# taz.de -- 125 Jahre Wiener Volksoper: Nicht mehr benötigte Dienste
       
       > Vor Österreichs „Anschluss“ bestimmten jüdische Künstler dort die
       > Operettenlandschaft. Ihre Geschichten kommen in der Volksoper Wien auf
       > die Bühne.
       
 (IMG) Bild: „Lass uns die Welt vergessen – Volksoper 1938“ beginnt mit der Fiktion einer Theaterprobe 1938
       
       Anfang März 1938 herrschte an der Wiener Volksoper die Betriebsamkeit von
       Endproben für den nächsten Hit. Es sollte die letzte Produktion sein vor
       dem [1][Einmarsch der Nazis und ihrer Machtübernahme in Wien.] Mehr als 85
       Jahre später erinnert das Theater zum Anlass seines 125-jährigen Bestehens
       mit „Lass uns die Welt vergessen – Volksoper 1938“ an die Vielzahl
       jüdischer Künstler:innen im damaligen Ensemble.
       
       Vertrieben oder ermordet kamen sie nach dem Krieg auch im kulturellen
       Gedächtnis der Stadt nicht mehr vor. Das Stück des niederländischen
       Regisseurs Theu Boermans leistet historische Aufarbeitung, es fragt aber
       auch nach der Operette als Form. Die gängige Aufführungspraxis scherte sich
       nach 1945 wenig um die Leerstellen, die die Auslöschungspolitik der Nazis
       am Genre hinterlassen hat.
       
       Was 1938 gespielt wurde, bediente sich im Baukasten der Revueoperette:
       In „Gruß und Kuss aus der Wachau“ vereinte der aus Prag stammende
       Komponist Jara Beneš schmissige Melodien, „Girls“ mit vielen Tanzeinlagen
       und Anklänge an den Jazz. Schwindelerregende Verwechslungen und ein Happy
       End mit gleich fünf Hochzeiten trieben damalige Geschlechterstereotypen
       auf die Spitze, um sie mit einem Lächeln über Bord zu werfen.
       
       Brillante Textdichter wie Fritz Löhner-Beda und Hugo Wiener konnten noch
       der flüchtigsten Unterhaltungsnummer subversive Momente abgewinnen. Im
       lasziven Spiel der Operette blitzte auch in Wien etwas von den neuen
       Freiheiten auf, die nach dem Untergang der alten Ordnung in der
       Zwischenkriegszeit so greifbar schienen. Wirklichkeit sparte das
       eskapistische Spektakel lieber aus. Die Wirtschaftslage war drückend.
       
       ## Operette als Kassenschlager
       
       Österreich, ein Rumpfstaat des ehemaligen Kaiserreichs, war außenpolitisch
       isoliert, abhängig von Mussolini und seit 1934 keine Demokratie mehr. Dabei
       war Wien Metropole geblieben mit einer florierenden Unterhaltungskultur.
       Mitte der 1930er Jahre ging erst richtig los, was in Deutschland, wie es
       Adorno formulierte, schon „1933 von einer Explosion begraben ward“. Mit
       subversivem Witz, laszivem Spiel und der Einverleibung zeitgenössischer
       Populärmusik generierte Operette ein Massenpublikum.
       
       [2][Es waren vor allem jüdische Künstler:innen], die die Sehnsucht der
       Massen nach Ablenkung verstanden und damit zu Stars wurden. Menschen, die
       die Gefährdung durch das, was sich in ihrer Gesellschaft zusammenbraute,
       vermutlich schon zu spüren begannen, auch wenn sie das grausame Ausmaß wohl
       kaum erahnen konnten. Menschen, die die Hetzmeute, die einmal auf sie
       losgelassen werden sollte, vielleicht durch Unterhaltung zu befrieden
       suchten.
       
       Mit dem „Anschluss“ fand all das ein Ende. Die jüdischen Künstler:innen,
       die den Stil und den Erfolg der Volksoper wie der Wiener Operette insgesamt
       prägten, wurden ihrer Existenz beraubt. Nur wenige, die im Exil überlebten,
       kamen zurück, kaum einer von ihnen konnte an die Erfolge vor 1938
       anknüpfen, wie Hugo Wiener, dem eine Nachkriegskarriere über Jahrzehnte
       glückte.
       
       „Lass uns die Welt vergessen – Volksoper 1938“ beginnt mit der Fiktion
       einer Theaterprobe 1938 und erzählt von dort aus die Geschichte der
       Vertriebenen und Ermordeten. Den irrlichternden Spaß des ursprünglichen
       Stücks lässt Boermans nur behutsam anklingen. Die Spur, die die kulturelle
       Dimension des Genozids bis in die Gegenwart hinein zieht, lässt sich
       sichtbar machen, nicht aber zum Zweck der Aneignung bruchlos überschreiten.
       
       ## Ein Jahrzehnt Recherche
       
       Die Bühne liefert solides Dokumentartheater. Die eigentliche
       Auseinandersetzung mit der Geschichte findet im Orchestergraben statt. Die
       junge israelische Komponistin und Dirigentin Keren Kagarlitsky hat die
       verschollene Partitur aus einem späteren Klavierauszug rekonstruiert, der
       schon die ideologisierte Textfassung der Nazis enthielt.
       
       Was seinerzeit schon idyllische Konserve aus einer anderen Welt war, stellt
       sie verbunden durch eigene Arbeiten gegen Material von Gustav Mahler,
       Arnold Schönberg und Viktor Ullmann. Ihre Kompositionen reflektieren auch
       in der musikalischen Form das Unheil ihrer Zeit. Die Kollision
       musikalischer Welten, die einst auseinanderstrebten, schafft ein
       beunruhigendes Ganzes, das Resonanzen aus der Katastrophe des 20.
       Jahrhundert bis in die Gegenwart trägt.
       
       Was man über die Künstler:innen der damaligen Volksoper heute weiß,
       verdankt sich im Wesentlichen dem Beharrungsvermögen der Wiener
       Historikerin Marie-Theres Arnbom. Mit Unterstützung des Theaters verwandte
       sie über ein Jahrzehnt darauf, biografisches Material von dreißig jüdischen
       Künstler:innen zu rekonstruieren. Sie verfolgte ihre Wege in die
       Emigration, interviewte direkte Nachfahren und nutzte erst kürzlich
       digitalisiertes Material.
       
       Der Einstieg war schwierig, sagt sie im Gespräch mit der taz: „In Wien gab
       es nichts.“ Die Volksoper sei damals ein privater Verein gewesen, die
       Intendanten Pächter, Aufzeichnungen seien im nationalsozialistischen Wien
       abhanden gekommen. Sie wählte die Personalliste der letzten Produktion vor
       dem „Anschluss“ zum Ausgangspunkt ihrer Recherche mit dem Titel „Ihre
       Dienste werden nicht mehr benötigt“.
       
       ## Vergessen, verschwunden, vergast
       
       Das Buch ist ein Lehrstück über die Macht des Archivierens und das
       Verhältnis der Archive zur Macht. Die Wiener Operette vor 1938 scheint
       gleich doppelt gecancelt. Von den Nazis und dann noch einmal von einer
       bürgerlichen Hochkultur, die an der Unterhaltungskultur, die sich in der
       Moderne von ihr abspaltete, nichts Bleibendes sah.
       
       „Nicht mehr benötigt“ wurde auch Alexander Kowalewski. Der letzte Intendant
       vor den Nazis flüchtete nach Frankreich. Nach dem Krieg scheiterte er
       damit, in Wien eine Gastspieldirektion aufzubauen, und er starb verarmt
       1948. Jara Beneš wurde zwar nicht direkt verfolgt, starb aber, um seine
       Karriere gebracht, 1952 ebenfalls mittellos. Kurt Hesky, Regisseur dieser
       letzten Produktion, war gezwungen, bis zum Ende der Proben zu bleiben: Die
       neuen Machthaber wollten eine glanzvolle Premiere.
       
       Emigriert nach Brasilien verliert sich dort seine Spur. Fritz Löhner-Beda
       wurde 1942 in Auschwitz ermordet; vielleicht bis zuletzt hoffend, Franz
       Lehár, mit dem er Welterfolge feierte, könne bei Nazigrößen ein Wort für
       ihn einlegen – Hitler selbst suchte die Nähe des von ihm verehrten
       Komponisten der „Lustigen Witwe“.
       
       Jüngere Emigrant:innen sahen sich weniger als Opfer und taten sich
       leichter, in der Fremde Fuß zu fassen, vermutet Arnbom. Kurt Herbert Adler,
       einer der Dirigenten aus dem Talentepool der Volksoper, baute etwa nach dem
       Krieg die Oper in San Francisco über drei Jahrzehnte zu einer der
       wichtigsten Musiktheaterbühnen der Welt auf. Für Arnbom ist die Geschichte,
       wie die Emigration eine von Wien ausgehende Moderne im amerikanischen
       Musikbetrieb etabliert, eine, die aus der Wiener Perspektive über weite
       Strecken erst noch geschrieben werden muss.
       
       11 Jan 2024
       
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