ich früh raus zu einer
       Trauerfeier. Gestern Abend war ich dann so was von hinüber. Ehrlich gesagt,
       ich mute mir immer noch ziemlich viel zu.
       
       taz: Sie hatten vorgeschlagen, das Interview auf Dienstagnachmittag zu
       legen. Umso besser, dass wir uns erst heute treffen. 
       
       Schwan: Ja, das ist mir sehr lieb. Da sehen Sie: Mein Kalkül ist immer
       noch, da ist ein freier Slot, also rein. Das ist eigentlich nicht gut. Das
       muss ich noch ein bisschen üben.
       
       taz: Viele beschäftigen sich im Alter mehr mit der eigenen Vergangenheit.
       Sie auch? 
       
       Schwan: Ich habe immer schon darüber nachgedacht, woher was kommt, was in
       der Jugend gesetzt wurde. Das hat sich sicher verstärkt in den letzten
       Jahren.
       
       taz: Sie wurden 1943 geboren. Ihre Eltern haben [2][in der NS-Zeit] ein
       jüdisches Mädchen versteckt und ihm das Leben gerettet. Wie hat Sie das
       geprägt? 
       
       Schwan: Meine Eltern haben zu Lebzeiten kaum darüber gesprochen, mir wurde
       das erst später richtig bewusst. Mein Vater hatte wohl größere
       Bauchschmerzen als meine Mutter, so viel weiß ich. Meine Eltern waren
       befreundet [3][mit Harald Poelchau], einem evangelischen Pfarrer, der auch
       die Seelsorge im Strafgefängnis in [4][Plötzensee] gemacht hat. Er hat die
       von den Nazis zum Tode Verurteilten begleitet. Nebenbei hat er geheim ein
       riesiges Verstecknetz für Juden in Berlin aufgebaut. Dazu gehörten auch
       meine Eltern. Das war eine Logistik, alle paar Monate mussten die
       Versteckten woanders hin. Ich habe größte Hochachtung für das, was meine
       Eltern damals gewagt haben.
       
       taz: Kamen Sie je in eine Situation, ähnlich mutig sein zu müssen? 
       
       Schwan: Zum Glück nicht. Ich habe [5][’68 an der Freien Universität] oft
       vor Vollversammlungen gesprochen, auch gegen die Mehrheit. Manche fanden
       das mutig. Ich habe gesagt: Quatsch. Mir kann in einer Demokratie nicht
       viel passieren. Wer Mut hatte, waren meine Eltern. Das war für mich der
       Maßstab. Die Frage, ob ich menschlich anständig bin oder nicht, hat mich
       immer begleitet, auch in der Politik.
       
       taz: Sie haben die Nachkriegszeit erlebt, den [6][Kalten Krieg], die Wende,
       jetzt die Gegenwart. Ganz schön viel. 
       
       Schwan: Gerade in der letzten Zeit habe ich oft gedacht, dass es sich
       anfühlt wie viele Leben in einem. Ich erinnere mich noch gut an 1968. In
       den 70er Jahren wurde die Wissenschaft wichtig für mich, an der [7][Freien
       Universität] in Berlin. Ich verbrachte, zum Teil mit meinem verstorbenen
       Mann, [8][Alexander Schwan], Gastaufenthalte in Washington, Cambridge, New
       York. Neun Jahre habe ich die [9][Europa-Universität Viadrina] in Frankfurt
       an der Oder geleitet. Mein Leben hat so viele reiche Abschnitte – wenn ich
       das betrachte, überkommt mich ein Gefühl von großer Dankbarkeit. Ich frage
       mich schon auch: Wie hast du das alles durchgestanden? Aber als ich
       drinsteckte, fand ich es ganz normal.
       
       taz: Sie waren Professorin für Politikwissenschaft. Als Sozialdemokratin
       haben Sie auch politisch mitgemischt, aber Ihr Zuhause blieb die
       Wissenschaft. 
       
       Schwan: 1977 wurde ich Professorin am Otto-Suhr-Institut in Berlin. Zwei
       Jahre zuvor hatte ich mich habilitiert, damals war ich 32, mit einem Buch
       über die Gesellschaftskritik von [10][Karl Marx]. Und mit einem Buch, das
       ich mit Alexander Schwan gemeinsam geschrieben habe, über „Sozialdemokratie
       und Marxismus“. Es gab zu der Zeit ja die Diskussion, ob die SPD eine
       marxistische Partei sein sollte oder nicht. Wir waren beide dagegen. Ich
       glaube, ich kannte mich viel besser mit Marx aus als die meisten Marxisten
       in der SPD damals.
       
       taz: Nach dem Motto: Kenne deinen Feind? 
       
       Schwan: Nicht Feind. Marx war ein faszinierender, genialer Denker. Aber er
       denkt den Konflikt zu eindimensional. Er denkt, alles kommt aus den
       Produktionsverhältnissen. Das ist zu eng, auch wenn man die umgreifend
       versteht. Deshalb hat er auch kein Verständnis für eine pluralistische
       Gesellschaft und für Menschenrechte. Da ist der Keim des Totalitarismus
       drin, daher rührt meine Gegnerschaft zu Marx. Aber wichtig ist er für mich
       bis heute.
       
       taz: Inwiefern? 
       
       Schwan: Ich bin ja Vorsitzende der Grundwertekommission der SPD. Bis 2027
       will die SPD ein neues Grundsatzprogramm entwickeln. Alle haben das
       Bedürfnis, über das Programm einen Neuanfang zu machen. Diese Erwartung
       halte ich für naiv, aber gut, wir gehen das jetzt an. Ich habe mich mit der
       Frage befasst: Ist die SPD eine Arbeiterpartei oder eine Partei der Arbeit?
       Dabei ist mir klar geworden: Wir können die SPD nicht ohne Arbeit denken.
       Arbeit ist die Produktion einer Wirklichkeit aus sich heraus, etwas
       Sinnstiftendes, das allen Menschen möglich gemacht werden soll. Auch ich
       fühle mich wahnsinnig gut, wenn ich es schaffe, schwierige Gedanken in
       einen Text zu gießen. Dieser Prozess ist Arbeit, und das findet man auch
       bei Marx, vor allem in seinen Frühschriften. Zugleich gibt es neue
       Ausbeutungen in der Arbeit, weltweit.
       
       taz: Als Professorin haben Sie Studierenden jahrzehntelang mit großer
       Leidenschaft die liberale Demokratie nahegebracht. Es muss schwer sein für
       Sie zu sehen, dass demokratiefeindliche Kräfte jetzt so stark werden. 
       
       Schwan: Es ist die größte [11][Krise der Demokratie], die ich erlebt habe.
       Das liegt aber nicht daran, dass die Wähler alle die liberale Demokratie
       ablehnen oder missverstehen. Es muss schon ein Problem geben in der
       liberalen Demokratie selbst, wenn sie so viel Distanzierung erfährt. Dafür
       gibt es viele Gründe, vor allem die obszöne Diskrepanz zwischen Arm und
       Reich. Die Demokratie ist mit dem Versprechen der Chancengleichheit
       verbunden, sie lebt von einer Gesellschaft der sozialen Mitte, schon bei
       Aristoteles steht das. Aktuell ist es meine Mission, die liberale
       Demokratie partizipatorisch weiterzuentwickeln.
       
       taz: Was heißt das? 
       
       Schwan: Ich bin bei der Berlin Governance Platform aktiv, einer
       gemeinnützigen GmbH. Wir haben ein Partizipationsmodell entwickelt,
       vorrangig für die kommunale Ebene. Stakeholder oder Vertreter von Politik,
       Wirtschaft und organisierter Zivilgesellschaft setzen sich dabei im Auftrag
       des Stadtrats vier Tage zusammen und suchen nach Lösungen für ein
       langfristiges Problem. Da geht es um Themen wie die Entwicklung einer
       Brache oder die gesundheitliche Versorgung einer ländlichen Kommune. Am
       Ende gibt die Runde eine Empfehlung ab.
       
       taz: Haben Sie ein Beispiel? 
       
       Schwan: Unser erster Fall war in Herne im Ruhrgebiet. Da gab es eine
       stillgelegte Zeche, der Boden war vergiftet, aber Kreuzkröten lebten dort.
       Es war ein Skandal, dass diese Riesenfläche nicht entwickelt werden konnte,
       weil alle etwas anderes wollten, Unternehmen, Gewerkschaften,
       Naturschützer, Seniorenvertreter. Wir haben uns mit ihnen zusammen gesetzt.
       Da kamen einstimmige Empfehlungen für den Stadtrat raus, der hat das
       anschließend legitimiert. Inzwischen hat die Stadt Gelder akquiriert für
       ein multifunktionales Terrain mit Lehrlingsausbildung, Ausflugsgebiet und
       Biotop. Es wird Jahre dauern, bis alles fertig ist.
       
       taz: Sie wollen etwas tun gegen das Gefühl der Ohnmacht? 
       
       Schwan: Ja, aber zugleich muss unsere repräsentative Demokratie
       weiterentwickelt und verbessert werden. Ich glaube an die liberale
       Demokratie, aber viele trauen ihr nicht mehr. Die Menschen müssen die
       Erfahrung machen können, dass sie mitwirken können und dass die Politik zu
       vernünftigen Ergebnissen führt.
       
       taz: Auch der SPD trauen viele nicht mehr. Sie sind seit 50 Jahren
       Genossin. Fremdeln Sie manchmal mit Ihrer Partei? 
       
       Schwan: Oft mit der Parteispitze. Ich habe die SPD öffentlich ja auch immer
       wieder kritisiert. Es gibt in der SPD eine gewisse Hasenfüßigkeit, eine
       Ängstlichkeit, die oft auch die Partizipation behindert, in der man etwas
       wagen muss. Die SPD ist außerdem immer noch eine männliche Partei, oft
       autoritär in ihren Strukturen. Die SPD hat schon systemische Macken. Sie
       ist trotzdem absolut notwendig und die einzige Partei, die für mich infrage
       kommt.
       
       taz: Sie haben [12][zweimal als Bundespräsidentin] kandidiert. Wie blicken
       Sie auf diese Niederlagen zurück? 
       
       Schwan: Die einzige Niederlage, die ich als solche empfunden habe, war die
       bei der zweiten Kandidatur zum Bundespräsidenten im Mai 2009. Diese
       Niederlage hat die SPD-Spitze mitbewirkt. Denn ich hätte nur gewählt werden
       können mithilfe der Linken, im zweiten Wahlgang.
       
       taz: Die Parteispitze hatte Angst vor der Nähe zur Linkspartei, weil kurz
       darauf auch die Bundestagswahlen anstanden? 
       
       Schwan: Franz Müntefering war damals Parteichef, er hat die Abstimmung
       praktisch freigegeben. Eine Stimme fehlte, sonst wäre ich in den zweiten
       Wahlgang gekommen und die Linke hätte für mich gestimmt. Das wollte
       Müntefering verhindern. Er hatte nichts gegen mich, im Gegenteil. Aber er
       hatte Angst, dass die SPD in der Öffentlichkeit diskreditiert wird durch
       die Linkspartei. Er hat sich für den anderen Weg entschieden: Die SPD wurde
       mehrmals Juniorpartner in der Großen Koalition. Das war sehr schädlich, bis
       heute, weil es ihr das Profil genommen hat. Aus dieser Falle sind wir
       bisher nicht rausgekommen.
       
       taz: Gemeinsam mit Ralf Stegner haben Sie 2019 [13][für den SPD-Vorsitz]
       kandidiert, auch das hat nicht geklappt. Wurmt es Sie, dass Sie in all den
       Jahren nie wirklich politische Macht hatten? 
       
       Schwan: Ich habe mich für den Vorsitz gemeldet, weil nach dem Rücktritt von
       Andrea Nahles alle SPD-Größen für die Nachfolge abgesagt hatten. Da habe
       ich meinen Hut in den Ring geworfen, in der Hoffnung, dass andere folgen.
       Das war dann auch so. Im Nachhinein bin ich nicht unglücklich, dass das
       nichts wurde. Ich war auch mal kurz im Gespräch für ein Ministeramt, aber
       das hätte ich nicht sein wollen. Eine Uni leiten, das konnte ich, das ist
       mein Terrain. Einen Ministerapparat hätte ich nicht bedienen können, das
       ist nicht meine Welt. Enttäuscht war ich vor allem nach der zweiten
       Bundespräsidentenwahl.
       
       taz: Dieses Amt hätte Ihnen gelegen? 
       
       Schwan: Es entspricht dem, was ich zeitlebens tue: nachdenken, unbequeme
       Positionen benennen, konstruktiv sein. Ich glaube, ich hätte einen
       Unterschied gemacht, wenn ich in dieses Amt gekommen wäre. Aber das ist
       eine andere Art von Macht als in der Regierung.
       
       taz: Es geht um Werte, um Orientierung. 
       
       Schwan: Um die politische Kultur. Ich hätte auch etwas zum
       Geschlechterverhältnis beitragen können. Ich wäre ja die erste Frau im
       Schloss Bellevue gewesen. Kürzlich habe ich darüber nachgedacht. Wenn nun
       die erste Frau in diesem Amt [14][Julia Klöckner] würde oder Ilse Aigner,
       das würde mir schon zu schaffen machen. Aber dann verfliegt der Ärger auch
       schnell wieder, weil ich ja so viel anderes machen kann. Die
       Partizipationsprojekte füllen mich voll aus. Wie die Beteiligten
       miteinander reden, respektvoll und konstruktiv, das ist beglückend.
       Menschen sind nicht mies von vornherein, das kann auch anders gehen.
       
       taz: Politische Niederlagen sind das eine, persönliche Schicksalsschläge
       das andere. Vorhin haben Sie Ihren ersten Mann erwähnt, Alexander Schwan,
       politischer Philosoph und Mitstreiter. Er starb 1989. Wie schafft man es,
       nach so einem Verlust weiterzumachen? 
       
       Schwan: Das war eine Zäsur. Ich war damals 46. Wir hatten immer sehr viel
       zusammen gemacht, auch beruflich. Wir waren in Berlin als Ehepaar bekannt.
       Trotzdem habe ich keinen Moment daran gezweifelt, dass es für mich
       weitergeht.
       
       taz: Was sicherlich nicht einfach war, alleinerziehend mit zwei Kindern. 
       
       Schwan: Schon die Jahre vor seinem Tod waren schwer. Als die Krankheit
       offenbar wurde, waren die Kinder 9 und 11. Ein Arzt, er war besonders nett
       und wohlwollend, hat ihm gesagt, es sei nicht so schlimm. Das stimmte aber
       überhaupt nicht, es gab keine Aussicht mehr auf Heilung. Ich wusste das und
       musste, als mein Mann mir diese Einschätzung mitteilte, innerhalb von
       Sekunden entscheiden, ob ich auf die falsche Schiene mitgehe oder ob ich
       den Arzt desavouiere. Ich habe nicht fertig gebracht zu sagen, wie schlimm
       es ist. So blieb es, bis kurz vor seinem Tod.
       
       taz: Sie haben jahrelang nicht über den Ernst der Lage geredet? 
       
       Schwan: Ja, und das widerspricht eigentlich meiner Natur. Ich musste
       dauernd überlegen: Was sage ich? Er hätte sich allerdings denken können,
       wie es um ihn steht. Aber er wollte es gar nicht so genau wissen. Dann mit
       den Kindern, die kriegen ja immer mehr mit als man denkt. Ich musste jeden
       Tag eine Stunde im Grunewald spazieren gehen, um nicht wahnsinnig zu
       werden. Zwischendrin sah es kurz so aus, als ob mein Mann tatsächlich zu
       den drei Prozent gehörte, die einen schweren Krebs überlebten. Und dann
       ging es doch bergab. Eine ziemliche Hölle. Insofern war es dann irgendwie
       auch gut, als es vorbei war.
       
       taz: Wann hat er verstanden, wie es wirklich um ihn stand? 
       
       Schwan: Drei Monate, bevor er starb, mussten wir einen Urlaub abbrechen, er
       kam sofort ins Krankenhaus. Da habe ich ihm sagen müssen, dass es zu Ende
       geht. Die Ärzte scheuten davor zurück.
       
       taz: Wie hat er reagiert? 
       
       Schwan: Bewundernswert. Er hat gesagt: Wir wollten doch immer
       zusammenarbeiten für mehr Glück und mehr Liebe auf der Erde. Ich war und
       ich bin ein glücklicher Mensch.
       
       Schwan: Das zu hören muss ein großer Trost gewesen sein. 
       
       taz: Ja. Die Zeit war dann noch mal sehr schwierig, aber es gab ein
       Einvernehmen. Ich habe jeden Tag bis zum Einschlafen bei ihm verbracht. Der
       liebe Gott – das ist meine religiöse Seite – findet Wege. Es gibt das Lied
       von [15][Paul Gerhardt], „Befiehl du deine Wege“. Da heißt es, dass man
       seinen Kummer „der allertreusten Pflege“ Gottes befehlen soll, er „wird
       auch Wege finden, da dein Fuß gehen kann“. Das war auch meine Erfahrung
       nach seinem Tod: Es gab Wege, wo mein Fuß gehen konnte. Auch wenn ich
       zwischendrin gar nicht wusste, wie und wo. Ich habe eine bittere Depression
       erlebt. Ich war in einem Zustand, den ich vorher nicht kannte: Ich konnte
       mir nicht vorstellen, dass es noch mal schön werden würde. Zugleich hatte
       ich meine Kinder, die waren in einem fordernden Alter.
       
       taz: Wie haben Sie das durchgestanden? 
       
       Schwan: Ich habe nach dem Tod meines Mannes jahrelang eine Psychoanalyse
       gemacht, das war eine befreiende Erfahrung. Ich hätte damals keinen
       öffentlichen Job übernehmen können, ich habe mich viel zu unsicher gefühlt,
       zu unglücklich. Die Analyse hat mir sehr geholfen. Wobei ich sie nicht
       allein wegen des Todes meines Mannes gemacht habe. Das war der Anlass, sich
       mit dem zu befassen, was vorher schon verklemmt und überfordert war.
       
       taz: Eine neue Partnerschaft kam damals nicht in Frage? 
       
       Schwan: Ich war elf Jahre alleine. Peter Schneider, der Schriftsteller aus
       der 68er-Bewegung, den habe ich nach einer Veranstaltung mal nach Hause
       gefahren, er hat gefragt: Hast du denn nicht wenigstens mal eine Affäre?
       Das interessierte mich nicht. Ich habe nicht gedacht, dass ich noch mal
       glücklich werden würde.
       
       taz: Und dann passiert es doch. 
       
       Schwan: Dann passiert es doch. Es kam ganz anders, als ich es erhofft
       hatte.
       
       taz: Ihr jetziger Ehemann, [16][Peter Eigen], war Weltbank-Manager und
       Gründer von [17][Transparency International]. Sie wurden 2004 ein Paar. 
       
       Schwan: Die Beziehung zu ihm ist vollkommen anders. Ich glaube, ich hätte
       mich in meinen jetzigen Mann nicht verlieben können, als ich noch jünger
       war. Er war als junger Mann ganz unpolitisch, eher ein Sunnyboy, er hat
       Saxofon und Tennis gespielt, ist viel geritten, das wäre mir viel zu
       oberflächlich gewesen. Ich musste erst deutlich älter sein, um die
       Unterschiede zwischen uns goutieren zu können. Und er war dann in der
       Entwicklungszusammenarbeit der Weltbank überaus engagiert. Wir haben jetzt
       viel gemeinsam, aber symbiotisch mag ich es nicht mehr.
       
       taz: Ihr jetziger Mann ist anders als Sie? 
       
       Schwan: Er ist überhaupt kein Wissenschaftler, er hat eine ganz andere,
       eine emotionale und praktische, auch organisatorische Intelligenz. Peter
       ist immer voller Bewunderung, wenn ich im Gespräch etwas über Hegel sage.
       Das hat er gerne, aber es ist für ihn eine fremde Welt. Als wir unseren
       ersten sentimentalen Spaziergang durch den Grunewald machten, habe ich ihn
       gefragt: Was verstehst du unter Korruption? Ich erwartete eine ausgefeilte
       Definition. Er sagte: „Ganz einfach: Überm Tisch oder unterm Tisch.“ Das
       beschreibt gut den Unterschied zwischen uns und reicht ihm für die Praxis.
       Er hat eine sehr gute Intuition in Bezug auf Menschen, ich bin
       vertrauensvoller. Er ist in der Weltbank sozialisiert, da lauert die
       Konkurrenz überall. Leider hat er mit seinem skeptischen Blick immer mal
       wieder recht. Er durchschaut sofort, wenn jemand etwas vor allem aus
       Eigeninteresse tut.
       
       taz: Und was verbindet Sie? 
       
       Schwan: Wir sind beide politische Aktivisten, so nenne ich das mal. Wir
       lieben die Musik und lachen sehr viel zusammen, ihm fällt immer etwas
       Verrücktes oder absurd Witziges ein. Er kann sich selbst auch sehr gut als
       den Ungebildeten karikieren. Die Liebe hat uns beide schon heftig
       ergriffen. Wir umarmen uns sehr gerne, und zwar ständig. Die
       Liebesbeziehung zu meinem ersten Mann war wissenschaftlich intensiv, stark
       über den Kopf. Das ist hier anders, eher ganzheitlich.
       
       taz: Haben Sie gemeinsame Rituale? 
       
       Schwan: Rituale hatten wir immer und bilden sie im Urlaub sofort aus. Wir
       gehen jeden Tag um 18 Uhr zusammen an unsere Bar, wie wir sagen, in die
       Küche, und trinken einen Sekt. Also nicht, dass wir Säufer sind, aber so
       einen Absacker haben wir gerne. Im Urlaub trinke ich lieber Gin Tonic, da
       hat er sich auch zu bewegen lassen.
       
       taz: Ist es wichtig, dass man sich Zeit nimmt füreinander? 
       
       Schwan: Das ist unbedingt wichtig, zumal im Alter. Es kann ja jeden Tag zu
       Ende sein. Was hilft es, wenn man dann noch einen Aufsatz mehr geschrieben
       hat, das ist doch völlig unwichtig. Frühstück, Mittag, Abendessen, das ist
       alles nicht unendlich lange. Aber wenn sich ein intensives Gespräch ergibt,
       dann nehmen wir uns die Zeit. Um 23 Uhr hole ich ihn vom Fernsehen weg,
       wenn er seine Krimis hinter sich hat, ich meine drei Zeitungen, dann
       erzählen wir uns vom Tag. Was wir erlebt und was wir gelesen haben. Da
       lernt man den anderen noch mal besser kennen.
       
       taz: Die Endlichkeit ist Ihnen sehr bewusst. 
       
       Schwan: Sehr, und mehr als früher. Die Zeit ist begrenzt. Diese
       Vergänglichkeit des Lebens kann ich nicht schönreden. Und wenn ich darüber
       nachdenke, muss ich sagen: Ich möchte auch nicht, dass es nicht zu Ende
       geht. Das wäre ja eine ständige Repetition. Man könnte das Leben gar nicht
       wertschätzen, wenn sich immer alles wiederholen würde. Die Wertschätzung
       ist auch eine Folge der Vergänglichkeit.
       
       taz: Und die macht Ihnen keine Angst? 
       
       Schwan: Ich frage mich schon, wie es ist, wenn einer alleine zurückbleibt.
       Aber da kann man keine Antwort drauf finden. Man muss darauf vertrauen,
       dass man mit der Situation dann schon umgehen kann.
       
       taz: Im Alter ist der Tod sehr präsent. 
       
       Schwan: Ja, sehr. Vor drei Jahren ist mein Bruder gestorben. Das war für
       mich eine ganz schwere Erfahrung. Wir hatten eine enge Beziehung. Seitdem
       denke ich viel über die Frage nach: Gibt es ein Wiedersehen? Mein Bruder
       und ich, wir haben in der Schule zusammen „Ein deutsches Requiem“ gesungen
       von Brahms. Da heißt es „Ihr habt nun Traurigkeit, aber ich will euch
       wiedersehen, und euer Herz soll sich freuen, und eure Freude soll niemand
       von euch nehmen“. Als mein Bruder im Sterben lag, habe ich ihm immer wieder
       gesagt: Wir werden uns wiedersehen. Mir kommen schon wieder die Tränen …
       
       taz: Glauben Sie denn daran, dass Sie ihn wiedersehen? 
       
       Schwan: Das klingt naiv, das ist mir klar. Aber diese Frage beschäftigt
       mich seitdem sehr. Mein Glaube ist in dieser Hinsicht im Wandel. Lange habe
       ich vor allem durch die wissenschaftliche oder vernünftige Brille auf die
       Dinge geschaut, der Glaube musste der Rationalität standhalten. Ich komme
       über die Vernunft, Thomas von Aquin, der große katholische Theologe, und
       Aristoteles hängen zusammen, und das ist für mich zentral. Mein Mann und
       ich, wir unterhalten uns manchmal abends an unserer Bar. Was wird danach?
       Ist das wissenschaftlich geschulte Denken der Filter für das, was erlaubt
       ist zu glauben? Das ist bei mir nicht mehr so. Ich will natürlich nicht
       irgendwelche Gottesbeweise auftischen, die gibt es nicht. Aber ich will das
       weiter trennen.
       
       taz: Das wissenschaftliche Denken und der Glaube existieren für Sie
       nebeneinander? 
       
       Schwan: Es kommt nicht von ungefähr, dass der große Mathematiker Blaise
       Pascal zum Mystiker wurde. Das gibt es öfters, auch andere scharfsinnige
       Denker waren Mystiker, die die Grenze der Vernunft akzeptierten. Sie geben
       ihr Denken nicht auf, und sie spüren trotzdem, dass es noch etwas anderes
       gibt, dass der Glaube darüber hinaus reicht.
       
       taz: Was macht Ihren Glauben aus? Gibt es ein Leben nach dem Tod? 
       
       Schwan: Es fängt mit der Frage an, was Glauben heißt. Ich halte nicht für
       wahr, dass Maria naturalistisch Jesus jungfräulich zur Welt gebracht hat.
       Mein Verständnis von Glauben ist zu vertrauen. Ich vertraue auf die Zusage
       Gottes, dass er aus Liebe in diese Welt gekommen ist und dass er uns in der
       Liebe auffängt. Daneben sind Einzelheiten wenig wichtig. Ich habe es in
       meinem Leben auch so erfahren. Gott hat mich in sehr schwierigen
       Situationen gehalten, er hat mir Wege gezeigt. Ob es nach dem Tod etwas
       geben wird oder nicht? Das weiß ich natürlich nicht, aber intuitiv würde
       ich sagen: Ja. Ich gestehe mir die Hoffnung zu, dass es etwas gibt danach,
       was man mit Glück bezeichnen kann.
       
       taz: Ihr wissenschaftliches Denken kommt Ihnen dabei nicht in die Quere? 
       
       Schwan: Es muss nicht alles nach unserem mühsamen menschlichen System
       logisch sein. Ich kann mir zum Beispiel weder vorstellen, dass diese Welt
       endlich ist noch dass sie unendlich ist. Es läuft nicht immer alles nach
       dem Satz des Widerspruchs.
       
       taz: Sie denken die Grenzen des eigenen Denkens mit. 
       
       Schwan: Das ist mein Weg im Glauben, denn ich will ja nicht aufhören, zu
       denken. Ich komme zu dem Schluss, dass nicht alles denkbar sein muss.
       
       taz: Sie haben zwei Kinder und Enkelkinder. Wenn Sie mit denen über die
       Zukunft sprechen, was sagen Sie? 
       
       Schwan: Ich kann ihnen nicht sagen, es wird schon alles gut. Ich kann ihnen
       auch nicht sagen, das ist alles nicht so schlimm. Ich kann ihnen nur
       vorleben, dass ich die Krisen und Probleme sehe, dass ich nicht die Augen
       davor verschließe. Und dass ich trotzdem glaube, Gott gibt uns
       Möglichkeiten, dagegen anzugehen. Und zwar nicht total erfolglos. Das kann
       ich.
       
       25 Dec 2025
       
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