# taz.de -- Nahostdebatte in Deutschland: Der Hass der Insta-Islamisten
       
       > Durch die Eskalation in Nahost wähnen sich islamistische Extremisten in
       > Deutschland im Aufwind. Schaute die Politik ihrem Treiben zu lange zu?
       
 (IMG) Bild: Der erhobene Zeigefinger, ein auch vom IS gebrauchtes Erkennungszeichen, Demonstration in Essen am 3. November
       
       Berlin taz | Drei Tage nach der [1][Demonstration in Essen] sitzt Ahmad
       Tamim im blauen Businesshemd vor einer Kamera. „Zionistische Medien“ würden
       „Lügen“ und „Hetze“ über den Aufzug verbreiten, klagt er, das Video wird er
       in sozialen Medien veröffentlichen. Dabei setze man sich nur für die
       Muslime in Palästina ein. Tamim wendet sich an die eigenen Leuten: „Aber
       was haben wir denn erwartet? Wir dürfen nicht einknicken.“ Man werde das
       Thema nicht nach den „Spielregeln“ der „westlichen Kultur“ bespielen.
       
       Die Islamistendemo in Essen Anfang November [2][sorgt weiterhin für
       Entsetzen]. Mit schwarzen Fahnen samt weißen Glaubensbekenntnissen, die an
       den IS erinnerten, zogen Tamim und seine Anhänger durch die Stadt.
       
       Der Protest war als Solidarität mit Palästina angemeldet, 3.000
       Teilnehmende kamen. Dann aber wurde ein „Kalifat“ eingefordert, Frauen und
       Kinder durften nur im hinteren Teil mitlaufen. Und auf einem Podest rief
       Hauptredner Tamim zum Thema Nahost in die Menge: „Es kann nicht sein, dass
       unsere Geschwister dort abgeschlachtet werden und wir hier einfach
       gemütlich rumsitzen und kein Opfer bringen.“
       
       Essens Oberbürgermeister Thomas Kufen (CDU) nannte die Szenen „nur schwer
       erträglich“, NRW-Ministerpräsident Henrik Wüst (CDU) „völlig inakzeptabel“.
       Auch Bundesinnenministerin [3][Nancy Faeser (SPD) sah „eine rote Linie
       überschritten“]. Die Bilder aus Essen seien „mit unserem Verständnis von
       Demokratie nicht vereinbar“.
       
       Ahmad Tamim und die islamistische Szene dagegen feierten den Aufzug. „Möge
       Allah jeden Beteiligten reichlich belohnen“, erklärte Tamims Gruppe, die
       „Generation Islam“, im Anschluss.
       
       ## Aufzüge auch in Hamburg und Berlin
       
       Es war nicht der einzige Auftritt von Islamisten seit den
       [4][Terrorangriffen der Hamas am 7. Oktober auf Israel]. Auch auf dem
       Berliner Alexanderplatz standen Tamim und knapp 300 Anhänger:innen mit
       „Allahu Akbar“-Rufen. In Hamburg mobilisierten Islamisten 500 Menschen auf
       den Steindamm, attackierten Polizisten mit Steinen.
       
       Klar ist: Islamisten sind bei den derzeitigen Demonstrationen gegen Israel
       und für Palästina nur ein Randaspekt. Die meisten Proteste werden von
       migrantischen oder linken Gruppen geprägt. Aber die Islamisten wittern ihre
       Chance. Auf ihren Social-Media-Kanälen stellen sie sich auf die Seite der
       Hamas, ziehen über Israel her – und genießen große Reichweite.
       Sicherheitsbehörden und Experten fürchten eine neue Welle islamistischer
       Radikalisierung und Gewalt.
       
       Ahmad Tamim ist dabei kein Unbekannter. Schon seit Jahren verbreitet seine
       Gruppe Generation Islam auf Social Media islamistische Agitation, vor
       allem von Tamim selbst. Auch Gruppen wie Muslim Interaktiv oder Realität
       Islam zielen auf junge Muslime, inszenieren Aufzüge teils mit Choreografien
       – um sie danach im Internet zu verbreiten. Die Demokratie verdammen sie als
       „System des Unglaubens“, Deutschland werfen sie „Assimilationsterror“ vor.
       Und immer wieder wird gegen die „Zionisten“ gewettert.
       
       Alle drei Gruppen eint, dass sie aus dem Spektrum der [5][bereits 2003 in
       Deutschland verbotenen Hizb ut-Tahrir] kommen. Dieses internationale
       Netzwerk wurde 1953 von Palästinensern in Jerusalem gegründet. Ihr Ziel ist
       ein weltweites Kalifat der Muslime, eine globale „Ummah“ – die Nichtmuslime
       letztlich militärisch unterwerfen soll. Auch wegen des „ausgeprägten
       Antisemitismus“ wurde die Hizb ut-Tahrir in Deutschland verboten.
       
       ## Als „Shisha-Islamisten“ belächelt
       
       Diesen attestiert der Verfassungsschutz auch dem Nachfolgespektrum wie
       Tamims Generation Islam. Wurden dem Netzwerk 2003 noch 150 Anhänger
       zugerechnet, sind es heute 750, knapp die Hälfte davon aus Hamburg, Tendenz
       steigend. In der islamistischen Szene Deutschlands ist das noch
       überschaubar, die Behörden zählen hier insgesamt 27.480 Personen. Und bei
       vielen anderen Islamisten sind die Hizb-ut-Tahrir-Anhänger nicht
       wohlgelitten. Wegen ihrer Inkonsequenz – fromme Sprüche hier, Rekrutierung
       in Shishabars da – werden sie als „Shisha-Islamisten“ belächelt. Dennoch
       stoßen ihre Aktionen auf einige Resonanz.
       
       Schon im Frühjahr schaffte es [6][Muslim Interaktiv] in Hamburg, 3.500
       Anhänger auf die Straße zu bringen, damals gegen Koranverbrennungen. Nun
       waren es 3.000 in Essen – obwohl dem Spektrum in Nordrhein-Westfalen nur
       130 Anhänger zugerechnet werden. Digital ist die Resonanz noch größer:
       Allein die Generation Islam erreicht je 73.000 Follower auf Instagram und
       Facebook. Und als 2018 der Kopftuchstreit hochkochte, waren es
       Hizb-ut-Tahrir-Leute, die mit einer Petition 170.000 Unterschriften
       einsammelten.
       
       Nun mischen sie intensiv in der Nahostdebatte mit und spitzen sie weiter
       zu. Die Hamas-Massaker vom 7. Oktober begrüßte Ahmad Tamim in einem Video
       als „effektiven“ Widerstand. Man dürfe hier „nichts relativieren“. Die
       „Muschadin“ in Palästina hätten gezeigt, wie angreifbar Israel sei. Und sie
       zeigten auch, „wozu wir in der Lage wären“, wenn sich alle Muslime global
       zusammentäten.
       
       Den Aufruf, aktiv zu werden, verbindet Tamims Generation Islam immer wieder
       mit verbalen Angriffen gegen die „Kuffar“, die Ungläubigen. „Wie lange
       wollen wir tatenlos zusehen, wie die Kuffar unsere Gesellschaften
       systematisch zerstören??“, schreibt die Gruppe auf Facebook.
       
       Auch Muslim interaktiv erklärte die Hamas schon vor Jahren zur „legitimen
       Widerstandsbewegung“. Israel wird als „zionistisches Projekt“ gegeißelt,
       das von Deutschland einen „Blankoscheck“ erhalte. Und Realität Islam wirft
       allein Israel „monströse Massaker“ vor, schreibt von einem „zionistischen
       Denkgefängnis“. Der Appell, Solidarität mit dem angegriffenen Israel zu
       zeigen, wird brüsk abgelehnt: „Niemals dürfen wir so einem Aufruf
       nachkommen.“
       
       ## Experte hält Verbot für „längst überfällig“
       
       Der Islamwissenschaftler Patrick Möller warnt schon länger vor den
       Hizb-ut-Tahrir-Nachfolgegruppen. Sie seien derzeit „offensiver und stärker
       denn je“. Diskriminierungserfahrungen von Muslimen wie bei der
       Kopftuchdebatte griffen die Gruppen sofort auf und versuchten deren Distanz
       zu Staat und Demokratie zu vergrößern. „Die Gruppen sind ein ideologischer
       IS, der noch zu feige ist, sein Gedankengut umzusetzen“, sagt Möller. Sie
       seien „ein Durchlauferhitzer für Islamisten, denen Worte irgendwann nicht
       mehr reichen“. Ein Verbot sei „längst überfällig“.
       
       Inzwischen sind auch Sicherheitsbehörden und die Politik aufgeschreckt.
       Nach dem eskalierten Hamburger Aufzug ließ die Staatsanwaltschaft zwei
       Muslim-Interaktiv-Kader durchsuchen. Von der Demonstration in Essen prüft
       die Polizei noch mal alle Videos. Bisher wurde indes nur ein Verfahren
       wegen Volksverhetzung eingeleitet: Der Veranstalter soll beim Verlesen der
       Auflagen den untersagten Ruf „Tod Israel“ wie einen Appell vorgetragen
       haben. Und Nordrhein-Westfalens Innenminister Herbert Reul (CDU) schrieb
       Nancy Faeser einen Brief mit der „eindringlichen Bitte“, Verbote von
       Generation Islam, Muslim Interaktiv und Realität Islam zu prüfen.
       
       Faesers Ministerium schweigt bisher dazu. Anders als zuletzt bei der Hamas
       und Samidoun gehandhabt, erklärt das Ministerium, über Verbotsprüfungen
       spreche man grundsätzlich nicht.
       
       ## 486 Islamisten als Gefährder eingestuft
       
       Experten und Sicherheitsbehörden schauen aber auch mit Sorge auf andere
       Teile der islamistischen Szene. Auch Salafisten wie Pierre Vogel, die sich
       nach dem 7. Oktober zunächst bedeckt hielten, verschärfen den Ton. Erst vor
       wenigen Tagen beschimpfte Vogel die Bundesregierung für ihre Solidarität
       mit Israel als „Lakaien“. „Ihr habt Blut an euren Händen“, rief er in einem
       Video, „ihr rückgratlosen Nichtsnutze!“
       
       Dazu kommen die aktuell 486 islamistischen Gefährder, denen die
       Sicherheitsbehörden Anschläge zutrauen – 90 von ihnen sind immerhin in Haft
       und 182 sollen sich im Ausland befinden. Der Rest befindet sich auf freiem
       Fuß. Bundesweit sprach die Polizei zuletzt Gefährder an und warnte sie vor
       Straftaten. Erst vor zwei Wochen nahm die Polizei indes in Duisburg
       [7][einen 29-jährigen IS-Anhänger fest], der einen Anschlag auf eine
       proisraelische Demonstration geplant haben soll.
       
       Der Terrorismusexperte Peter Neumann warnt vor einer „neuen
       dschihadistischen Terrorwelle“ in Deutschland. Für Islamisten sei der Kampf
       Juden gegen Muslime im Heiligen Land ein Urkonflikt, der die Szene enorm
       mobilisiere. Und für Radikalisierte gebe es, anders als einst beim IS, kaum
       Ausreiseoptionen – weshalb sie hierzulande zuschlagen könnten. Die
       Bedrohung jüdischen Lebens sei „extrem hoch“.
       
       Auch Faesers Innenministerium warnt vor einer „hohen Gefährdungsrelevanz“
       in Deutschland durch die Entwicklungen im Nahen Osten. Es herrsche ein
       „hohes Emotionalisierungs- und Mobilisierungsgeschehen“, das sich noch
       verschärfen könne – und eine „erhöhte Gefahr durch radikalisierte
       Einzeltäter“.
       
       Ahmad Tamim weist Gewalt von sich. „Wir wollen den Menschen nichts Böses“,
       behauptet er im Video nach der Essen-Demonstration. Drei Tage zuvor, auf
       der Straße, stachelte er die Menge indes an, sie solle keine Angst vor
       „Repressalien“ haben. Möge Allah sie zum Mittel machen, die Freiheit der
       Muslime, „überall, wo sie sind, wieder zu erkämpfen“.
       
       Hinweis: In einer früheren Version des Artikels hieß es, die
       Sicherheitsbehörden zählten derzeit 486 islamistische Gefährder in
       Deutschland, von denen sich 304 in Haft befinden sollen. Diese Zahl wurde
       falsch vom BKA mitgeteilt und korrigiert. Es befinden sich 90 Personen in
       Haft.
       
       12 Nov 2023
       
       ## LINKS
       
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