# taz.de -- Autorin über Versäumnisse des Gedenkens: „Uns geht es um eine plurale Erinnerungskultur“
       
       > Wenn das Gedenken gelungen wäre, wäre die AfD nicht so erfolgreich, sagt
       > Hadija Haruna-Oelker. Sie plädiert dafür, alles auf Anfang zu stellen.
       
 (IMG) Bild: Sprechakt: Zentrale Gedenkfeier für die Opfer des Nationalsozialismus, 27. Januar 1997 im Bonner Bundestag
       
       taz: Frau Haruna-Oelker, warum braucht es eine neue Erinnerungskultur? Was
       ist denn mit der alten – hat die jemand kaputtgemacht? 
       
       Hadija Haruna-Oelker: Vorneweg, und das ist, glaube ich, wichtig: Es geht
       nicht um eine Generalabrechnung, die sagt, alles war verkehrt und nichts
       war gut. Eher um eine kritische Betrachtung des Weges, der nach 1945
       eingeschlagen wurde im Sinne der Aufarbeitung der deutschen
       Gewaltgeschichte. Was ist da passiert, zu welchem Zweck und mit welchem
       Ergebnis? Es ist nun mal so, dass wir den Aufstieg einer [1][teilweise
       gesichert rechtsextremen Partei] haben, der eigentlich nicht da sein
       dürfte, wenn Erinnerungskultur und Aufarbeitung gut funktioniert hätten.
       Und da ist ja die Frage schon berechtigt: Warum ist das so? Was ist da
       passiert? Was haben die Menschen nicht gelernt, oder was wurde nicht
       verlernt?
       
       taz: Dem Thema widmen Sie und Ihr Ko-Autor Max Czollek schon seit 2023 auch
       einen Podcast. 
       
       Haruna-Oelker: [2][„Trauer und Turnschuh“], genau. Da geht es uns um dieses
       Sprechen über die Leerstellen der Aufarbeitung. Also: Welche Opfer wurden
       vergessen, nicht mitgedacht, nicht miterzählt in ihren parallelen
       Geschichten? Das ist wichtig: Es geht nicht um eine Hierarchisierung, nicht
       um eine Relativierung.
       
       taz: Sondern? 
       
       Haruna-Oelker: Um Gleichzeitigkeiten in der deutschen Gewaltgeschichte und
       deren Folgen. Und dann kam eben dieser Aufstieg der AfD 2023, dann [3][der
       Anschlag der Hamas am 7. Oktober] und dann wurde es sehr traurig in
       Deutschland und in mehrerlei Hinsicht. Diese Wendepunkte, so nenne ich es
       jetzt mal, haben das, was Menschen in Deutschland hatten, oder wie wir
       erinnern, oder wer überhaupt relevant ist, in der Geschichte, erschüttert
       und vieles infrage gestellt. Und unter anderem auch die Erinnerungskultur.
       Uns geht es deshalb auch um eine plurale Erinnerungskultur, die wir jetzt
       bräuchten, damit wir diese Zeiten besser zusammen bewältigen können.
       
       taz: Die AfD ist also nicht das einzige Problem. Sie ist nur so was wie
       dessen deutlichster Ausdruck? 
       
       Haruna-Oelker: Ja, bei einer deutsch-deutschen Betrachtung ist das
       Erstarken der AfD sicherlich die ausdrücklichste Form. Wir haben natürlich
       viele Konflikte, und in unserem Buch schauen wir auch auf die innerhalb der
       marginalisierten Gruppen. [4][Wir sind Teil der postmigrantischen
       Generation], so verstehen wir uns. Es ist sozusagen auch ein kulturelles
       Verständnis einer Zeit, in der marginalisierte Menschen sich sichtbar
       gemacht haben. Juden und Jüdinnen sind dafür eingestanden, nicht nur als
       homogene Gruppe verstanden zu werden, sondern als heterogene, genauso
       migrantisierte Gruppen, [5][Schwarze Menschen], behinderte Menschen und
       queere Personen – all die aus den sozialen Bewegungen.
       
       taz: Alles Kämpfe um Anerkennung, um Sichtbarkeit? 
       
       Haruna-Oelker: Sie haben für ihre Wahrnehmbarkeit gekämpft, fernab
       irgendeines Trends, sondern im Sinne einer Erinnerungskultur und einer
       Geschichte, die eben plural erzählt werden will. Innerhalb dieser Gruppen
       gab und gibt es auch Konflikte, es gibt Schmerz und Trauer und vieles, was
       von einer Dominanzkultur nicht verstanden wird. Deswegen haben wir es
       aufgeschrieben, das wäre [6][schon vor dem 7. Oktober] wichtig gewesen.
       
       taz: Ich gehe nicht davon aus, dass Sie es vorhatten, aber Sie haben da
       jetzt keine Handreichung geschrieben, „Diverser Gedenken 2.0“, oder so
       etwas. 
       
       Haruna-Oelker: Es ist kein Ratgeber. Es ist kein Gesprächsband, auch kein
       Abdruck unseres Podcasts. Es ist ein dialogischer Austausch, den ich mal
       ein „reaktives Schreiben“ genannt habe.
       
       taz: Wie ist das zu verstehen? 
       
       Haruna-Oelker: Weil wir mit unseren Positionen und den Erfahrungen, mit
       denen wir auf die Welt blicken, Thesen entwickelt haben, um diese Gegenwart
       zu bewältigen. Wir haben uns viele Gedanken gemacht, wie wir dieses Buch
       schreiben, und so ist es nun auch gegliedert. Es geht um [7][das
       postmigrantische Jahrzehnt]. Es geht um das Thema Anti-Wokeness und
       Kulturkampf aus einer medial kritischen Sicht.
       
       taz: Das klingt ziemlich heutig. 
       
       Haruna-Oelker: Um die Vergangenheit geht es natürlich auch und um Politik.
       Um die Dinge, die uns bewegen. Die haben wir uns in einem Ballsystem
       zugeworfen, als Thesen. Entstanden sind unterschiedliche Formen, mal ein
       Brief, aber auch mal längere Ausführungen, dann wieder schnellere Szenen.
       So wie es in einem Gespräch entsteht, in dessen Verlauf man Zeit hat
       nachzudenken, etwas auszuformulieren. So ist das Buch sehr mit der Zeit
       entstanden und deswegen auch ein Logbuch der Gegenwart, mit all dem, was
       war in dem knappen Jahr vom [8][Ampel-Aus] bis nach der Bundestagswahl.
       
       taz: Sie formulieren den Anspruch, dass „unsere Vergangenheit mit ihren
       Geschichten“ auch ein „Reservoir für die Herausforderungen der Gegenwart“
       sein könne. Wie kann die Mehrheitsgesellschaft in diesem Sinne profitieren
       von den marginalisierten Perspektiven? 
       
       Haruna-Oelker: Der Lohn läge darin, wieder zu mehr Zusammenhalt und
       Miteinander zu finden. Es zeigen doch viele Studien: Wenn man Menschen
       privat fragt, was sie sich wünschen, dann ist es genau das Gegenteil der
       [9][Spaltung, von der immer erzählt wird]. Das sehen wir auch bei unseren
       Lesungen oder in den Rückmeldungen zum Buch: Die Menschen sehnen sich nach
       einem Gefühl, das sie zusammenbringt, ja, und zusammenhält und auch Fragen
       beantwortet. Ich glaube, viele Menschen haben verstanden, dass sie vieles
       über die vermeintlichen anderen nicht wissen. Das ist ein Angebot.
       
       taz: Und dabei helfen andere Erfahrungen? 
       
       Haruna-Oelker: Genau. Wir gehen da mit [10][Audre Lorde], die schreibt: „We
       were never meant to survive“, und das ist ja so ein Hinweis auf ein Wissen
       der Unterdrückten. Ob man auf Jüdinnen und Juden schaut, auf Schwarze
       Menschen, auf andere Marginalisierte: Es gab immer Zeiten, in denen es
       nicht vorgesehen war, dass man leben sollte, dabei sein sollte, zugehörig
       ist. Daraus ist ein Wissen entstanden, davon profitieren Max und ich.
       
       taz: Was für ein Wissen? 
       
       Haruna-Oelker: „Elder Wissen“ nenne ich es, er spricht über „die Ahnen“ und
       „die Toten“. Aus meiner Sicht ist es auch ein spirituelles Wissen, aber es
       gibt genauso wissenschaftliches und philosophisches Material, Dinge, die
       man nachlesen kann. All das steckt mit in unserem Text. Wir haben uns da
       nicht alles ganz neu ausgedacht, wir haben auch Wissen, das es gibt,
       gemeinsam zusammengelegt. Das wollen wir auch retten, dieses Wissen der
       Unterdrückten.
       
       taz: Gibt es über fehlendes Wissen hinaus nicht aber auch konkurrierende
       Interessen? Sie hatten vorhin einen Knackpunkt jeder Gedenk-Diskussion
       gestreift: die Frage, wie sich Hierarchisierung vermeiden lässt. Nehmen wir
       diejenigen, die lange und hart kämpfen mussten für die Anerkennung
       spezifischen Leids, zum Beispiel des jüdischen. Die werden nicht ohne
       Weiteres von der besonderen Aufmerksamkeit lassen können – und das ja nicht
       aus Egoismus oder weil sie böse wären. Wie löst man so einen Konflikt? 
       
       Haruna-Oelker: Na ja, wer hat sich das ausgedacht? Dinge in Hierarchie und
       Konkurrenz zu stellen, ist eine alte koloniale Praxis. Man trennt Menschen,
       indem man ihnen erzählt, sie seien unterschiedliche Gruppen und verstünden
       sich nicht. Das ist Machtpolitik. Aus einer intersektionalen Perspektive,
       über die man diskutieren kann, geht es um ein Denkangebot: Hör auf,
       Menschen in Gruppen zu denken, sieh ihre Einzelerfahrungen und
       biografischen Überschneidungen im Menschsein. Deswegen erfolgt da auch
       keine Relativierung, keine Infragestellung von Singularität beispielsweise
       der Shoa.
       
       taz: Keine Infragestellung des einen, aber die Berücksichtigung auch des
       anderen? 
       
       Haruna-Oelker: Wenn man die Komplexität der Migrationsgesellschaft
       verstehen will, und so eine sind wir, dann braucht es ein anderes
       Verständnis dieser Gesellschaft. Und ich würde behaupten, in einem
       dominanten Diskurs existiert so eines nicht.
       
       taz: Sondern? 
       
       Haruna-Oelker: Es gibt Erinnerungskämpfe, es gibt Anerkennungskämpfe,
       Menschen ringen um die eigene Wahrnehmbarkeit sogar in ihren Familien, in
       ihren sozialen Bewegungen. So banal es klingt, nur gemeinsam ist man stark
       gegen machtvolle Erzählung, die Menschen ausschließt. Und wenn Sie mich
       konkret fragen: Natürlich braucht es Wissen. Wir leben in einem
       postfaktischen Zeitalter, Menschen holen sich ihr Wissen sonst woher und
       glauben an Lügen. Es braucht darum Wissen, aber es braucht auch
       Selbstkritik, ein kritisches Denken und sich loslösen vom Wunsch, auf der
       „Seite der Guten“ zu stehen, wie Max gerne sagt. Denn welche Seite ist die
       Gute? In welcher Erzählung, von wem aus wird sie bestimmt?
       
       taz: Und außerdem? 
       
       Haruna-Oelker: Bedarf es des Mitgefühls – mit einem Bindestrich dazwischen:
       Mit-Gefühl. Keine Empathie, die man sich performativ aneignen kann, sondern
       mehr in der Richtung: Ich nehme dich wahr und ich lerne von dir. Ein
       bildliches An-die-Seite-Stellen, um ein Gegenüber anzuerkennen. Viel
       wichtiger als Toleranz ist Anerkennung, auch die von Geschichten. Dann
       kommen wir raus aus der Hierarchie: Wenn ich alle Geschichten der Menschen
       einer Gemeinschaft kennenlerne, dann gibt es keine, die wichtiger ist. Dann
       sind sie alle auf ihre Art wichtig. Und so ist es ja in Deutschland. Wir
       sind Menschen von überall auf der Welt. Alle bringen ihre Geschichten mit.
       In Deutschland gibt es eine deutsche Geschichte, in anderen Ländern gibt es
       andere und sie verbinden sich hierzulande transnational. Das heißt, wenn
       wir eine Migrationsgesellschaft sind, sollten wir lernen, diese Geschichten
       gemeinsam zu lesen, um eine plurale Erinnerungskultur zu schaffen, die
       niemanden ausschließt und niemanden klein macht und niemanden wegdenkt.
       
       taz: Wenn Sie es optimistisch betrachten: Wo steht die Gedenk-, die
       Erinnerungskultur in diesem Land in zehn Jahren? 
       
       Haruna-Oelker: Max und ich haben unser Buch „Alles auf Anfang“ genannt,
       auch weil es manchmal gut ist, wenn man einen Strich zieht – und sei es nur
       ein innerlicher. Wenn man noch mal neu anfängt zu denken und nicht glaubt,
       die alten Konzepte funktionieren auch weiterhin. Sondern sich fragt, was
       daran nicht funktioniert hat. Was man besser machen könnte – zum Beispiel
       bei einer alljährlichen Gedenkfeier, [11][wenn es um jüdisches Leben geht].
       Was würde es bedeuten, nicht performativ zu agieren? Wie kann dabei echte
       Verantwortung übernommen werden für die eigene Geschichte und familiäre
       Beteiligung zum Beispiel? Ich habe selbst einen deutschen Anteil in meiner
       Biografie, und ich weiß, wie in deutschen Familien oft mit der
       Vergangenheit umgegangen wird. Was also würde passieren, im Privaten wie im
       Institutionellen, wenn [12][wir uns davon erzählen und aufarbeiten]? Das
       würde ich mir wünschen, dass sich mit den Erkenntnissen, die sich dadurch
       ergeben, in zehn Jahren eine Mehrheit aufgebäumt hat, gegen die rechten
       Kräfte in diesem Land, die ein autoritäres System wollen. Und das Prinzip
       dabei ist: mit mehr Ehrlichkeit dazu zu stehen, wie dieses Land durch seine
       plurale Bevölkerung geworden ist. Von diesen Geschichten erzählen wir uns
       dann mehr an Gedenktagen und bauen von mir aus auch [13][entsprechende
       Denkmäler].
       
       24 Nov 2025
       
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