# taz.de -- Brisante Artemisia-Gentileschi-Biografie: Pin-up-Girls des 17. Jahrhunderts
       
       > Kunsthistorikerin Susanna Partsch stellt das populäre Narrativ der
       > Barockmalerin Artemisia Gentileschi als sich emanzipierendes Opfer
       > triftig infrage.
       
 (IMG) Bild: Bewältigung eines Traumas oder gängiges Motiv der Barockmalerei? „Susanna und die Alten“ von Artemisia Gentileschi, 1610
       
       Einmal in das Neapel des 17. Jahrhunderts reisen und Artemisia Gentileschi
       treffen. Das wünschen sich Giovanni di Lorenzo und Florian Illies am Ende
       einer Folge ihres Zeit-Kultur-Podcasts „Augen zu“. [1][Illies beschwört]
       eindringlich das Leben einer Frau, die unter dem Trauma einer frühen
       Vergewaltigung litt, es in ihrem Werk verarbeitete und damit „die weibliche
       Perspektive, die Verletzbarkeit der Frau“ und auch „weibliche Lust“ in die
       Malerei brachte.
       
       Das mag heute plausibel klingen, mit Blick auf die aktuelle
       kunsthistorische Forschung ist es jedoch kurios. Die beiden Zeitreisenden
       würden sich die Augen reiben, wenn ihr Wunsch in Erfüllung ginge. Denn sie
       würden womöglich einer abgeklärten Geschäftsfrau begegnen, die von sich
       sagte, sie „arbeite schnell und ununterbrochen“. Eine ehrgeizige Person,
       die mit Galileo Galilei im Kontakt stand, für Herzöge, Kardinäle und Könige
       arbeitete und nacheinander in Rom, Florenz, Bologna und London Werkstätten
       betrieb.
       
       Susanna Partsch enthält sich in ihrer 2023 erschienenen Monografie zu
       Artemisia Gentileschi der Einfühlung und der Schwärmerei. Sie setzt auf
       eine kritische Auswertung der bekannten Quellen, führt doch die
       ahistorische Interpretation alter Kunst nicht selten zu einer Spiegelung
       eigener Befindlichkeit. Ihr Buch ist ein Kompendium gesicherter
       Erkenntnisse zu Gentileschi, ein Text mit Anmerkungen, aber schlank und
       wunderbar klar in der Darstellung und der Kontextualisierung.
       
       Brisant ist die Publikation, weil die Kunsthistorikerin erstmals außerhalb
       der akademischen Zirkel das zentrale Narrativ der populären Rezeption
       Gentileschis als sich emanzipierendes Opfer überzeugend infrage stellt.
       
       ## Artemisia Gentileschi als Pionierin der MeToo-Bewegung?
       
       Für die promovierte Wissenschaftlerin ist es zu modern gedacht, Artemisia
       Gentileschi als Pionierin der MeToo-Bewegung zu sehen. Autorinnen wie Anna
       Banti oder Elisabeth Storr Cohen werden vielleicht einwenden, dass eine in
       der Kunstgeschichte häufig erwähnte Vergewaltigung der damals 17-jährigen
       Künstlerin durch den Maler Agostino Tassi durch Prozessakten bestätigt sei.
       Gentileschi, 1593 in Rom geboren, lernte damals bei ihrem Vater die
       Malerei, sie hatte gerade ihr erstes Historiengemälde signiert.
       
       Doch klagte Vater Orazio Gentileschi den Täter, wie Partsch vermutet, nicht
       aus moralischen Gründen erst Monate nach der vermeintlichen Tat an.
       Vielmehr hatte sich herausgestellt, dass Tassi bereits verheiratet war.
       Eine Defloration seiner Tochter, wie sie offenbar durch Tassi stattgefunden
       hatte, minderte ihren Wert auf dem Heiratsmarkt. Ein Manko, das meist mit
       einer Geldzahlung ausgeglichen wurde.
       
       Susanna Partsch zieht auch die in den Gerichtsakten überlieferte Aussage
       Gentileschis in Zweifel. Diese folge vielmehr fast wörtlich dem
       Straftatbestand des stuprum, dem Brechen des Eheversprechens. Aussagen von
       Frauen in ähnlich gelagerten Fällen glichen jener der Malerin.
       
       Damit kippt die Gewissheit der gängig gewordenen Interpretation des Werks
       der Malerin als Aufarbeitung eines Vergewaltigungstraumas. Auch die
       identifikatorische Gleichsetzung ihrer Person mit den „starken Frauen“
       biblischer und historischer Geschichten ist aus Partschs Perspektive
       fragwürdig. Gentileschi bediente vielmehr einen Markt. Kleopatra, Danae
       oder Susanna hießen die beliebtesten Pin-up-Girls des 17. Jahrhunderts.
       
       ## Der begehrenswerte Körper, ein Vorwand
       
       Die Darstellung solcher Frauenfiguren lieferte einen Vorwand, sich mit
       jungen, begehrenswerten Körpern zu umgeben. Ein Paradebeispiel ist die
       tugendhafte [2][Susanna, die von zwei lüsternen Richtern beim Baden]
       beobachtet und belästigt wird – ein Thema, das Artemisia Gentileschi in
       ihrem Gesellenstück vor ihrer aktenkundlichen Begegnung mit Tassi umsetzte.
       Furore macht bis heute ihre dramatisch zugespitzte Version von „Judith und
       Holofernes“, ebenfalls ein begehrtes Bildmotiv, das Grusel vor einer
       männermordenden Frau erregt.
       
       Die im 20. Jahrhundert entstandene Legendenbildung von der „wütenden
       Selbstermächtigung“ (Illies) einer missbrauchten Frau hatte aber auch ihr
       Gutes. Damit rückte [3][die virtuose Barockmalerin in den Fokus der
       Kunstgeschichte]. Erst vor wenigen Jahren wurden Briefe der Künstlerin
       entdeckt, die eine private Seite aufdecken. Sie belegen eine langjährige
       Liebesbeziehung zu dem Florentiner Bankier und Kunstkenner Francesco Maria
       Maringhi.
       
       Ihm gesteht Artemisia 1620, dass sie „bis zum letzten Atemzug“ die seine
       sei. Diese Zeilen werden romantisch veranlagten Fans auf der Zunge
       zergehen. Doch sollte man dazu wissen, dass die Künstlerin seit 1612 mit
       dem Apotheker Pierantonio Stiattesi verheiratet war. Der fungierte als ihr
       Manager und akzeptierte wohl das Verhältnis. Maringhi unterstützte die
       Malerin auch finanziell.
       
       9 Jan 2024
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Jeder-schreibt-fuer-sich-allein/!5951109
 (DIR) [2] /Ausstellung-zu-Susanna-Motiv/!5897531
 (DIR) [3] /Vergessene-Kuenstlerinnen/!5922424
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Carmela Thiele
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Barock
 (DIR) Schwerpunkt #metoo
 (DIR) Biografie
 (DIR) Malerei
 (DIR) Gemäldegalerie
 (DIR) Museum
 (DIR) Kunst
 (DIR) Schwerpunkt Berlinale
 (DIR) Ausstellung
 (DIR) Malerei
 (DIR) Enthauptung
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Frans Hals in der Gemäldegalerie Berlin: Zärtlichkeit für Randexistenzen
       
       Die Berliner Gemäldegalerie feiert den niederländischen Porträtmaler Frans
       Hals. Die Bilder des „Meisters des Augenblicks“ wirken ungeahnt zeitlos.
       
 (DIR) Arp Museum „Maestras“: Vergessene aus vier Jahrhunderten
       
       Das Arp Museum Rolandseck feiert 51 Künstlerinnen in der Ausstellung
       „Maestras“. Besonders in Italien genossen Frauen in der Kunst früh hohe
       Achtung.
       
 (DIR) Musikpionierin Lily Greenham: Funken der Avantgarde
       
       Die österreichisch-britische Künstlerin Lily Greenham war eine Pionierin.
       Zum 100. Geburtstag gibt es eine Werkschau der Grenzgängerin in Karlsruhe.
       
 (DIR) Berlinale-Film aus Costa Rica: Der geschlechtslose Körper
       
       Sexualität und Wechseljahre: Der Film „Memorias de un cuerpo que arde“
       schildert, worüber in Costa Rica nicht gesprochen werden darf.
       
 (DIR) Die fehlenden Frauen der Kunstgeschichte: Die ewige Muse?
       
       Das Bucerius Kunst Forum Hamburg zeigt Künstlerinnen von der Renaissance
       bis zum Klassizismus, die von der Kunstwelt lange vergessen wurden.
       
 (DIR) Ausstellung zu Susanna-Motiv: Oh, Susanna im Bade
       
       Das Kölner Wallraf-Richartz-Museum beleuchtet sexuelle Gewalt in einem der
       ältesten Krimis der Kunstgeschichte: Susanna – Bilder einer Frau.
       
 (DIR) Die Kulturgeschichte der Enthauptung: Bis der Arm müde wird
       
       Von der gängigen Bestrafungspraxis in der Antike bis zu den Ritualmorden
       des „Islamischen Staats“. Eine Kulturgeschichte des Köpfens.