# taz.de -- Synchronsprecherin über das Sprechen: „Die Arbeit vitalisiert mich“
       
       > Mit 19 Jahren bekam Luise Lunow ihre erste Rolle als Synchronsprecherin.
       > Heute ist sie 93 und arbeitet immer noch, obwohl sie fast erblindet ist.
       
 (IMG) Bild: Die 93-jährige Synchronsprecherin Luise Lunow bei sich zu Hause in Berlin-Grunewald
       
       taz: Frau Lunow, was bedeutet Ihnen Ihre Stimme? 
       
       Luise Lunow: Eigentlich passt jede Stimme zu ihrem Menschen und sagt viel
       über ihn aus, über seinen Charakter, seine Sensibilität. Aber wenn ich
       meine Stimme im Fernsehen oder Rundfunk höre, ist sie mir fremd.
       
       taz: Was sagt Ihre Stimme denn über Sie aus? 
       
       Lunow: Ach Gott. Das müssen andere feststellen.
       
       taz: Ich hätte gedacht, dass sich dieser Meine-Stimme-klingt-fremd-Effekt
       schnell abnutzt. 
       
       Lunow: Inzwischen habe ich so viele Rollen gesprochen, dass ich mich schon
       mit meiner Stimme angefreundet habe.
       
       taz: Ihre erste Rolle als Synchronsprecherin haben Sie mit 19 Jahren
       bekommen. 
       
       Lunow: Ja, damals war ich Schauspielstudentin in Berlin. Da kamen die
       Synchronfirmen zu uns und haben gesagt: Wer Lust hat, der soll doch mal zu
       Probeaufnahmen kommen. Und das habe ich gemacht und ich bekam gleich meine
       erste Rolle. Aber nicht die Tochter, sondern, obwohl ich noch sehr jung
       war, die Mutter.
       
       taz: Heute sind Sie 93 und arbeiten noch immer als Synchronsprecherin. 
       
       Lunow: Aber als Kind wollte ich immer tanzen, war auf der
       Kinder-Ballettschule. Ich bin ja im heutigen Potsdam-Babelsberg
       aufgewachsen. Aber dann kam der „totale Krieg“, alles wurde geschlossen,
       die Theater, die Ballettschule, alles war zu Ende.
       
       taz: Die Bombennächte haben Sie ja direkt miterlebt. 
       
       Lunow: Ja, ich habe den ganzen Krieg mitgemacht. Unsere Schule war
       ausgelagert worden nach Potsdam. Wenn es Alarm gab, durften die Kinder, die
       nahe der Schule wohnten, nach Hause rennen, wir anderen mussten zum
       Wilhelmplatz, in einen großen Bunker.
       
       taz: Heute ist das der Platz der Einheit. 
       
       Lunow: Ja, und in dem Bunker saß ich sehr, sehr oft am Tage, und manchmal
       hörte man die Bomben. Aber die großen Angriffe waren nachts, da waren wir
       in unserem Mietshaus im Luftschutzkeller und hörten, wie die Flugzeuge
       angeflogen kamen. Das war wie Donner. Und manchmal wurden Bomben
       abgeworfen, die pfiffen so. Es hieß aber immer: „Keine Angst, wenn du die
       Bombe pfeifen hörst, dann trifft sie dich nicht.“
       
       taz: Woran erinnern Sie sich noch? 
       
       Lunow: Dass wir am Tage ganz normal gespielt haben, das war ja unser
       Alltag. Und dass ich in meiner ganzen Kindheit immer angezogen ins Bett
       gegangen bin, um schnell in den Keller rennen zu können, wenn Angriffe
       kamen. Das hat mich auch sehr, wie soll ich sagen, beeindruckt.
       
       taz: Haben Sie die Angst irgendwann ablegen können? 
       
       Lunow: Sagen wir so: Wenn ich in einem Film noch mal so Sirenen höre, ist
       das für mich ein Zeichen, ein Achtung-Zeichen. Das ist ein Geräusch, das
       ich überhaupt nicht haben kann. Ja, ansonsten habe ich diese Sachen
       eigentlich ganz gut überstanden.
       
       taz: Wie haben Sie nach dem Krieg weitergemacht? 
       
       Lunow: Nach dem Krieg dauerte es lange, bis die Schulen wieder öffneten.
       Als es so weit war, habe ich an der Ballettschule bei Anni Stoll-Peterka,
       der damaligen Ballettmeisterin im Metropol-Theater in Ostberlin, meine
       Ausbildung zur Balletttänzerin angefangen und mir das Geld dafür abends als
       Kleindarstellerin am Deutschen Theater und am Berliner Ensemble verdient.
       Ich habe da immer hinter der Bühne gestanden und zugeguckt, weil ich das so
       interessant fand. Eines Tages dachte ich, dass Schauspielerin zu sein noch
       viel schöner ist als Tänzerin. Vor allem weil der Tänzer-Beruf ist ja sehr
       begrenzt ist. Mit Mitte 30 ist meist Schluss.
       
       taz: Und dann haben Sie umgesattelt? 
       
       Lunow: Nein, die Ballettausbildung wollte ich nicht abbrechen, es hat mir
       ja auch Spaß gemacht. Aber ich habe überall rumgefragt, wo ich eine
       Schauspielausbildung machen kann. Ein Schauspieler vom Deutschen Theater
       hat mir dann eine private Schauspielschule empfohlen. Ich bin vormittags
       von 9 bis 14 Uhr weiter in die Ballettschule gegangen, dann nach Steglitz
       zu meinem Schauspielunterricht gefahren und war zwischendurch noch in
       Kleinmachnow, wo ich meine Stimmausbildung hatte. Ich habe ziemlich direkt
       hintereinander zuerst die Ballettprüfung und dann meine Schauspielprüfung
       gemacht.
       
       taz: Hatten Sie eigentlich am Beginn Ihrer Karriere schon diese dunkle,
       runde Stimme? 
       
       Lunow: Ja, ich klang mit 19 Jahren schon reifer, als ich alt war. Wegen
       meiner tiefen Stimme habe ich auch sehr viele Schwarze Schauspielerinnen
       synchronisiert. Einen ganz anderen Typ also, als ich einer bin.
       
       taz: Sie sprechen auch Tante Mania, das ist Bibi Blocksbergs Hexenlehrerin. 
       
       Lunow: Das mache ich jetzt seit über 25 Jahren. Vor mir hat Tilly
       Lauenstein sie gesprochen. Sie erkrankte ganz plötzlich, es wurde ein
       Ersatz gesucht, der mitten in der Folge, die gerade aufgenommen wurde,
       einsteigen kann. Einige Stimmen wurden ausprobiert und ich bin ausgesucht
       worden. Ich habe quasi von einem Satz zum anderen die Rolle weiter
       gesprochen und es war nicht auffällig. Seitdem spreche ich sie.taz: Mögen
       Sie die Rolle?
       
       Lunow: Ich mag die sehr. Es ist eben die strenge, aber liebe Tante Mania,
       zu der alle kommen, wenn sie ein Problem haben.
       
       taz: Sie sind 2019 mit dem Deutschen Preis für Synchron für Ihr Lebenswerk
       ausgezeichnet worden. Fühlt sich das nicht komisch an? So nach: Jetzt haben
       Sie alles erreicht und können abtreten? 
       
       Lunow: Nein, das sehe ich nicht so. Ich habe mich sehr über die Anerkennung
       für meine Arbeit gefreut und hoffe, dass ich sie auch noch im hohen Alter
       etwas fortsetzen kann.
       
       taz: Es geht also weiter. 
       
       Lunow: Ja. Während der Coronazeit ist es allerdings, wie bei fast allen,
       etwas weniger geworden. Aber es gibt immer mal solche Zeiten. Grundsätzlich
       muss man aber bedenken, dass in den ausländischen Filmen viel weniger
       ältere Schauspielerinnen vorkommen, die synchronisiert werden müssen. Somit
       ist es als ältere Frau auch schwieriger, eine Rolle zu bekommen.
       
       taz: Ja? 
       
       Lunow: Eine Zeit lang war das ein völliges Tabu. Da wurden ja aus Filmen
       wirklich die alten Frauen rausgeschrieben. Jetzt hat sich das wieder ein
       bisschen geöffnet. Aber in welchem Film kommen schon alte Frauen vor?
       Deshalb ist die Auftragslage für mich nicht so dick.
       
       taz: Sie könnten aber schon auch jüngere Frauen sprechen. 
       
       Lunow: Also, meine Rollen müssen noch nicht 93 sein, aber sie müssen
       einfach zu mir passen.
       
       taz: Sie haben mal gesagt, dass Synchronsprechen heute recht einsam ist.
       Was meinen Sie damit? 
       
       Lunow: Früher stand man immer gemeinsam mit allen Sprechpartnern im Studio,
       heute wird fast jede Stimme allein aufgenommen. Das ist sehr schade, denn
       im Dialog zu sprechen, ist immer viel stimmiger und außerdem macht es auch
       mehr Spaß beim Sprechen.
       
       taz: Wie ist es heute? 
       
       Lunow: Heute steht man einsam an seinem Pult und spricht seine Sachen
       hintereinanderweg und dann ist schon der Nächste dran. Man spricht seine
       eigene Rolle gar nicht mehr mit den Partnern, man kennt die meisten gar
       nicht mehr.
       
       taz: Was ist für Sie eigentlich ein gutes Gespräch? 
       
       Lunow: Ein gutes Gespräch?Wenn man das Gefühl hat, dass der Partner auf
       einen eingeht und man versucht, eine Übereinstimmung zu finden. Das ist bis
       heute so. Ich mache ja noch zweimal die Woche Fitnesstraining, um mich
       körperlich fit zu halten. Und während dieses Trainings unterhalten wir uns.
       Das sind alles gute Gespräche über Politik und das Menschliche.
       
       taz: Wie blicken Sie denn im Moment auf die politische Lage? 
       
       Lunow: Ich wollte mit Ihnen eigentlich gar nicht über Politik sprechen.
       Aber gut, was mich irritiert, ist, dass viele nicht mehr bereit sind, auf
       andere Menschen mit anderen Ansichten einzugehen. Auf diese Weise wird man
       nie etwas erreichen. Ich finde es sehr wichtig, mit anderen Menschen das
       Gespräch zu suchen. Nur auf diese Weise kann man überhaupt zu einer
       Annäherung kommen. Wir haben uns aber so eine Kälte angewöhnt und grenzen
       uns immer mehr voneinander ab.
       
       taz: Sehen Sie einen Weg, um wieder ins Gespräch zu kommen?Lunow: Schwer zu
       sagen, ich weiß nur, dass ich im Alter toleranter geworden bin. Ich bin
       deshalb kein besserer Mensch geworden oder so etwas, aber ich habe für
       viele Dinge im Leben doch mehr Verständnis.
       
       taz: Sie können seit etwa zwei Jahren fast nichts mehr sehen. Was spielt
       das für Ihre Arbeit für eine Rolle? 
       
       Lunow: Ich habe eine Makuladegeneration. Eine ganz blöde Krankheit. Fast
       zehn Jahre lang habe ich jeden Monat eine Spritze ins Auge gekriegt, um die
       Sache aufzuhalten. Hat auch vielleicht gebremst, aber es hat letztlich
       nichts geholfen. Vor zwei Jahren hatte ich Einblutungen in die Augen und
       dann war es aus.
       
       taz: Aber Sie arbeiten noch. Wie funktioniert das denn, wenn Sie Ihren Text
       nicht mehr lesen können? 
       
       Lunow: Früher bekam man seinen Text vorher zugeschickt und musste ihn
       wirklich lernen. Und die Takes, also die Abschnitte, die hintereinander
       aufgenommen werden, waren wesentlich länger. Ich habe in dem bekannten Film
       „Anna Karenina“ eine Rolle synchronisiert, da gingen die einzelnen Takes
       über eine ganze Seite. Heute hat man zwei Sätze, drei Sätze höchstens. Der
       Regisseur, der im Nebenraum ist, liest ohnehin immer den Text, bevor eine
       neue Szene dran ist, und wenn ich da bin, liest er den Text eben laut vor.
       Ich höre ihn und merke ihn mir und spreche ihn dann meiner Rolle
       entsprechend. Das funktioniert gut, aber die Erkrankung hat mein ganzes
       Leben verändert.
       
       taz: Wie? 
       
       Lunow: Ich kann zum Beispiel nicht mehr Auto fahren. Das ist ein wirklicher
       Einschnitt. Sonst habe ich immer drei Termine hintereinander gemacht, war
       schnell unterwegs, das geht nicht mehr. Und ich war immer eine Leseratte.
       Ich konnte kaum buchstabieren, da habe ich schon gelesen, bin nur mit
       Büchern durch die Gegend gelaufen. Meine Mutter hat immer gesagt: Du
       verdirbst dir noch die Augen! Dass ich nicht mehr lesen kann, ist für mich
       sehr, sehr traurig. Es geht einem so viel vom Leben verloren, auch draußen.
       Auch die Landschaft. Das alles sehe ich ja gar nicht mehr.
       
       taz: Das heißt, Sie sind auf Gespräche zurückgeworfen? 
       
       Lunow: Schon. Ich bin in der Öffentlichkeit auf fremde Hilfe angewiesen, ob
       beim Fahren mit dem Bus oder beim Einkaufen. Das sind so Sachen, die mir
       als sehr selbstständigem Menschen doch sehr schwer fallen. Und seit einem
       schweren Unfall vor zwei Jahren bin ich auch nicht mehr so gut zu Fuß. Aber
       ich versuche, noch selbstständig zu leben. Das ist wichtig.
       
       taz: Ist das nicht auch einsam bisweilen? 
       
       Lunow: Ich habe gerade Urlaub mit meinem Sohn gemacht, der glücklicherweise
       hin und wieder mit mir verreist. Aber mein Mann ist vor sechs Jahren
       gestorben, und fast alle meiner Freunde und Kollegen aus den vergangenen
       Jahren gibt es nicht mehr.
       
       taz: Meine Großmutter ist über 100 geworden. Ihr ging es so, wie Sie es
       gerade beschrieben haben. Sie hat mal zu mir gesagt: Ich glaube, ich wurde
       vergessen. 
       
       Lunow: Ja, das versteh ich. Wir waren mehr als 50 Jahre lang ein sehr
       großer Freundeskreis, der selbst die Zeit überstanden hat, als mein Mann
       und ich im Westen waren und die anderen im Osten geblieben sind. Als die
       Mauer fiel, waren wir wieder wie eh und je zusammen. Das hat nichts an
       unserem Verhältnis zueinander verändert. Und nun ist keiner von ihnen mehr
       da, unsere Gespräche sind verstummt.
       
       taz: Arbeiten Sie auch weiter, um sich Ihre Autonomie zu erhalten? 
       
       Lunow: Ja, aber ich muss sagen, ich bin manchmal ein bisschen müde und
       erschöpft und denke: Ach, jetzt auch noch zwei, drei Stunden ins
       Synchronstudio? Das schaffst du gar nicht. Und dann mache ich die Arbeit
       und komme raus, bin putzmunter und es geht mir bestens. Die Arbeit
       vitalisiert mich. Die baut mich auf.
       
       taz: Wie lange wollen Sie das noch machen? 
       
       Lunow: Solange es mir gut geht und ich Freude an der Arbeit habe.
       
       26 Dec 2025
       
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