# taz.de -- Philosoph über Umverteilung: „Alle wollen Gerechtigkeit“
       
       > Leistung ist kein gutes Kriterium für eine gerechte Verteilung.
       > Stattdessen braucht es mehr Umverteilung, meint der Philosoph Stefan
       > Gosepath.
       
 (IMG) Bild: Gerechtigkeit ist eine Frage der politischen Gestaltung
       
       taz: Herr Gosepath, hätte man über die vergangenen Jahrhunderte hinweg und
       auf der ganzen Welt eine Umfrage durchgeführt, hätten wohl zu allen Zeiten
       die Menschen gesagt, dass Gerechtigkeit etwas Wünschenswertes ist. Warum
       gibt es dann noch immer so viel Ungerechtigkeit auf der Welt? 
       
       Stefan Gosepath: [1][Alle Menschen wollen Gerechtigkeit], das stimmt. Aber
       unterschiedliche Menschen haben unterschiedliche Vorstellungen davon, was
       gerecht ist. Deshalb gibt es einen politischen und auch philosophischen
       Streit darüber, welche Vorstellung denn die beste ist.
       
       Einen allgemein gültigen Begriff von Gerechtigkeit gibt es also nicht … 
       
       Nur in einem ganz formalen Sinne. Wir müssen eine ungefähre Vorstellung von
       Gerechtigkeit teilen, ansonsten könnten wir gar nicht miteinander darüber
       diskutieren, was gerecht ist. Man könnte auch sagen, bei Gerechtigkeit geht
       es um einen fairen Ausgleich der Vor- und Nachteile von gesellschaftlicher
       Zusammenarbeit. Nach welchen Kriterien dieser Ausgleich allerdings
       stattfinden sollte, ist notorisch total umstritten. Darüber debattieren wir
       und tauschen deshalb Argumente aus.
       
       Manche sagen, wer viel leistet, der soll auch viel verdienen. Ist Leistung
       ein gutes Kriterium für eine gerechte Verteilung auf der Welt? 
       
       Nein, die vermeintliche Leistungsgerechtigkeit der Marktwirtschaft ist
       ungerecht. Erstens belohnt der Markt nicht Leistung, sondern funktioniert
       nach Angebot und Nachfrage. Wer zuerst einen Impfstoff auf den Markt
       bringt, der macht mit diesem enorme Profite, auch wenn er möglicherweise
       überhaupt nicht mehr leistet als ein anderes Unternehmen, das einfach Pech
       hatte. Zweitens ist das, was unter Leistung verstanden wird, häufig in der
       sozialen Herkunft, der natürlichen Ausstattung oder auch in angeborenen
       Talenten begründet. Wer aus einem bildungsbürgerlichen Haushalt kommt und
       deshalb besonders gut in der Schule ist, der leistet nicht mehr, sondern
       reproduziert das, was er von zu Hause mitgebracht hat. Ebenso verhält es
       sich mit dem Basketballspieler, der zwei Meter zehn groß ist und deshalb
       viele Körbe wirft. Niemand kann etwas für solche Zufälle und deshalb dürfen
       die auch kein Kriterium für eine Verteilung sein. Der Markt kann also nicht
       für Gerechtigkeit sorgen.
       
       Brauchen wir den Markt trotzdem? 
       
       Den Markt brauchen wir aus instrumentellen Gründen. In einer
       arbeitsteiligen Gesellschaft müssen diejenigen mit den besten Fähigkeiten
       und Talenten bestimmte Jobs machen. Ich möchte nicht von einem
       inkompetenten Herzchirurgen operiert werden, sondern von dem besten, den es
       gibt. Diese Auswahl nach bestimmten Fähigkeiten gewährleistet der Markt.
       Aber daraus, dass einer der fähigste Herzchirurg ist, folgt eben nicht,
       dass er mehr leistet als andere und dementsprechend mehr verdienen sollte.
       Das heißt, wer heute viel Geld verdient, verdient das häufig nicht in einem
       moralischen Sinne, weil er mehr leistet als andere.
       
       Also braucht es Umverteilung? 
       
       Genau. Die Zufälle der Natur müssen kompensiert werden. Hier muss ein
       gerechtes Steuersystem die negativen Folgen der Marktwirtschaft
       ausgleichen. Vor allem durch eine höhere Einkommen- und Vermögensteuer.
       Dann ist eine gerechte Verteilung auch für diejenigen möglich, die aufgrund
       von Zufällen nicht die Chance hatten, Herzchirurg zu werden. Außerdem
       braucht es eine viel stärkere Erbschaftsteuer, um Chancengleichheit zu
       gewährleisten. Auch Erben ist ein historischer Zufall.
       
       Immer wieder wird kritisiert, dass sich linke Politik zu stark der
       Identitätspolitik verschrieben hat und sich nur noch auf
       Diskriminierungserfahrungen konzentriert. Wird da Umverteilung vergessen? 
       
       Gute linke Politik muss beides fordern: Anerkennung und Umverteilung.
       Beides ist wichtig für Gerechtigkeit. Aber beides muss nicht miteinander
       korrelieren. So kann der reiche schwarze Wallstreetbanker vergeblich auf
       ein Taxi warten, das ihn mitnimmt, weil der Taxifahrer ein Rassist ist.
       Genauso kann ein weißes Model sehr beliebt sein, aber finanziell ziemlich
       schlecht dastehen. Das Problem mit der Forderung nach Anerkennung ist aber,
       dass sie sich institutionell nicht so gut durchsetzen lässt wie
       Umverteilung, da Wertschätzung eine persönliche Sache ist. Das ist so
       frustrierend für diejenigen, die sich diskriminiert fühlen. Und deshalb
       werden in der [2][identitätspolitischen Debatte] Menschen immer wieder
       persönlich angegriffen, weil sie sich falsch geäußert haben oder weil sie
       jemanden vermeintlich missachtet haben. Das führt dann zu der Aggressivität
       der Auseinandersetzung. Zu hoffen bleibt natürlich, dass die öffentliche
       Debatte zu einem Umdenken bei vielen Menschen führt.
       
       Was sind heute die größten Gerechtigkeitsherausforderungen in der Welt? 
       
       Das größte weltpolitische Problem ist die Klimaerwärmung. Fast alle
       Lösungsvorschläge, die bis jetzt auf dem Tisch sind, werfen schwierige
       Gerechtigkeitsfragen auf. Wir müssen alle etwas abgeben, damit die
       Klimaerwärmung gestoppt werden kann, vor allem der Westen ein Stück seines
       Wohlstands. Jetzt ist die Frage, wer gibt was und wie viel ab? Wie kann
       eine gerechte globale Verteilung – in diesem Fall vor allem der Nachteile –
       funktionieren? Soll dabei [3][der ehemalige CO2-Ausstoß] von Ländern
       berücksichtigt werden oder nur der gegenwärtige? Soll man die Leistungs-
       und Innovationsfähigkeit von Volkswirtschaften berücksichtigen? Das ist
       eine sehr spannende Debatte, weil das Problem wirklich ein globales ist und
       deswegen nach einer globalen Lösung verlangt. Die Naturwissenschaftler
       haben sich da schon international zusammengeschlossen. Was die
       Gerechtigkeitsfrage angeht, sind wir noch nicht so weit. Da muss stärker
       kooperiert werden.
       
       Was ist mit der Vermögensungleichheit? 
       
       Auch das ist eine eklatante Ungerechtigkeit. Ich glaube aber nicht, dass
       das intellektuell wirklich kontrovers ist. Die Herausforderung ist eher
       eine politische. Die Vermögensungleichverteilung hat ebenfalls eine stark
       globale Dimension, weil die Superreichen ihr Vermögen in Ländern liegen
       haben, die keine Steuern oder zumindest [4][keine fairen Steuern] erheben
       und sich auch durch internationalen Druck nicht dazu bewegen lassen. Wir
       brauchen also ein weltweit gerechtes Steuersystem. Mit der globalen
       Mindestbesteuerung ist der erste Schritt getan. Das Ziel muss aber ein
       weltweiter föderaler Bundessteuerstaat sein, in dem es eine Bundessteuer
       gibt und dann verschiedene Steuersätze in verschiedenen Ländern. Das wird
       ein sehr langer politischer Kampf.
       
       Zu Beginn haben Sie gesagt, dass das, was gerecht ist, notorisch umstritten
       ist. Kann Gerechtigkeit dann überhaupt jemals erreicht werden? 
       
       Ich habe die Hoffnung, dass unser Denken darüber, was gerecht ist, auch
       Auswirkungen darauf hat, was tatsächlich in der Welt geschieht. Wenn wir
       einen Diskurs über Gerechtigkeit führen, können wir uns annähern und diese
       Annäherung kann auch praktisch wirksam werden. Wegen dieser Hoffnung
       betreibe ich Philosophie.
       
       Letztlich ist Gerechtigkeit eine Frage der politischen Gestaltung. Was
       erhoffen Sie sich mit Blick auf die Bundestagswahl im September? 
       
       Ich hoffe, dass [5][die linken Reformkräfte] die Mehrheit bekommen und dass
       es tatsächlich zu einem Umbau dieses Staates zu mehr sozialer Gerechtigkeit
       und Klimagerechtigkeit kommen wird.
       
       15 Aug 2021
       
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