# taz.de -- Herbstsalon am Gorki Theater: Geschichte als Auftrag
> Mit dem 7. Herbstsalon und vielen weiblichen und migrantischen Stimmen
> verabschiedet sich Intendantin Shermin Langhoff vom Berliner Gorki
> Theater.
(IMG) Bild: Das Gorki Theater öffnet sich bewusst für ein Publikum jenseits des Berliner Kunstbetriebs
Halbierte Häuserkulissen, Bücherregale, Treppen, die ins Leere führen –
dazwischen schwebt ein überdimensionierter Nike-Turnschuh. Rot gestrichene
Strommasten ragen aus dem Durcheinander. Auf dem Vorplatz des
Maxim-Gorki-Theaters türmt sich ein Monument aus Bühnenbildern vergangener
Inszenierungen, nun im 7. Berliner Herbstsalon zum „Platz der
Märzrevolution“ zusammengesetzt. Es wirkt wie ein Schutzwall für die
revolutionären Kräfte, die diesen Ort geprägt haben – damals wie heute.
Der 7. Herbstsalon „Re:Imagine“, eröffnet am vergangenen Donnerstag,
markiert den Abschluss von [1][Shermin Langhoffs] Ära. Unter ihrer 2013
begonnenen Leitung wurde das Gorki ein Theater der gelebten Diversität:
Hier wird Geschichte und Gegenwart aus ungewöhnlichen Perspektiven
verhandelt, werden Stimmen sichtbar gemacht, die oft überhört bleiben. Der
Herbstsalon bündelt all das noch einmal: künstlerische Experimente,
gesellschaftliche Debatten und politische Auseinandersetzungen in einem
Haus, das den Diskurs sucht.
„Manche haben das Gorki als rotes Haus bezeichnet, oder besser gesagt,
beschimpft“, sagt Langhoff während der Eröffnung. „Für uns ist das ein
Ehrentitel.“ Schon die Sing-Akademie, für die das Gebäude einst gebaut
wurde, war innovativ: der erste Chor der Welt, in dem Männer und Frauen
gemeinsam sangen. 1848 tagte hier die erste preußische Nationalversammlung.
Für Langhoff ist diese Geschichte kein Schmuckstück, sondern ein Auftrag.
Dieser Anspruch prägt auch das Format des Herbstsalons: Der Eintritt ist
frei, die Zusammenarbeit mit Künstler:innen kontinuierlich, Theater,
Performances und Gespräche gleichberechtigt – eine bewusste Öffnung für ein
Publikum jenseits des Berliner Kunstbetriebs.
## Weibliche Perspektiven und Stimmen der Migration im Zentrum
Herzstück der Schau ist ein anderes „rotes Haus“: das ehemalige Wohnheim
der Gastarbeiterinnen von Telefunken in der Stresemannstraße 30. Die
Frauen, damals pauschal „Türkinnen“ genannt, kamen aus unterschiedlichen
Regionen und Kulturen. Viele waren künstlerisch und politisch aktiv.
Prominentestes Beispiel ist die preisgekrönte Schriftstellerin [2][Emine
Sevgi Özdamar, die dem Haus mit ihrem Roman „Die Brücke vom goldenen Horn“]
ein literarisches Denkmal setzte.
Unveröffentlichte Selbstporträts Özdamars und Skizzen aus ihrer
Assistenzzeit bei Regisseuren wie Matthias Langhoff sind in der Ausstellung
zu sehen. Drei Räume dokumentieren ein eigenes initiiertes Rechercheprojekt
zum Wohnheim, ehemalige Bewohnerinnen sind zu Gesprächen eingeladen. Die
Eröffnungsinszenierung „Das Rote Haus“ von [3][Ersan Mondtag] und Till
Briegleb holt ihre Geschichten auf die Bühne. So rücken weibliche
Perspektiven und Stimmen der Migration ins Zentrum – ein roter Faden des
Salons.
Zühal Bilir-Meier, Tochter von Gastarbeitern, reflektiert in ihrer Arbeit
„Grammatikheft/48 Jahre danach“ über ein knapp 50 Jahre altes deutsche
Grammatikheft. Auf der rechten Seite eines aufgeschlagenen DIN-A5-Hefts
stehen in feiner, akkurater Handschrift, Verben mit Präpositionen: hoffen
auf, hören von, aufhören mit. Links daneben, in großer, selbstbewusster
Schrift: „Hoffen ist leer geblieben“ – ein stiller, präziser Dialog
zwischen Vergangenheit und Gegenwart.
Zeitlos geht es dafür in Danica Dakić' Videoarbeit „Ima Li Snijega“ zu. In
einem im Schnee steckengebliebenen Zug bilden sechs Fahrgäste eine
unfreiwillige Solidargemeinschaft. Missverständnisse nutzen sie zum
Weiterdenken, Seltsamkeiten lassen sie unkommentiert stehen – eine
poetische Utopie friedlicher Koexistenz.
[4][Hale Tenger] stellt die Frage nach Macht und Ordnung ins Zentrum. Ihre
Skulptur „Dünya/World“ besteht aus einer handballgroßen Erdkugel, umringt
von Kupferfiguren mit erigierten Penissen. Plakativ, aber treffend,
spiegelt sie eine Weltordnung geprägt von männlichen Machtfantasien.
Besonders radikal machen Zehra Doğans Bilder die politische Dimension der
Ausstellung spürbar: Während ihrer 33 Monate langen politischen Haft malte
sie mit allem, was verfügbar war: Kaffeesatz, Gewürzen, Zigarettenasche,
Haaren, Menstruationsblut. Ihre Bilder tragen das Gefängnis in sich,
erzählen zugleich von einer Persönlichkeit, die sich der Repression nicht
beugt.
Die inhaltliche Vielfalt des Herbstsalons spiegelt sich auch räumlich
wider: Die über 100 Arbeiten der rund 60 teilnehmenden Künstler*innen
verteilen sich auf alle verfügbaren Räumen des Gorki – vom Foyer und dem
Palais am Festungsgraben mit Garten und Kiosk über den Theatervorplatz bis
zum sogenannten „Lindentunnel“, einst von Kaiser Wilhelm als
Tram-Unterführung gebaut und später als Requisitenlager genutzt. Der Salon
wirkt nicht immer rund, manches bleibt widersprüchlich oder provisorisch.
Genau das verweigert die gewohnte museale Glätte und betont die politische
Dringlichkeit der Schau.
Mit diesem Spektakel verabschiedet sich Shermin Langhoff. Die Ausstellung
zeigt, was möglich ist, wenn eine Stadt ihre Geschichten ernstnimmt und
allen Stimmen Gehör schenkt. Der Herbstsalon ist eine politische und
emotionale Bestandsaufnahme Berlins – und der Welt. Für Langhoffs
[5][designierte Nachfolgerin Çağla Ilk] ist er zugleich eine Einladung,
diesen offenen, streitbaren Weg fortzusetzen.
8 Oct 2025
## LINKS
(DIR) [1] /Gorki-Intendantin-ueber-Protestformen/!5933461
(DIR) [2] /Stueck-Die-Bruecke-vom-Goldenen-Horn/!6107819
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(DIR) [4] /Kuenstlerin-ueber-Istanbul-Konvention/!5763980
(DIR) [5] /Neue-Intendanz-am-Berliner-Gorki-Theater/!6046829
## AUTOREN
(DIR) Verena Harzer
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