# taz.de -- Debatte über Jugendgewalt: „Ein schneller Gipfel bringt es nicht“
       
       > Franziska Giffey (SPD) lädt nach den Silvester-Krawallen zum
       > Jugendgewalt-Gipfel. Akteure aus Sozialarbeit, Schule und Polizei und
       > Feuerwehr fordern mehr.
       
 (IMG) Bild: Die High Deck Siedlung in Neukölln: Auch hier kam es zu gewaltsamen Ausschreitungen an Silvester
       
       ## Perspektiven schaffen
       
       Die Bilder der Silvesternacht haben uns sehr schockiert, vor allem die
       Angriffe auf Sanitätsfahrzeuge und Feuerwehr – das kannten wir so nicht.
       Aber die aktuelle Debatte geht in die falsche Richtung: Wieder wird nur
       über Migrationshintergründe geredet. Wir sehen hinter der Gewalt vor allem
       ein Männlichkeitsproblem: Viele Jugendliche teilen das gesellschaftliche
       Bild, dass Männlichkeit vor allem durch Stärke, Durchsetzungsvermögen und
       (beruflichen) Erfolg geprägt ist.
       
       Aber die Jugendlichen, mit denen wir in Neukölln arbeiten, haben sehr wenig
       Perspektive, sehr wenig Chancen, um in der Gesellschaft aufzusteigen –
       diesem Männlichkeitsideal können sie nie entsprechen. Die Gewalt ist dann
       das Mittel, auf das man zurückgreifen kann, um sich „männlich“ zu fühlen,
       und zugleich den ganzen Frust rauszulassen, über alles, was sie ständig
       erleben.
       
       Denn seitens der Polizei und anderen staatlichen Einrichtungen erfahren sie
       permanent, dass sie nicht dazugehören wegen ihres „Migrationshintergrunds“
       – obwohl sie zum Großteil hier geboren sind. Ständig werden sie von der
       Polizei kontrolliert, willkürlich, wie sie es sehen, nach racial profiling.
       Es gibt also eine hohe Frustration in Bezug auf die Polizei – und die
       Angriffe auf Polizisten trafen bei vielen Jugendlichen auf Verständnis.
       
       Lösen kann man solche Probleme nur langfristig, nicht mit einem schnellen
       „Gipfel“. Das Hauptding ist, dass man den Jugendlichen eine Perspektive und
       Chancen aufzeigen sollte. Es wäre zum Beispiel gut, Jugendliche aus diesem
       Milieu für die Sozialarbeit zu begeistern – so wie Gangway in seinen
       Anfängen Mitglieder aus Jugendgangs teilweise für die Sozialarbeit
       begeistern konnte. Aber meistens hören wir heute von den jungen Menschen,
       da verdiene man ja nichts. Soziale Arbeit ist einfach nicht attraktiv
       genug, darum gibt es auch viel zu wenig Sozialarbeiter.
       
       Anderes Beispiel: Wir arbeiten etwa mit Jugendlichen, die seit ihrer Geburt
       hier in Deutschland nur geduldet sind – sie dürfen hier nicht mal arbeiten!
       Auch wenn sie einen Ausbildungsplatz bekommen, verweigert ihnen das
       Landesamt für Einwanderung die Arbeitserlaubnis! Wir sagen unseren
       Jugendlichen ja gerne, dass es auf ihre Motivation ankommt und sie sich
       reinhängen müssen. Aber wir stoßen immer wieder an diese Grenzen.
       
       Jassin Odeh, Cagatay Basar, Kubilay Kneip sind (Straßen-)Sozialarbeiter von
       Gangway in Neukölln
       
       ## Keine Pädagogische Frage
       
       Ich verstehe die Zielsetzung dieses Jugendgewalt-Gipfels nicht. An welche
       Zielgruppe soll sich der richten? Die Ausschreitungen, die an Silvester
       geschehen sind, werfen für mich ordnungspolitische und strafrechtliche
       Fragen auf. Es ist auch ein Problem des Sozialraums. Aber es ist für mich
       keine pädagogische Frage.
       
       An meiner Schule sind wir mit der Sozialarbeit gut aufgestellt. Wir
       schaffen es, Angebote zu machen. Was wir aber nicht schaffen: In das Umfeld
       der Jugendlichen hineinzuwirken. Da geht es auch um Versäumnisse außerhalb
       des Zuständigkeitsberichs Schule, die schon früh passieren. Zum Beispiel
       das Problem, dass Kinder mit Sprachdefiziten im Vorschulalter in keiner
       Sprachförderung und auch in keiner Kita ankommen. Es gibt ja die
       verpflichtenden Sprachtests und, wenn dort Defizite festgestellt werden,
       eine damit verbundene Kita-Besuchsfplicht. Aber das wird ordnungspolitisch
       nicht umgesetzt. Auch weil es nicht genügend Kita-Plätze gibt. Das sind
       strukturelle Probleme. Das sind politische Versäumnisse.
       
       In Neukölln hatten zuletzt 50,9 Prozent der Erstklässler bei der
       Einschulung einen individuellen Förderbedarf. Diese besondere Förderung
       findet in der Realität aber oft nicht statt. Diese Kinder schleppen dann
       Defizite mit sich herum, die letztlich auch Schuldistanz und Schulabbruch
       begünstigen. Das sind Dinge, über die wir seit vielen Jahren reden.
       
       Wenn Frau Giffey, die Neukölln als ehemalige Bezirksbürgermeisterin und
       Schulstadträtin ja gut kennt, sich jetzt mit diesem Gipfel ein genaueres
       Bild der Lage vor Ort machen will, ist das natürlich sympathisch. Aber man
       müsste erstmal die Zielgruppe definieren, über wen man überhaupt reden
       möchte. Ansonsten bleibt dieser Gipfel blinder Aktionismus.
       
       Detlef Pawollek ist langjähriger Schulleiter der Neuköllner
       Röntgen-Sekundarschule. (akl)
       
       ## Auf Familien zugehen
       
       Was in der Silvesternacht passiert ist, war keine Bagatelle. Wir hier im
       Steinmetzkiez in Schöneberg haben ja schon seit 2019 jedes Silvester ein
       Böllerverbot. Ich vermute, eine Verlagerung in andere Stadtteile hat
       stattgefunden. Auch bei uns war es früher so, dass wir viele von denen, die
       hier zu Silvester Krawall gemacht haben, nicht kannten. Die sind
       hergekommen, weil hier Aktion war. Wir waren sozusagen ein Anziehungspunkt
       für Spinner.
       
       Ein Gipfel ist sinnvoll, aber er darf keine Eintagsfliege sein. Er sollte
       zu dauerhaften Arbeitsgruppen führen, bei denen die verschiedenen Seiten an
       einem Tisch sitzen und einen lösungsorientierten Maßnahmenkatalog
       entwickeln.
       
       In erster Linie müssen die PraktikerInnen beteiligt werden, also die, die
       mit den Jugendlichen arbeiten. Sehr wichtig wäre auch, die Jugendlichen
       einzubeziehen. Es gibt bestimmt Jugendliche, die bereit sind, ihren Frust
       öffentlich rauszulassen. Warum sie zum Teil die Polizei nicht mögen. Warum
       sie manchmal die Feuerwehr angreifen. Natürlich müssen auch die Feuerwehr
       und Polizei sowie die Schulen an dem Gipfel beteiligt werden. Und auch die
       Migrantenorganisisationen. Letzte Woche gab es mehrere Treffen von
       Organisationen, sie waren bestürtzt über die Stigmatisierung. Ich vermute,
       kein Vater, keine Mutter in normalen Lebensverhältnissen befürwortet
       Angriffe auf die Feuerwehr.
       
       Auf Bezirksebene gibt es bereits Gruppen, wie die Präventionsräte und die
       Sozialraumkoordination, an die der Gipfel andocken könnte. Ein Beispiel aus
       Schöneberg: Direkt vor Silvester haben wir in der Vergangenheit gezielt
       Präventionsveranstaltungen im Kiez gemacht. Wir sind auch offensiv zu
       Familien nach Hause gegangen und haben an die Vernunft der Jugendlichen
       appelliert.
       
       Meine Forderung an den Gipfel ist ein absolutes Böllerverbot für Berlin.
       Mit Ausnahme von vielleicht drei, vier Zonen, an denen Feuerwerk erlaubt
       ist. Feuerwerk im wahrsten Sinne des Wortes, als schönes und ästhetisches
       Ereignis. Das Tempelhofer Feld wäre dafür gut geeignet. Wenn es nicht zu
       einem generellen Böllerverbot kommt, sollte man den Jugendlichen einen
       sachgerechten Umgang mit Pyrotechnik beibringen. Man könnte das vor
       Silvester in einer Unterrichtsstunde tun.
       
       Hamad Nasser ist Erziehungswissenschaftler und Leiter des
       Nachbarschaftsladen im Steinmetzkiez in Schöneberg
       
       ## Berlinweite Anlaufstelle
       
       Als Gewerkschaft der Polizei erhoffen wir uns, dass auf dem groß
       angekündigten Gipfel schonungslos, offen und losgelöst von der
       Silvesternacht und parteipolitischer Ideologie über das Thema Jugendgewalt
       gesprochen wird. Man sollte den Menschen zuhören, die tagtäglich mit den
       Problemen zu tun haben, sich ihre Ideen anhören und konstruktiv an Lösungen
       arbeiten. Aus unserer Sicht muss das Vorbild Kirsten Heisig sein (die für
       Neukölln zuständige Jugendrichterin, d. R.) Wir brauchen schnellere und
       qualitativ bessere Verfahren sowie institutionsübergreifende
       Zusammenarbeit, um Heranwachsende davor zu bewahren, komplett in die
       Kriminalität zu abzurutschen.
       
       Es wäre zu einfach, die Problematik allein auf Polizei und Justiz
       abzuwälzen. Hier bedarf es auch einer gemeinsamen Anstrengung und auch
       personeller Kapazitäten in der Sozialhilfe und Bildungseinrichtungen sowie
       Verantwortung in der eigenen Familie, damit jemand gar nicht erst bei uns
       landet. Neben einem klaren einheitlichen Konzept mit klaren Zuständigkeiten
       braucht es auch eine dauerhafte zentrale berlinweite Anlaufstelle
       Jugendgewalt, da die Bezirke hier auf Expertise, Strukturen und Erfahrungen
       zurückgreifen können.
       
       Stephan Weh ist Landeschef der Gewerkschaft der Polizei
       
       ## Respekt und Achtung in den Fokus rücken
       
       Ich halte die Diskussion über absichtlich ausgeübte Gewalt im Nachgang der
       verheerenden Silvesternacht für absolut geboten. Sie bedeutet nämlich auch,
       vermeidbaren Schaden von Retterinnen und Rettern abzuwenden. Wer bei der
       Berliner Feuerwehr arbeitet, würde Kopf und Kragen riskieren, um
       Menschenleben zu retten. Dieses Risiko darf niemals leichtfertig von
       unseren Kräften abverlangt werden – weder von Jugendlichen noch erwachsenen
       Menschen. In dem Zusammenhang habe ich die Erwartung, dass
       gemeinschaftliche Wertvorstellungen wie „Respekt“ und „Achtung voreinander“
       in den Fokus gerückt werden. Und natürlich die klare Forderung, Pyrotechnik
       für den Privatgebrauch zu untersagen.
       
       Karsten Homrighausen ist der Chef der Berliner Feuerwehr
       
       10 Jan 2023
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Anna Klöpper
 (DIR) Susanne Memarnia
 (DIR) Plutonia Plarre
       
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