# taz.de -- Historiker über Antisemitismus: „Viele sehen sich unter Verdacht gestellt“
       
       > Die Angst, des Antisemitismus bezichtigt zu werden, kann dazu führen,
       > dass realer Antisemitismus nicht wahrgenommen wird, sagt Historiker Enno
       > Stünkel.
       
 (IMG) Bild: Antisemitismus gibt es auch an Hochschulen: ein Bericht der Jüdischen Studierendenunion Deutschland (u.a.) aus dem Februar 2025
       
       taz: Herr Stünkel, wie machen sich Ausgrenzung und antisemitische
       Diskriminierung in Kultur und Bildung bemerkbar? 
       
       Enno Stünkel: In der Regel gibt es eine sehr unterschiedliche Sensibilität
       dafür, was die Wahrnehmung von Antisemitismus anbelangt – anders als bei
       anderen Formen von Diskriminierung. Antisemitismus wird häufig allein mit
       dem Nationalsozialismus assoziiert. Dabei gibt es oft die Befürchtung, des
       Antisemitismus bezichtigt zu werden. Diese ist häufig viel größer als die
       Sorge um diejenigen, die tatsächlich von Diskriminierung betroffen sind.
       Das führt dazu, dass realer Antisemitismus in Bildungseinrichtungen oder
       kulturellen Zusammenhängen nicht wahrgenommen wird.
       
       taz: Was ist, wenn Betroffene Kunst als antisemitisch erleben und das auch
       sagen? 
       
       Stünkel: Kritik an antisemitischen Darstellungen wird im Kulturbetrieb oft
       persönlich genommen. Viele sehen sich unter Verdacht gestellt. Es müsste
       aber mehr darum gehen, verschiedene Perspektiven zu ertragen und ernst zu
       nehmen. Wir versuchen, solche Stimmen in der Podiumsdiskussion hörbar zu
       machen. Wo aber die Bereitschaft fehlt, sich selbstkritisch zu
       reflektieren, kommt es zur Spaltung zwischen Mehrheit und Minderheit: Die
       Mehrheit meint dann, entscheiden zu dürfen, ob sich jemand zu Recht
       verletzt fühlt.
       
       taz: Wie setzt man sich damit auseinander? 
       
       Stünkel: Es setzt die Bereitschaft voraus, einen Perspektivwechsel
       vorzunehmen – sich darüber klar zu werden, dass wir in einer Gesellschaft
       leben, die über Jahrhunderte durch antisemitische Bilder und Emotionen
       geprägt wurde, die durch kulturelle Erzeugnisse transportiert wurden. Die
       Vorstellung, dass es Räume gibt, die nicht von Antisemitismus berührt sind,
       ist naiv. Das wird in Deutschland dadurch potenziert, dass wir in einer
       Gesellschaft nach der [1][Shoah] und dem [2][Nationalsozialismus] leben, in
       der Antisemitismus einen mörderischen Höhepunkt gefunden hat.
       
       taz: Wie gelingt dieser Perspektivwechsel? 
       
       Stünkel: Eine solche Bereitschaft würde bedeuten, dass wir überlegen, wo
       wir auf antisemitische Vorstellungen treffen. Das würde mit sich bringen,
       auch kritisch auf sich als Mehrheitsgesellschaft zu gucken. Aber auch jeder
       Einzelne muss diese Bereitschaft aufbringen.
       
       taz: Und wo funktioniert das? 
       
       Stünkel: Unsere Erfahrung ist, dass es gerade bei der Arbeit mit Schulen
       und Behörden einen Aha-Effekt gibt, wenn man sieht, in welchen Bereichen
       [3][uns Antisemitismus begegnet]. Vor allem bezüglich der Vorstellungen
       über Israel, in denen uns klassische antisemitische Stereotype in einer Art
       von überschäumender Emotionalität begegnen.
       
       taz: Die Debatten über Israel-Kritik und Antisemitismus scheinen sich aber
       über die Jahre verhärtet zu haben. 
       
       Stünkel: Das ist ein komplexer Prozess. Wir haben seit etwa zehn Jahren so
       etwas wie antisemitismuskritische Bildung in Deutschland. Seitdem hat sich
       viel verändert. Es gibt große Fortschritte, die aber auch immer wieder
       Widerstände hervorzurufen. Dabei fallen Begriffe wie Antisemitismuskeule
       und es wird unterstellt, dass Menschen, die über Antisemitismus sprechen
       wollen, finstere Absichten verfolgen. Das ist ein Ausdruck von Ablehnung
       der Auseinandersetzung mit [4][Antisemitismus], der gerade in Deutschland
       eine lange Tradition fort schreibt.
       
       taz: Was hat es für Folgen, wenn die Kritik von Betroffenen ins Leere geht? 
       
       Stünkel: Das ist für Betroffene eine schmerzhafte Erfahrung, die die
       eigentliche antisemitische Erfahrung nochmal verdoppelt. Wir erleben das
       häufig bei jüdischen Schülerinnen und Schülern, deren Erfahrungen gerade
       nach dem 7. Oktober nicht wahrgenommen werden. Aber auch bei Lehrenden, die
       mit ihren Erfahrungen von Ausgrenzung nicht ernst genommen werden. All das
       führt dazu, dass sich Menschen nicht mehr sicher fühlen und sich
       zurückziehen oder versuchen, Solidarität zu bekommen. Für Betroffene ist
       das schwierig und es kann verletzend sein, von vermeintlichen Verbündeten
       alleingelassen zu werden.
       
       24 Jun 2025
       
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