# taz.de -- Schau zu Fotografin Anneliese Hager: Das verlorene Gesicht
       
       > Eine Schau zeigt die mit kameraloser Fotografie erzeugte surreale Welt
       > von Anneliese Hager. Die Unbekannte ging zur NS-Zeit in die innere
       > Emigration.
       
 (IMG) Bild: Anneliese Hager, o. T. (Portrait A. H.), 1947 (Ausschnitt)
       
       Forschender Blick, übereinandergelegte Hände. Schon Anneliese Hagers
       Körpersprache deutet Widerstreitendes an. Als sei sie eine Beobachterin,
       die tief in ihrem Inneren ein geheimes Dasein führt und in der materiellen
       Welt heimlich Ausschau nach Gleichgesinnten sucht.
       
       Das Foto entstand 1948 in einem der zwei kleinen Zimmer, in denen sie nach
       dem Zweiten Weltkrieg bei einem Bauern in Königsförde unweit von Hameln
       einquartiert war – zusammen mit ihren zwei oder drei jüngsten Kindern,
       insgesamt waren es fünf. Ihre Unterarme verraten körperliche Arbeit. Die
       Wäsche musste im nahen Bach gespült, Mahlzeiten auf den Tisch gestellt, ein
       Kleinkind versorgt werden. Und doch ist 1948 ein Hoffnungsjahr, in dem sie
       ihre neuen Fotogramme in einer Ausstellung zeigen darf, die von Stuttgart
       über Innsbruck und Neustadt nach Hannover wanderte.
       
       „Die Fotogramme meiner Mutter waren bei uns nie ein Thema“, sagt Waltrud
       Kupsch in einem Interview. „Ich bin sicher, dass die Licht- und
       Schattentechnik, die sie in ihren Fotos und [1][Fotogrammen] angewandt
       hatte, aus der Natur stammten. Sie war ein sehr großer Beobachter.“ Wenn
       Schnee die Landschaft verändert habe, sei sie von dem Hell-Dunkel-Spiel
       fasziniert gewesen, auch von Gewässern.
       
       Waltrud Kupsch bewahrte nach dem Tod von Hager 1997 das Werk ihrer Mutter
       auf. 2018 übernahm es dank des Engagements der Kuratorin Lynette Roth das
       Busch-Reisinger-Museum in Cambridge, Massachusetts.
       
       Es sei nicht einfach gewesen, den Nachlass ausfindig zu machen, sagt die
       Kunsthistorikerin, die an den Harvard Art Museen deutsche Kunst der
       Nachkriegszeit erforscht. In keinem der deutschen Museen, die sie
       angeschrieben habe, sei etwas von Hager zu finden gewesen. Zudem sei es ein
       schmales Werk von schätzungsweise insgesamt 150 Unikaten. „Es fehlen uns
       zehn Jahre. Hager hatte 1935 begonnen, mit der kameralosen Fotografie zu
       experimentieren. Doch verlor sie [2][bei der Bombardierung Dresdens 1945]
       alle ihre Habe.“ Mit ihren zwei Kindern sei sie gerade noch den Flammen
       entkommen.
       
       ## Rückzug in Innenwelten
       
       Bezogen auf Hager trifft der Begriff innere Emigration in doppelter
       Hinsicht zu. Ihr Rückzug während der NS-Zeit geschah nicht nur
       gesellschaftlich, er befeuerte auch ihre Imagination.
       
       Hager beschreibt in einer Prosadichtung ihre wachsende innere Welt, die
       dank eines schützenden Turms von außen nicht einsehbar ist. „(…) wenn
       dieser Turm nicht wär, dieses nach innen gewandte Mirakel, das wie ein
       sprechendes Räderwerk zunimmt an Lauten, Geräuschen, Klängen, Worten,
       Lockrufen, Warnungen – immer zunimmt, wie ein glitzernder, spiegelnder,
       knisternder Film uns aus den verworrenen Emulsionen jeder Gegenwart den
       reinen Kern kristallisiert (…).“
       
       Wie konnte dies einem 1904 in Westpreußen geborenen Mädchen gelingen, das
       1920 in Berlin an der [3][Frauenfachschule Lette-Verein] eine Ausbildung
       als Fotografin und Laborantin absolvierte und im Kaiser-Wilhelm-Institut
       für Physik in Dahlem arbeitete, wo sie Mikrofotografien herstellte?
       
       Schon damals soll sie bemerkt haben, dass das, was sie durch das Mikroskop
       sah, sie an kubistische Bilder erinnerte, die sie im Museum gesehen hatte,
       sagt Lynette Roth: „Sie hatte ein Verständnis für Formen und die neue
       Vision der Zeit. Erst später hat sie sich entschlossen, selbst im Medium
       Fotografie zu experimentieren. Manche ihrer späten Fotogramme zeigen
       organische, zellenförmige Strukturen.“
       
       ## Informelle Künstlerkreise während der NS-Zeit
       
       Erste Fotomontagen und Fotogramme entstanden 1934. Da hatte sie bereits
       eine erste Ehe hinter sich und wollte an der Kunstgewerbeschule Aachen die
       Weberei erlernen. Nebenbei fotografierte sie – verbotene, abstrakte Bilder
       eines jungen Künstlers namens [4][Karl Otto Götz]. Bald begann ein
       gemeinsames Künstlerleben undercover, vielleicht getarnt durch ihre
       Mutterschaft. Drei Kinder lebten bei ihr, ein viertes erwartete sie 1936
       von ihrem neuen Partner.
       
       Obwohl die moderne Kunst verboten war, bildeten sich in der NS-Zeit
       informelle Künstlerkreise. In Dresden verband Hager eine enge Freundschaft
       mit den Maler-Fotografen Edmund Kesting und seiner Frau Gerda. Nach
       Kriegsende und der Einquartierung in Königsförde knüpfte Götz weitere
       Kontakte. Mit seiner Partnerin gründete er die Zeitschrift Die
       Metamorphose, in der moderne Kunst und Lyrik erschienen, auch von Paul
       Celan, der Hagers 1947 entstandene Prosadichtung „Die rote Uhr“ sehr
       geliebt haben soll.
       
       1949 nahm das mittellose Paar an der Exposition internationale d’art
       expérimental der radikal mit der Vergangenheit brechenden Gruppe CoBrA im
       Amsterdamer Stedelijk Museum teil. Im Jahr darauf zeigten sie ihre Arbeit
       in der Berliner Galerie Rosen. Obwohl es künstlerisch voranging, schien es
       Anneliese Hager schwerzufallen, ihren „inneren Turm“, „der, über dem grauen
       Lächeln der Sphinx immer wieder neu die Monde deiner Dunkelheiten
       entzündet“, aufzufinden.
       
       Als sie 1950 von der Technischen Fachhochschule in Düsseldorf eine Stelle
       angeboten bekommt, sagt sie ab. Der Kinder wegen. Das Paar zieht nach
       Frankfurt am Main und wird Teil des Kreises um die Zimmergalerie Franck.
       
       ## Altmeisterin des Fotogramms
       
       Die zwischen Alltag und Dichtung zerriebene Frau registrierte sehr wohl den
       Verlust ihrer Sichtbarkeit. Sie galt als Altmeisterin des Fotogramms, ein
       Medium der 1920er Jahre. Und sie war zehn Jahre älter als Götz. Während
       seine Karriere 1959 mit einer Professur an der Kunstakademie Düsseldorf
       erst richtig Fahrt aufnahm, blieb ihr nichts weiter übrig, als ihre
       Übersetzertätigkeit aus dem Französischen zu intensivieren.
       
       Dabei jedenfalls fand sie ihren „inneren Turm“ wieder. Noch einmal schuf
       sie eine große Serie magischer, ungegenständlicher Fotogramme, die sie in
       dem bibliophilen Band „Weiße Schatten“ 1964 zusammen mit ihren Gedichten
       veröffentlichte. Einmal noch legte sie wie ein Zeichen aus einem Streifen
       groben Stoffs ein Oval auf das Fotopapier. „Verlorenes Gesicht“ nennt sie
       dieses bis auf die gitterhafte Struktur der Kontur schwarze Bild. 1965
       trennte sich Anneliese Hager von K.O. Götz. Im selben Jahr heiratete er
       Rissa, eine ehemalige Schülerin.
       
       Hagers bildnerisches Werk geriet in Vergessenheit, obwohl es in dem 1990
       von Floris M. Neusüss und Renate Heyne herausgegebenen Band „Das Fotogramm
       in der Kunst des 20. Jahrhunderts“ vorgestellt wird und es in den 1990er
       Jahren kleinere Präsentationen ihrer Fotogramme gab. Die Museen jedoch, so
       Lynette Roth, zeigten kein Interesse. Vielleicht weil Hagers Fotoarbeiten
       für die einen zu malerisch, für die anderen zu technisch daherkamen? Ihr
       medienübergreifendes Werk, das sich in Wort und Bild äußerte, passte
       offenbar in keine Kategorie.
       
       Anneliese Hagers Werk, eine Mischung aus surrealer Weltsicht, ihrer
       Faszination für natürliche Prozesse und moderner Technik könnte heute einen
       Nerv treffen. Das legt zumindest die erste umfassende Ausstellung ihrer
       Fotogramme in Deutschland nahe, die aktuell in der Kunsthalle Mannheim zu
       sehen ist. Neben den Selbstbildnissen der österreichischen Malerin Maria
       Lassnig (1919–2014) und den reduzierten Video- und Lichtinstallationen der
       US-Amerikanerin Nan Hoover (1931–2008). Lassnig und Hoover, obwohl heute
       sehr bekannt, haben wie Hager erst spät Anerkennung für ihre Kunst
       erhalten.
       
       21 Nov 2023
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Ausstellung-im-Museum-Ludwig-Koeln/!5639595
 (DIR) [2] /Dresden-gedenkt-der-Bombardierung-1945/!5911207
 (DIR) [3] /Fotografie-und-Geschlechterforschung/!5685046
 (DIR) [4] /Bildende-Kunst/!5089766
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Carmela Thiele
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Moderne Kunst
 (DIR) Kunst
 (DIR) Ausstellung
 (DIR) Schwerpunkt Nationalsozialismus
 (DIR) Fotografie
 (DIR) Berlin Ausstellung
 (DIR) Kunst
 (DIR) feministischer Film
 (DIR) wochentaz
 (DIR) Fotografie
 (DIR) Literatur
 (DIR) Fotografie
 (DIR) Fotografie
 (DIR) Fotogeschichte
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Porträts von Rineke Dijkstra in Berlin: Flüchtige Identitäten in achtzig Bildern
       
       In der Berlinischen Galerie sind die Fotografien von Rineke Dijkstra zu
       sehen. Sie zeigen ein zärtliches und aufrührendes Portrait des Menschen.
       
 (DIR) Musikpionierin Lily Greenham: Funken der Avantgarde
       
       Die österreichisch-britische Künstlerin Lily Greenham war eine Pionierin.
       Zum 100. Geburtstag gibt es eine Werkschau der Grenzgängerin in Karlsruhe.
       
 (DIR) Film über Feministin Helke Sander: Offen für die Kontroverse
       
       „Helke Sander: Aufräumen“ von Claudia Richarz ist der erste Film über die
       Regisseurin und Pionierin der westdeutschen Frauenbewegung.
       
 (DIR) NS-Exilanten in Großbritannien: Als Churchill Deutsche einsperrte
       
       Der Autor Simon Parkin nimmt sich eines unrühmlichen Kapitels britischer
       Geschichte an: Die Inhaftierung der aus Deutschland geflüchteten NS-Gegner.
       
 (DIR) Fotografie von Gursky und Andreani: In der Terra dei Motori
       
       In zwei Ausstellungen nahe Bologna zeigen Andreas Gursky und Giulia
       Andreani, wie unterschiedlich Fotografie sein kann. Auch mit Blick auf
       Düsseldorf.
       
 (DIR) Bildbiografie über Paul Celan: Verzweifelte Lebenswut
       
       Paul Celans Lebensumstände waren dramatisch. Die Bildbiografie von Bertrand
       Badious macht das deutlich, sie ist ein regelrechter Meilenstein.
       
 (DIR) Fotokunstausstellung Josephine Pryde: Widerständig, wenn man genau schaut
       
       Fotografin Josephine Pryde ertastet mit ihrer Ausstellung in einer Synagoge
       im französischen Delme die Grenze zwischen Wirklichkeit und Abbildung.
       
 (DIR) Fotografie und Geschlechterforschung: Den Sound spüren
       
       „Wozu Gender?“, fragt die aktuelle Ausgabe der Zeitschrift
       „Fotogeschichte“. Ein Sammelband zu Körperpolitik und dem Frauenbild in
       sozialen Medien.
       
 (DIR) Ausstellung im Museum Ludwig Köln: Ungenannte Urheberin
       
       Die Kölner Ausstellung „Lucia Moholy – Fotogeschichte schreiben“ stellt uns
       – endlich – die inoffizielle Fotografin des Bauhauses vor.
       
 (DIR) Bildende Kunst: Gründe des Vergessens
       
       Mehr als ein Jahrzehnt war Emil Cimiotti ein Star. Dann aber traf ihn wie
       das Informel der Bannstrahl des Vergessens: Zum 85. Geburtstag zeigt das
       Bremer Marcks Haus einen Überblick über sein Werk.