# taz.de -- Friedensnobelpreisträgerin Matwijtschuk: „Das Ziel des Kremls war und ist die Zerstörung der Ukraine“
       
       > Die ukrainische Friedensnobelpreisträgerin Matwijtschuk warnt vor einem
       > ungerechten Frieden. Putins Krieg sei mehr als ein Angriff auf ihr Land.
       
 (IMG) Bild: Schutzsuchen in der U-Bahn: Russischer Angriff auf Kyjiw am 14. November 2025
       
       taz: Frau Matwijtschuk, alle Augen richten sich derzeit auf [1][den
       sogenannten Friedensplan], den die USA und Russland der Ukraine
       vorgeschlagen haben. Was halten Sie davon?
       
       Oleksandra Matwijtschuk: Die Menschen in der Ukraine sehnen sich nach
       Frieden mehr als all unsere internationalen Partner, denn sie leben täglich
       mit der Realität des Krieges. Jedoch muss jeder Friedensplan mindestens
       zwei zentrale Fragen beantworten: Kann er den Krieg beenden und welche
       Rolle spielen die Menschen in diesem Konflikt? Der 28-Punkte-Plan gab auf
       diese Fragen keine Antwort.
       
       taz: Und jetzt? 
       
       Matwijtschuk: Putin hat diesen Krieg nicht wegen Städten wie [2][Awdijiwka]
       oder Bachmut [3][im Donbas] begonnen. Es wäre naiv zu glauben, dass
       Russland Hunderttausende Soldaten für ein paar kleine Städte in der
       Ostukraine eingesetzt hat, die die meisten Russen nicht einmal auf der
       Landkarte finden würden. Das Ziel des Kremls war und ist die Zerstörung der
       Ukraine als Staat. Putin betrachtet die Ukraine als Brücke, um weiter
       voranzukommen, und sein Projekt als imperial. Ein Imperium strebt immer
       nach Expansion. Das ist nicht meine Interpretation, sondern dies sind die
       direkten Worte Putins: Die Grenzen des russischen Staates „enden
       nirgendwo“. Das ist kein Wahnsinn, sondern kalte Pragmatik und sein Wunsch,
       „Spuren in der Geschichte zu hinterlassen“. Denn Russland ist ein Imperium.
       Ein Imperium hat ein Zentrum, aber keine Grenzen.
       
       taz: Wie könnte man das verhindern? 
       
       Matwijtschuk: Jeder Friedensplan muss reale Sicherheitsgarantien enthalten,
       die Putin klar machen, dass seine Ziele unerreichbar sind. Als Russland im
       Jahr 2014 die Krim und Teile des Donbass besetzte, war die Ukraine ein
       neutraler Staat. In der Verfassung gab es keinen Hinweis auf die Nato. Die
       Ukraine hatte damals keine Chance, ihre Gebiete zurückzuerobern, weshalb
       [4][die Minsker Abkommen unterzeichnet wurden]. Wie hat Russland diese acht
       Jahre genutzt? Es hat systematisch gegen die Waffenruhe verstoßen, Menschen
       getötet, ukrainische Männer aus den besetzten Gebieten für seine Armee
       mobilisiert, Militärstützpunkte errichtet, die Wirtschaft auf neue
       Sanktionen vorbereitet, Munition gehortet und schließlich eine Vollinvasion
       gestartet.
       
       taz: Sollte Russland die Kontrolle über die derzeit besetzten Gebiete der
       Ukraine behalten, was würde dies für die Menschen dort bedeuten? 
       
       Matwijtschuk: Dieser Plan lässt [5][Millionen von Menschen in einer
       Grauzone] zurück, ohne ihnen die Möglichkeit zu geben, ihr Leben, ihre
       Kinder, ihre Rechte und ihr Eigentum zu schützen. Gleichzeitig bietet er
       keine Hilfen und spricht dieses Thema nicht einmal an. Unser Leben besteht
       nicht nur aus Geopolitik, sondern vor allem aus menschlichen Schicksalen.
       Auch die russische Besatzung ist ein Krieg, nur das Leid wird dabei
       unsichtbar. Menschen im Ausland können sich oft nicht vorstellen, dass es
       sich nicht nur um einen Flaggenwechsel handelt. Entführungen, Folter,
       Vergewaltigungen, die Zerstörung der Identität, die Zwangsadoption
       ukrainischer Kinder, Infiltrationslager und Massengräber – das ist die
       Realität der Besatzung.
       
       taz: Der aktuelle Plan sieht auch eine umfassende Amnestie für beide Seiten
       vor. Sie und Ihre Organisation [6][Center for Civil Liberties] arbeiten
       seit fast zwölf Jahren mit Opfern von Kriegsverbrechen. Wie wird sich eine
       Amnestie für Russland auf diese Menschen und ihre Angehörigen auswirken? 
       
       Matwijtschuk: Dieser Punkt sollte nicht in einem Friedensplan enthalten
       sein. Welches Signal sendet man damit? Dass man als Staatschef mit starkem
       militärischem Potenzial und Atomwaffen alles tun kann, was man will? In
       andere Länder einmarschieren, Grenzen mit Gewalt verändern, Menschen töten,
       Kinder entführen – und dafür keine Verantwortung tragen soll? Wenn Russland
       das erlaubt wird, warum sollten dann andere Staaten nicht dasselbe tun? So
       etwas untergräbt das ohnehin schon labile globale Gleichgewicht. Eine Welt,
       in der das Recht des Stärkeren gilt, ist eine Welt voller Kriege und
       massiver Gewalt.
       
       taz: In Deutschland wird oft geäußert, dass ein Jahr Frieden besser sei als
       ein Jahr Krieg. Was sagen Sie dazu? 
       
       Matwijtschuk: Die Ukrainer wünschen sich Frieden, lehnen jedoch eine
       russische Besatzung ab. Für uns ist Freiheit nicht nur
       Selbstverwirklichung, sondern bedeutet Überleben. Diejenigen, die der
       Ukraine raten, ihren Widerstand aufzugeben, würden selbst niemals unter
       russischer Besatzung leben wollen. Sie würden nicht um fünf Uhr morgens
       aufwachen wollen, weil die Geheimdienste zu ihnen kommen. Sie wollen nicht
       erleben, wie ihr Haus auf den Kopf gestellt wird, ihre Frau vor ihren Augen
       vergewaltigt werden, wie ihr Mann zum Folterverhör abgeführt wird und ihre
       Kinder in ein Militärlager geschickt werden, um sie zu Putins zukünftigen
       Soldaten auszubilden. Würden andere Europäer so kämpfen wie die Ukrainer?
       Denn viele Europäer haben ihre Freiheit von ihren Urgroßvätern geerbt – sie
       selbst haben nicht dafür gekämpft. Aus dieser pragmatischen Sicht würde ich
       an ihrer Stelle die Ukraine mit aller Kraft unterstützen. Denn Putin wird
       nur dann aufhören, wenn man ihn aufhält.
       
       taz: Derzeit erschüttert ein [7][heftiger Korruptionsskandal] die Ukraine.
       Kann Demokratie im Kriegszustand überhaupt funktionieren? 
       
       Matwijtschuk: Die Ukraine ist ein Land im Transit. Wir hatten nicht den
       Luxus, demokratische Institutionen in Friedenszeiten aufzubauen. Nach der
       Revolution der Würde im Jahr 2014 wurden diese Institutionen unter
       Kriegsbedingungen geschaffen. Was den jüngsten Korruptionsskandal betrifft,
       so war ich, wie viele andere Ukrainer zutiefst empört. Die Menschen spenden
       ihr letztes Geld für die Armee, für Verwundete und für diejenigen, die ihr
       Zuhause verloren haben. Zu erfahren, dass jemand im Krieg seine Macht zum
       eigenen Vorteil missbraucht, ist schmerzlich. Pragmatisch betrachtet gibt
       es solche Menschen jedoch in jedem Land.
       
       taz: Und wie reagiert der Staat? 
       
       Matwijtschuk: Die Antikorruptionsbehörden haben [8][den Skandal aufgedeckt]
       und Verhaftungen sowie Gerichtsverfahren initiiert. Vor zwölf Jahren war so
       etwas noch unvorstellbar, denn damals waren die „Unantastbaren“ tatsächlich
       unantastbar. Dies wurde von Menschen ermöglicht, die im vergangenen Sommer
       auf die Straße gingen, als das Parlament versuchte, die Unabhängigkeit der
       Antikorruptionsbehörden einzuschränken. Trotz Raketen und Drohnen setzten
       sich die Ukrainer für Reformen ein und zwangen das Parlament, das Gesetz
       neu zu verabschieden. Dies ist ein Zeichen von Stärke, nicht von Schwäche.
       
       taz: Sie sind Juristin und Menschenrechtlerin. Gerade erleben wir, wie das
       Völkerrecht enorm verletzt und ignoriert wird. Was motiviert Sie, trotzdem
       weiterzumachen? 
       
       Matwijtschuk: Leider ist es nicht das erste Mal in der Geschichte, dass das
       Recht nicht greift. Doch ich habe Hoffnung. Ein Beispiel sind für mich die
       Veränderungen nach dem Zweiten Weltkrieg: Die Nürnberger Prozesse, die
       Gründung der Vereinten Nationen, die Durchsetzung humanistischer Prinzipien
       wie Menschenrechte oder die Unabhängigkeit der Justiz. Und zum anderen
       glaube ich, dass wir eine Chance haben, und dies ist ein großer Luxus.
       Generationen von Ukrainern haben vor uns im Untergrund für die Freiheit
       gekämpft, ohne internationale Unterstützung und ohne institutionelle
       Rückendeckung. Wir sind nur deshalb am Leben, weil sie selbst unter
       scheinbar hoffnungslosen Bedingungen nicht aufgegeben haben.
       
       taz: Der Winter ist da und Russland bombardiert wieder verstärkt Kraftwerke
       und Energieversorger in der Ukraine. Wie leben Sie in Kyjiw? 
       
       Matwijtschuk: Die Situation ist schwierig. Millionen Menschen könnten den
       Winter ohne Heizung und Strom verbringen. Alle müssen Lösungen für
       alltägliche Dinge suchen, beispielsweise, wie man Milch für sein kleines
       Kind erwärmt. Wir erwarten einen schwierigen Winter, unabhängig davon, wie
       diese Friedensverhandlungen ausgehen werden.
       
       taz: Worauf hoffen Sie? 
       
       Matwijtschuk: Ich weiß nicht, wie mein persönliches Schicksal aussehen wird
       – Krieg ist immer ein Glücksspiel. Ich lebe in Kyjiw, und alles ist
       möglich. Putin möchte uns in die Vergangenheit zurückversetzen, doch die
       Zukunft wird trotzdem kommen. Sie ist unausweichlich.
       
       28 Nov 2025
       
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