# taz.de -- Gesundheitsamt Frankfurt in NS-Zeit: Sensibles Erbe
       
       > In „Erbkarteien“ wurden Menschen vermerkt, die als „erbkrank“ und
       > minderwertig galten. In Frankfurt unterstützt man die historische
       > Aufarbeitung der Daten.
       
 (IMG) Bild: Massenhaft Daten: Akten im Frankfurter Gesundheitsamt in der Zeit von 1931 bis 1944
       
       Frankfurt am Main taz | Das Institut für Stadtgeschichte in Frankfurt
       sammelt viel Papier, auch die sogenannte „Erbkartei“ ist hier gelagert. In
       der wurden ab 1933 Menschen vermerkt, die davon abwichen, was man sich im
       Nationalsozialismus als die Norm vorstellte, und die das Gesundheitsamt
       „sozialhygienisch“ überwachte. „Das sind 244 Kästen“, sagt eine
       Mitarbeiterin und holt einen der Pappkartons aus einem hohen Regal. Die in
       den Kartons aufgereihten Karten sind verblasst.
       
       Auf einen ersten Blick finden sich nur wenige Informationen auf dem Papier:
       der Name der jeweiligen Person, das Geburtsdatum, der Geburtsort, die
       Wohnadresse. Bedeutsam auf den Karten war vor allem ein Kreuz, zum Beispiel
       bei: „Psychiatrische Klinik“, „Frauenklinik“ oder „Trinkerfürsorgestelle“.
       Dieses Kreuz verweist dann auf weiteres Papier – Akten, die damals von den
       Institutionen angelegt wurden und die teilweise ebenfalls hier im Magazin
       lagern.
       
       Relevant waren die Karten ab 1933 unter anderem bei Anträgen auf
       Eheschließung, bei Bewerbungen um eine Stelle im städtischen Dienst,
       Adoptionen oder Entscheidungen über Zwangssterilisationen von Frauen und
       Männern. Auch für sogenannte Eheberatungsstellen wurde die Kartei damals
       genutzt.
       
       Gerade aus der Zeit des Nationalsozialismus werde praktisch nichts
       weggeworfen, sagt die Mitarbeiterin des Instituts für Stadtgeschichte: „Das
       Forschungsinteresse zu dieser Zeit ist besonders groß.“ Die Kartei darf für
       wissenschaftliche Zwecke genutzt werden, „wenn sichergestellt werden kann,
       dass schutzwürdige Belange der betroffenen Personen oder Dritter nicht
       beeinträchtigt werden (zum Beispiel durch Anonymisierung) oder wenn das
       öffentliche Interesse an der Durchführung des konkreten Forschungsvorhabens
       die schutzwürdigen Belange überwiegt“, führt Sebastian Tripp, der den
       Arbeitsbereich als Kommissarischer Archivdirektor leitet, aus.
       
       ## Die Frage nach der Vernetzung
       
       Eine der Personen, die zur Erbkartei geforscht hat, ist der Historiker Jens
       Kolata vom Frankfurter Fritz Bauer Institut. „[1][Krankheit, Wissen,
       Disziplinierung]“ heißt sein in diesem Jahr erschienenes Buch über die
       „Öffentliche Gesundheitsfürsorge in Frankfurt am Main zwischen
       Sozialhygiene und Eugenik 1920–1960“. Kolata ging der Frage nach, wie das
       Gesundheitsamt Frankfurt in der Betreuung und Überwachung der Menschen
       agierte – und wie verschiedene Akteure dabei vernetzt waren: Behörden,
       Krankenhäuser, Heime und die Polizei.
       
       Er stellt dabei fest, dass man die Tätigkeit des Stadtgesundheitsamts in
       einem Beziehungsgeflecht verstehen müsse. Und dass auch die Kontinuitäten,
       die die Papiere deutlich machen, interessant seien. So stamme der jüngste
       Eintrag auf einer Kartei der erhobenen Stichprobe aus dem Jahr 1968.
       
       Im Gespräch sagt Kolata, dass dieser späte Eintrag auf eine Akte der
       „Fürsorgestelle für Gemüts- und Nervenkranke“ verweist. Den Eintrag erklärt
       er sich durch personelle Kontinuitäten, viele Mitarbeitende blieben nach
       Kriegsende in ihren Positionen. „Ich habe mir die Personalakte der Leiterin
       der Abteilung für Erb- und Rassenpflege aus der NS-Zeit angesehen.“
       Dieselbe Person war in den 60ern dann zugleich als Leiterin der
       „Beratungsstelle für Ehefragen“ und als Mitarbeiterin der „Fürsorgestelle
       für Gemüts- und Nervenkranke“ tätig.
       
       Auch die Adoptionsabteilung des Jugendamtes hat die Erbkartei bis in die
       1960er Jahre genutzt – wohl um Daten zu ermitteln, die für oder gegen eine
       Adoption sprechen sollten. Kolata geht davon aus, dass die Abteilung vor
       einer Adoption prüfen wollte, ob Kinder als „erblich belastet“ galten, weil
       etwa ihre Eltern eine psychiatrische Diagnose bekommen haben, die die Nazis
       entsprechend ihrer eugenischen Vorstellungen als erblich und die Menschen
       als minderwertig ansahen. [2][Das eugenische Schlagwort] von der
       „Vernichtung lebensunwerten Lebens“ findet sich bereits im Titel einer 1920
       vom Psychiater Alfred Hoche und dem Strafrechtler Karl Binding
       herausgegebenen Broschüre, „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten
       Lebens“. Die Nazis knüpften daran an.
       
       Auch nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die „Erbkartei“ in Frankfurt noch
       weiterverwendet, jedoch hatte sich die Bezeichnung der zuständigen
       Dienststelle geändert. Die zwischenzeitliche Umbenennung der „Abteilung für
       Erb- und Rassenpflege“ erst zu „Abteilung für Erbpflege“ und schließlich zu
       „Beratungsstelle für Ehefragen“ betrachtet Kolata als bezeichnend. „In den
       ersten Nachkriegsjahren wurde das auf ausgeschriebenen Formularen zum Teil
       händisch umgeschrieben“, sagt er, man strich die Bezeichnung „Rasse“
       einfach durch. Kolata erklärt sich das damit, dass der Begriff „Rasse“ im
       Unterschied zu „Erbpflege“ als politisch belastet galt.
       
       Das Besondere am Gesundheitsamt in Frankfurt sei, dass die Stadt schon früh
       eine Erbkartei angelegt habe, erklärt Kolata. Während die Erbkarteien für
       alle Gesundheitsämter ab 1935 verpflichtend war, begann Frankfurt bereits
       1933 mit der Erfassung. Besonders sei aber auch, dass sich das
       Gesundheitsamt Frankfurt heute mit seiner Geschichte auseinandersetze, sagt
       Peter Tinnemann, der das Gesundheitsamt leitet. Die Stadt hat Kolatas
       Forschung finanziell gefördert.
       
       ## Die Bezüge zu heute
       
       Tinnemann findet es wichtig, sich mit der Geschichte zu befassen – auch um
       Bezüge zu heute herzustellen. „Wir müssen uns immer wieder fragen, ob der
       Weg, den wir gehen, der Richtige ist“, sagt er. „Und wir Ärzte im
       Gesundheitsamt haben die historische Verpflichtung nachzudenken, was heute
       unsere Aufgabe ist.“
       
       Wichtig sei auch, sich zu fragen, auf was etwa Rechtsradikale heute
       zugreifen könnten, wenn sie nochmal an die Macht kämen. Ein Gesundheitsamt
       erfülle seinen Auftrag auf gesetzlichen Grundlagen, die von
       gesellschaftlichen Entwicklungen abhängig sind.
       
       Auch würden Daten weiterhin gesammelt werden. Das Besondere an den
       Gesundheitsämtern während des Nationalsozialismus sei jedoch die Tatsache
       gewesen, dass sie damals Zugriff auf Daten aus unterschiedlichen Behörden
       hatten und diese für den Versuch genutzt wurden, Menschen, die in der
       Naziideologie nicht gepasst haben, „auszusortieren“, sagt Tinnemann.
       
       Dass eben durchaus auch sensible Dokumente weiterhin aufgehoben werden,
       findet er wichtig. Es sei ein Abwägen, welche historischen Akten für eine
       künftige Gesellschaft von Interesse sein könnten. Als Beispiel verweist
       Tinnemann auf die Akte der ersten Alzheimerpatientin. Oder, als ganz junger
       Fall fürs Archiv: Unterlagen, die im Zusammenhang mit der Coronapandemie
       entstanden.
       
       Das Archiv des Instituts für Stadtgeschichte füllt sich immer weiter – mit
       Material, das sich dann künftige Generationen von Historiker:innen
       ansehen können, wenn es auch Geschichte geworden ist.
       
       10 Nov 2024
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://www.wallstein-verlag.de/9783835355880-krankheit-wissen-disziplinierung.html
 (DIR) [2] /Buch-ueber-Eugenik-in-Deutschland/!6033872
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Lea De Gregorio
       
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