# taz.de -- Über das Nichtreden: Schweigen ist ein großes Geschenk
       
       > Der digitale Kapitalismus kann die Stille nicht ertragen. Dabei kann viel
       > Großzügigkeit darin liegen, Dinge nicht auszusprechen. Ein
       > Debattenbeitrag.
       
 (IMG) Bild: Muss wirklich jede Botschaft unhörbar laut in die Welt getragen werden?
       
       Kürzlich war ich in einem Kurs, in dem es um Kommunikation mit Kindern
       ging. Die Dozentin sagte, dass es wichtig sei, Fragen von Kindern offen und
       direkt zu beantworten. In einem Beispiel ging es um ein Kind, das im Bus
       gefragt hatte: „Warum hat die Frau solche Haare?“ – und dabei auf eine
       Schwarze Frau und ihre Locken gedeutet hatte. Man solle die Frage direkt
       beantworten, meinte die Dozentin, sonst glaubten die Kinder, dass Differenz
       etwas Fragwürdiges sei, was nur im Hinterzimmer besprochen werden dürfe.
       
       Daraufhin meldete sich eine Teilnehmerin und sagte, sie habe einmal im Zug
       in einem Abteil mit einem Kind gesessen, dessen Gesicht voller
       Verbrennungsnarben war. Das Kind der Teilnehmerin fragte seine Mutter, was
       das sei – woraufhin die Eltern des versehrten Kindes baten, das jetzt nicht
       im Abteil zu erklären. Die Teilnehmerin hat daraufhin geschwiegen.
       
       Die Dozentin fand das falsch. Ich finde es richtig.
       
       ## Die Alles-lässt-sich-thematisieren-Lehre
       
       Die Todsünde heutiger Kommunikation ist das Tot-Schweigen. Aber welchen
       Preis hat dieses Inslebenholen qua Gespräch? Und, vor allem, wer zahlt ihn?
       
       Wo ist das Problem?, fragen die Vertreter:innen der reinen
       Alles-lässt-sich-thematisieren-Lehre. Jede:r kann sich dazu verhalten.
       Aber das ist es doch: Man muss sich verhalten zu einer Beschämung, die
       nicht zurückzuholen ist. Es kann viel Großzügigkeit darin liegen, Dinge
       nicht zu sagen.
       
       Wer schweigt, tritt ein Stück zurück. Hat keine Meinung parat, zeigt für
       alle sichtbar, nichts zu sagen zu haben.
       
       Ich habe mich immer gefragt, wie sich Autor:innen wie Harper Lee gefühlt
       haben, die irgendwann aus der Öffentlichkeit verschwanden, weil sie nichts
       mehr publizierten. Erlebten sie das als Scheitern oder als eine Form der
       Ehrlichkeit mit sich selbst, auf die sie stolz waren? Ich weiß es nicht und
       natürlich gibt es keine pauschale Antwort.
       
       Wer schweigt, fällt heraus aus einer Gesellschaft von Instant-Meinungen,
       die immer und sofort zur Hand sind. Ist im Grunde tot, weil nicht mehr auf
       Sendung. „Die Hyperkommunikation, der Kommunikationslärm entweiht und
       profanisiert die Welt. Niemand lauscht. Jeder produziert sich“, schreibt
       der Philosoph [1][Byung-Chul Han] in seinem Essay „Undinge. Umbrüche der
       Lebenswelt“ erbittert.
       
       Schweigen kann Kommunikationsverweigerung sein. Oder das Wegducken einer
       ganzen Gesellschaft, wie in der sprachlosen Bundesrepublik der
       Nachkriegsjahre. Inzwischen ist es auch etwas ganz anderes: widerständig.
       Ein anarchischer Akt in einer Zeit, in der Kommunikation als Voraussetzung
       wirtschaftlichen Überlebens gilt. „Der Informationskapitalismus erzeugt den
       Zwang zur Kommunikation. Daher liebt der Kapitalismus die Stille nicht“,
       schreibt Han mit so etwas wie Genugtuung.
       
       Die Stille wirft ein grelles Licht auf die Überproduktion. Wie folgerichtig
       und befriedigend es ist, dass dieser Widerstand kostenlos ist, ein Nichts
       gegen das Zuviel.
       
       Es ist ein Nichts, das Mut erfordert. Wer schweigt, muss der Angst ins Auge
       sehen, in der Unhörbarkeit zu verschwinden. Niemand honoriert diesen Mut,
       vielleicht – und es ist schwierig, das nicht kränkend zu finden – wird die
       Leerstelle nicht einmal bemerkt.
       
       ## Die Freiheit des Schweigens
       
       Was den Schweigenden bleibt, ist eine große Freiheit. Sie sind raus aus dem
       Spiel, fliegen tief unter dem Radar, performen nicht länger, sie sind
       beneidenswert unproduktiv. Sie schweigen, also können sie hören.
       
       Es gibt Menschen, für die diese Stille notwendige Bedingung ist, um zu
       etwas außerhalb ihrer selbst zu kommen: Kunst. Einer Beziehung zu Gott.
       
       Schweigen war für den Philosophen Ludwig Wittgenstein die angemessene
       Reaktion auf Unsagbares, auf all das, was unser Fassungsvermögen
       übersteigt: „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.“
       
       Kein Wunder, dass in einer Zeit, die hochallergisch auf alles Unverfügbare
       reagiert, das Schweigen zu den Verlierer:innen gehört. Das
       Wittgenstein-Zitat ist kurz davor, zu einer Postkarten-Weisheit zu
       verkommen, die sich besser verkauft als seine Texte, aber das macht es
       nicht weniger wahr.
       
       Das Schweigen ist ein großes Geschenk, eine große Möglichkeit. Niemand kann
       sie uns nehmen.
       
       27 Dec 2025
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://de.wikipedia.org/wiki/Byung-Chul_Han
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Friederike Gräff
       
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