# taz.de -- Stadtforscherin über Wohnungslosigkeit: „Manche müssen Körperfunktionen timen“
       
       > Wer auf der Straße lebt, für den ist vieles schwerer. Für effektive
       > Gegenstrategien fehlt der politische Wille, sagt Andrea Protschky.
       
 (IMG) Bild: Direkt unter dem Reichstag und doch abgekoppelt von der Politik: Wohnungslosigkeit in Berlin
       
       taz: Frau Protschky, Sie fahren mit der U-Bahn und beobachten folgende
       Szene: Eine obdachlose Person riecht streng, jemand setzt sich weg. Was
       denken Sie? 
       
       Andrea Protschky: Ich möchte einzelnes Verhalten nicht moralisch bewerten.
       Mich interessiert in meiner Forschung, wie bestimmte Personengruppen in
       unserer Gesellschaft ausgeschlossen und stigmatisiert werden. In der
       Beförderungsordnung des Verkehrsbund Berlin-Brandenburg steht zum Beispiel,
       dass „verschmutzte und übelriechende“ Personen von der Beförderung
       ausgeschlossen sind. Sie werden auch tatsächlich rausgeworfen. Ausgeblendet
       wird aber: Wie ist es überhaupt dazu gekommen, dass eine Person sich nicht
       pflegen kann?
       
       taz: Warum wird das ausgeblendet? 
       
       Protschky: Die Norm, dass man sich waschen soll, hat sich historisch unter
       anderem herausgebildet, weil es für die Krankheitsbekämpfung wichtig war.
       Heute ist diese soziale Norm aber so verinnerlicht, dass eine
       Nichteinhaltung Affekte wie Ekel hervorrufen kann. Es wird gesellschaftlich
       als persönliche Verfehlung betrachtet, wenn eine Person ihre Hygiene nicht
       aufrechterhält. Nicht berücksichtigt wird, ob die Person überhaupt die
       Möglichkeit hat, sich zu waschen.
       
       taz: Wasser, Toiletten und Strom sind in Deutschland in der Regel über die
       eigene Wohnung zugänglich. Sie forschen dazu, wie der Zugang zu
       Infrastruktur Menschen ein- oder ausschließt. Was heißt das für obdachlose
       Menschen? 
       
       Protschky: Für Menschen, die auf der Straße leben oder Notunterkünfte
       nutzen, ist es richtig schwierig. In den meisten [1][Notschlafstellen]
       kommt man abends an und muss morgens um 7.30 Uhr wieder gehen. In der
       Zwischenzeit kann man duschen, sich aufwärmen, auf Toilette gehen oder das
       Handy laden. Daneben gibt es auch Tagesaufenthalte, Beratungsstellen und
       mobile Angebote. Es gibt also Möglichkeiten, aber sie haben sehr begrenzte
       Öffnungszeiten.
       
       taz: Ein Toilettengang ist für Menschen, die eine Wohnung haben,
       selbstverständlich. Menschen, die auf der Straße leben, müssen sich
       organisieren, damit sie überhaupt nur ihre Grundbedürfnisse befriedigen
       können. 
       
       Protschky: Ich habe mir unter anderem Infrastrukturen für Wasser, Energie
       und Mobilität angeschaut – und die sind sehr eng mit dem Körper verbunden.
       Die grundlegenden Bedürfnisse – sich zu waschen, zu trinken, an einem
       warmen Ort zu sein, oder die Möglichkeit, eine größere Strecke
       zurückzulegen – sind für wohnungslose Menschen mit großen Hürden verbunden.
       
       taz: Welche Folgen hat das konkret? 
       
       Protschky: Menschen ohne feste Unterkunft müssen zum Teil ihre
       Körperfunktionen timen. Sie müssen überlegen, wann muss ich zur Toilette?
       Wo kann ich das tun? Wie komme ich dahin? Habe ich genug Geld dafür? Das
       ist ein riesiger Organisationsaufwand. Wenn man sich zum Beispiel kein
       Ticket für öffentliche Verkehrsmittel leisten kann, müssen oft sehr weite
       Wege zu Fuß zurückgelegt werden – was oft auch körperliche Folgen hat. Eine
       Frau hat mir erzählt, dass sie einmal Durchfall hatte und es nicht
       rechtzeitig auf eine Toilette geschafft hat. Sie hatte auch danach keine
       Möglichkeit zu duschen.
       
       taz: Die britische Professorin Katie Meehan und andere Forscher*innen
       haben in diesem Zusammenhang von einem „Wohnungsparadox im Globalen Norden“
       geschrieben. Was ist damit gemeint? 
       
       Protschky: Es geht darum, dass Wohnen und Infrastruktur vor allem im
       Globalen Norden sehr eng verknüpft sind. Eigentlich ist das weltweit ein
       Ideal. Im Globalen Norden ist es aber ein Standard, dass es Zugang zu
       Wasser, Elektrizität, Wärme und auch Kommunikationstechnologien in der
       Wohnung gibt. Hat man diese Zugänge nicht, führt das aber nicht nur zu
       Ausschlüssen, sondern gleichzeitig zu einer Kriminalisierung. Wenn
       wohnungslose Menschen zum Beispiel in einem Busch auf Toilette gehen, weil
       sie keine andere Möglichkeit haben, dann ist das eine Ordnungswidrigkeit.
       Das ist mit Paradox gemeint.
       
       taz: Was folgt daraus? Bräuchte es mehr öffentliche Toiletten? Mehr
       Wohnungen? 
       
       Protschky: Das ist eine wichtige Frage. Die genannten Autor*innen
       befürworten tatsächlich mehr Infrastruktur im öffentlichen Raum. Ich glaube
       zwar auch, dass der Zugang zu kostenlosen, öffentlichen Toiletten oder
       Trinkwasser, Strom und WLAN die Situation verbessern würde. Aber es lassen
       sich nicht alle Infrastrukturzugänge, die man in der Wohnung hat, einfach
       im öffentlichen Raum ersetzen. Wenn Leute auf öffentliche Toiletten
       angewiesen sind und diese auch nachts nutzen, ist zum Beispiel die Gefahr
       von Übergriffen sehr groß, insbesondere für Frauen. Es fehlt der
       Schutzraum. Wärme, also heizen, funktioniert überhaupt nicht im
       öffentlichen Raum. Deswegen kann eigentlich nur der Zugang zu Wohnraum eine
       nachhaltige Lösung sein.
       
       taz: Welche Strategien entwickeln Menschen, um diese fehlenden Zugänge
       auszugleichen? 
       
       Protschky: Sie versuchen sich zum Beispiel in Shoppingmalls aufzuwärmen,
       dort die Toiletten oder WLAN zu nutzen. Viele gehen aber auch mal zu
       Freund*innen nach Hause. Oder es werden Camps gebaut, in denen man sich
       eigene Lösungen überlegt. Man benutzt Gaskocher, um Essen zu erwärmen.
       Manchmal nehmen die Leute auch Gaskocher mit ins Zelt und das kann im
       schlimmsten Fall zu Feuern oder zum Ersticken führen. All diese
       Ersatzstrategien sind sehr prekär. Selbst wenn man bei Freund*innen
       duschen kann, ist man immer auf die Erlaubnis angewiesen. Das schafft
       einseitige Abhängigkeitsverhältnisse.
       
       taz: Sie selbst haben diese Anstrengungen einmal „Körperlichkeit als
       Daueraufgabe“ genannt. 
       
       Protschky: Das Leben auf der Straße zehrt enorm an der Gesundheit der
       Menschen. Wenn der Körper einer wohnungslosen Person dann irgendwann in
       einem sehr schlechten Zustand ist, dann führt das auch zu weiteren
       Ausschlüssen. Wenn diese Menschen zum Beispiel in einem Café zur Toilette
       gehen wollen, wird es ihnen oft verwehrt, was Menschen, die nicht
       wohnungslos aussehen, seltener passiert. Und selbst die Notunterkünfte
       haben meist Hausregeln, die bestimmte Gruppen ausschließen.
       
       taz: Welche? 
       
       Protschky: Es gibt zum Beispiel fast überall Konsumverbote in den
       Einrichtungen. Man kann die Beweggründe der Gemeinschaftsunterkünfte auch
       nachvollziehen. Aber wenn eine Person süchtig ist, dann hält sie
       gegebenenfalls keine Nacht ohne Konsum durch, und wer nachts einmal die
       Unterkunft verlässt, darf meist nicht wieder reinkommen. Das kann Menschen
       davon abhalten, das Angebot zu nutzen. Es gibt aber auch ganz andere
       Ausschlüsse: Zum Beispiel gibt es nur sehr wenig Plätze für Menschen, die
       auf einen Rollstuhl angewiesen oder anderweitig mobilitätseingeschränkt
       sind. Zum Teil sind es aber auch einfach die Zustände in den Einrichtungen
       selbst, weshalb die Leute diese nicht nutzen wollen.
       
       taz: Sie haben für Ihre Forschung mit vielen Betroffenen gesprochen. Was
       haben die über die Zustände erzählt? 
       
       Protschky: Dass es nicht so sauber ist, dass es übel riecht. Dass es lange
       Wartezeiten gibt und man sich nicht sicher sein kann, ob man wirklich
       reinkommt. Ganz häufig wurden auch andere Gäste als Problem angesprochen,
       dort sind ja viele Menschen auf engem Raum untergebracht. Es kommt zu
       Konflikten, zu Diebstahl. Ich selbst habe auch länger in einer Unterkunft
       gearbeitet. Zum Teil haben Menschen auf dem Boden geschlafen, auch ohne
       Matratze und Decke, wenn sie zu spät in die Einrichtung kamen und der
       Schlafsaal schon voll war. Das sind Bedingungen, bei denen ich verstehe,
       dass es für manche Leute angenehmer ist, draußen zu schlafen oder sich im
       Camp gut einzurichten.
       
       taz: Nicht nur bei den Notfallschlafstellen, auch bei den
       ordnungsrechtlichen Unterbringungen, den Wohnheimen, werden Zustände
       kritisiert. Im Rahmen des Nationalen Aktionsplan gegen Wohnungslosigkeit
       sollen Mindeststandards entwickelt werden. Warum gibt es die nicht längst? 
       
       Protschky: Auch die ordnungsrechtlichen Unterkünfte sind eigentlich nur als
       Notlösung konzipiert. Aber in der Realität werden diese von Menschen zum
       Teil über Jahre bewohnt. Der Wahnsinn daran ist ja, dass diese Unterkünfte
       gleichzeitig sehr teuer für die Kommunen sind – viel teurer, als wenn man
       perspektivisch einfach Wohnungen anmieten würde.
       
       taz: Was sagt es über unsere Gesellschaft aus, dass Obdachlosigkeit als
       individuelles Versagen betrachtet wird? 
       
       Protschky: Mit sozialen Ausschlüssen werden auch immer Machtverhältnisse
       stabilisiert. Die allermeisten Menschen verlieren ihre Wohnung zum Beispiel
       wegen Mietschulden. Wenn Menschen am Ende zwangsgeräumt werden, erfüllt das
       auch die Funktion, dass alle anderen pünktlich ihre Miete bezahlen.
       Deswegen gibt es auch kein politisches Interesse, auf Zwangsräumungen zu
       verzichten. Sie sind ein Druckmittel für die breite Masse, sich konform zu
       verhalten.
       
       taz: Wie zuversichtlich sind Sie, [2][dass 2030 niemand mehr wohnungslos
       ist] – so wie es sich Deutschland vorgenommen hat? 
       
       Protschky: Es fehlt einfach an politischem Willen. [3][In Finnland wird der
       Housing-First-Ansatz sehr großflächig praktiziert], es wird Wohnraum für
       wohnungslose Menschen über eine Stiftung gebaut und zur Verfügung stellt.
       Das ist nachgewiesen sehr erfolgreich. Hier gibt es einzelne Projekte und
       es wird geforscht, aber eigentlich liegen alle Daten längst auf dem Tisch.
       Wir müssten nicht nur mehr Wohnraum bereitstellen, sondern auch den Verlust
       der Wohnung vermeiden. Solange Wohnraum als Ware behandelt wird, steht er
       zunächst einmal nur denen zur Verfügung, die sich ihn leisten können.
       
       15 Nov 2025
       
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