# taz.de -- Kunstprojekt zu Verschwundenen in Mexiko: Kleidung gegen das Verschwinden
       
       > Laura Uribe und Sabina Aldana bespielen Hof und Kiosk des Berliner Gorki
       > Theaters. „Backyard“ widmet sich den 115.000 Verschwundenen in Mexiko.
       
 (IMG) Bild: Wo sind sie? Bilder von Verschwundenen sind auf die Kleidungsstücke von Sabina Aldana gedruckt
       
       Zwei Gestalten in weißen Schutzanzügen wühlen sich durch das Laub im
       Hinterhof des [1][Maxim Gorki Theater]. Sommers sitzt man hier schön, etwas
       geschützt vor Sonne und Hitze. Aktuell bläst der Wind, wirbelt Blätter auf,
       sobald die Gestalten aufheben, was sie gesucht zu haben scheinen:
       transparente, nicht enden wollende Bahnen, auf ihnen Gesichter und Namen.
       Er habe immer Hacke und Spitze dabei, um die Gräber auszuheben, sagt eine
       Männerstimme.
       
       Über Kopfhörer läuft eine Audiospur simultan zur Szenerie im Gorki-Garten.
       Mundschutz gegen den meist staubigen Boden und etwas, um den Nacken vor der
       Sonne zu bewahren, dürfe auch nicht fehlen. Mario Vergara heißt der Mann
       auf der Tonspur, 2014 gründete er gemeinsam mit weiteren Betroffenen das
       Kollektiv „Los Otros Desaparecidos de Iguala“, das sich der Suche nach
       Vermissten im nördlichen Bundesstaat Mexikos Guerrero verschrieben hat.
       
       Vergaras Stimme aufgenommen und sie bis nach Berlin gebracht, haben Laura
       Uribe und Sabina Aldana. Seit 2018 setzen sich die beiden künstlerisch mit
       dem Thema der „desaparecidos“ auseinander. Das gewaltsame
       Verschwindenlassen gilt als Akt des Terrors. Es dient dazu, Angst und
       Misstrauen in der Gesellschaft zu verbreiten, diese zu destabilisieren.
       
       [2][In Lateinamerika hat diese Praxis bittere Tradition], wurde sie doch
       während der Diktaturen als gängiges Mittel der Machtdemonstration genutzt.
       Seitdem der mexikanische Staat seit 2006 versucht, militärisch gegen
       Drogenkartelle vorzugehen, verschwinden immer mehr Menschen. Laut Human
       Rights Watch gelten heute über 115.000 Menschen in Mexiko als vermisst, als
       Uribe und Aldana 2018 mit ihrer Forschung begannen, lag die Zahl bei etwa
       32.000.
       
       Familien suchen meist selbst nach ihren Angehörigen
       
       Weder Justiz noch Polizei seien bei der Suche nach den Verschwundenen
       hilfreich, sagt Uribe im Gespräch mit der taz. Es gäbe kaum finanzielle
       Unterstützung, weshalb Familien oft selbst nach ihren Angehörigen suchen
       müssten. 2020 trug Uribe, was sie durch ihre Forschung und die Mithilfe des
       Kollektivs um Vergara gesammelt hatte, in einem Theaterstück zusammen:
       „Campo“ wurde zusätzlich vom Deutschlandfunk als Hörspiel aufgesetzt, das
       den Prix Italia 2023 gewann.
       
       Ihre neueste Arbeit „Backyard“, die noch bis Anfang März im und um den
       Kiosk des Gorki Theaters stattfindet, bezeichnen die Künstlerinnen Uribe
       und Aldana als performative Installation. Gorki-Schauspielerin Yanina Cerón
       führt vom Foyer durch den Garten bis zum Kiosk – einem speziellen
       Formatraum des Theaters. Dort in der Auslage finden sich
       Schaufensterpuppen und allerlei Gadgets.
       
       Wer die Dorotheenstraße, die hinter der Humboldt-Universität und dem Gorki
       verläuft, entlangflaniert, mag in dem Schaufenster eine tatsächliche
       Boutique vermuten, so gut passen die Survivaloutfits, passt das
       Outdoorequipment in eine Gesellschaft, die sich für jede Aktivität bloß die
       passende Ausrüstung kaufen muss. Und sei es dafür, die Überreste
       Verschwundener zu suchen.
       
       Im ersten Moment mag das zynisch wirken, doch die Kleidung, die Sabina
       Aldana entworfen hat, soll den selbst organisierten Suchtrupps in der
       wüstenartigen Landschaft im Norden Mexikos tatsächlich nutzen. Ihre Arbeit,
       die unbezahlt ist, teils Kenntnis aus Archäologie und Forensik erfordert
       und die eigentlich der Staat leisten müsste, solle so gewürdigt werden,
       sagt Aldana. So werden die Outfits mit alldem ausgestattet, was es in dem
       unwegsamen Gelände braucht, inklusive auf Stoff gedruckter Fotos der
       Vermissten.
       
       Uribe und Aldana, die sich als Künstlerinnen-Duo L.A.S. [Laboratory of
       Sustainable Artists] nennen, stellen mit ihrem Projekt auch die Frage, wie
       man institutionelle Ressourcen aus dem Kunstbereich nutzen kann, um
       direkten Einfluss auf soziale Probleme auszuüben. Allein auf Missstände
       aufmerksam zu machen, reiche nicht mehr, sind sich die beiden einig.
       
       „Backyard“ beinhaltet auch deshalb eine Werkstatt. In Handarbeit wird an
       einer Station Kleidung aus hautähnlichem Material hergestellt und mit
       Haaren verziert, während Frauenstimmen von der Suche nach ihren
       verschwundenen Kindern berichten. Daneben bestickt eine Nähmaschine
       Kleidung der Fast-Fashion-Marke Zara mit Aussagen der Hinterbliebenen. Denn
       wie macht man in unserer Gesellschaft am besten auf Missstände aufmerksam?
       Uribe und Aldana geben die Antwort: Indem man sie kommerzialisiert und
       konsumierbar macht.
       
       „Mögen die Augen der Verschwundenen ihnen für immer folgen. Und mögen die
       Schreie der Mütter sie niemals schlafen lassen“, leuchtet einem in
       pinkfarbener Schrift ein Satz von Lety Hidalgo entgegen. Seit 2011 sucht
       sie nach ihrem Sohn Roy. ¿Dónde está(n)?
       
       26 Feb 2025
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Texte-von-Thomas-Brasch-im-Gorki-Berlin/!6066687
 (DIR) [2] /Anthropologin-ueber-Massengraeber-in-Chile/!5957337
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Sophia Zessnik
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Bühne
 (DIR) Performance
 (DIR) Performance-KünstlerIn
 (DIR) Theater
 (DIR) Maxim Gorki Theater
 (DIR) Vermisste
 (DIR) Mexiko
 (DIR) verschwundene Studenten
 (DIR) Armenien
 (DIR) Schwerpunkt Leipziger Buchmesse 2025
 (DIR) Kolumne Latin Affairs
 (DIR) Kunstpreise
 (DIR) wochentaz
 (DIR) 50 Jahre Putsch in Chile
 (DIR) Schwerpunkt Femizide
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) „Armenian Allegories“ am Gorki Theater: Wut und Selbstzerfleischung
       
       Ein Festival am Berliner Maxim Gorki Theater arbeitet den Völkermord an
       Armenier*innen auf. Auch um deren erneute Vertreibung geht es.
       
 (DIR) Erzählungen von Dahlia de la Cerda: Bis über den Tod hinaus
       
       Dahlia de la Cerda erzählt in ihrem Debüt vom rauen Alltag von Frauen in
       Mexiko. Das Buch ist heftig, es macht die Repression deutlich.
       
 (DIR) Mexiko: Knochenreste auf Ranch gefunden: Spuren eines Massenmords
       
       Im Westen Mexikos wurden menschliche Überreste in einem
       „Vernichtungslager“ gefunden. Mitglieder eines Kartells sollen zudem dort
       ausgebildet haben.
       
 (DIR) Ausstellung zum 9. Neuköllner Kunstpreis: Die Fragilität der menschlichen Seele
       
       Acht Künstlerinnen präsentieren in der Berliner Galerie im Saalbau
       künstlerische Subversion in feiner Unaufdringlichkeit. Die Ambivalenz ist
       spürbar.
       
 (DIR) Texte von Thomas Brasch im Gorki Berlin: „Etwas, das zu mir gehört“
       
       Mit ‚It’s Britney, bitch!‘ emanzipierte sich Lena Brasch von ihrer
       Familiengeschichte. Im Maxim Gorki Berlin inszeniert sie nun Texte ihres
       Onkels.
       
 (DIR) Anthropologin über Massengräber in Chile: „Die Angehörigen brauchen Klarheit“
       
       Immer wieder tauchten in Chile von der Diktatur hinterlassenen Massengräber
       auf. Die Anthropologin Daniela Leiva sucht nach „Verschwundenen“.
       
 (DIR) Buch über Femizide in Mexiko: Kein Verbrechen aus Leidenschaft
       
       Die Autorin Cristina Rivera Garza hat den Femizid an ihrer Schwester
       aufgearbeitet – und legt den Finger in eine Wunde der mexikanischen
       Gesellschaft.