# taz.de -- Chile nach den Protesten: Adiós Neoliberalismo
       
       > Am 4. Juli tagt in Chile erstmals die Versammlung, die eine neue
       > Verfassung ausarbeiten wird. Sie will dem Erbe der Pinochet-Diktatur ein
       > Ende setzen.
       
 (IMG) Bild: Bei der Abstimmung über die verfassunggebende Versammlung in Santiago am 16. Mai 2021
       
       Santiago de Chile taz | Von der Plaza de la Dignidad zum Verfassungskonvent
       – so lautet das Motto des Protestmarschs an diesem Sonntag in Chiles
       Hauptstadt Santiago. Dazu aufgerufen hat die „[1][Lista del Pueblo]“, eine
       Gruppe von Parteiunabhängigen und Vertreter*innen sozialer Bewegungen,
       die Teil des Verfassungskonvents sind. Der wird ebenfalls am Sonntag zum
       ersten Mal zusammenkommen, um in den kommenden Monaten ein neues
       Grundgesetz auszuarbeiten.
       
       Die Plaza de la Dignidad, der Platz der Würde, ist das Zentrum der sozialen
       Revolte, die sich seit mehr als einem Jahr gegen Ungleichheit, die
       Verfassung aus der Pinochet-Diktatur und das darin verankerte neoliberale
       Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell richtet. Augusto Pinochet regierte das
       Land von 1973 bis 1990.
       
       Im Oktober feierten Millionen von Menschen auf der Plaza de la Dignidad,
       nachdem bei einem Referendum knapp 80 Prozent der Bevölkerung für die
       Ausarbeitung einer neuen Verfassung gestimmt hatten. Und auch wenn die
       Coronapandemie die Straßenproteste und landesweiten basisdemokratischen
       Versammlungen oft verstummen ließ, der Wille nach Veränderung hat in Chiles
       Bevölkerung bis heute nicht nachgelassen.
       
       Das macht auch die Zusammensetzung des Gremiums deutlich, das die neue
       Verfassung erarbeiten wird. Mehr als die Hälfte der 155 Mitglieder sind
       Parteiunabhängige, die sozialen Bewegungen und Organisationen angehören:
       [2][der feministischen Bewegung], regionalen Umweltbewegungen und
       Nachbarschaftsversammlungen.
       
       ## Die Natur soll Rechte kriegen
       
       „Wir sind eine Alternative zu den politischen Parteien, die jahrelang vom
       Wirtschaftssystem profitiert haben, das aus der Zeit der Diktatur stammt“,
       sagt Elsa Labraña. Sie ist Mitglied eines feministischen Kollektivs und
       mehrerer Umweltschutzorganisationen.
       
       Labraña kommt aus Curicó in der Maule-Region südlich von Santiago, in der
       Monokulturen die Landschaft bestimmen. Hier gibt es die meisten Krebstoten
       im ganzen Land. „Wir wollen eine Verfassung, die die Umwelt schützt. Die
       Natur sollte zum Rechtssubjekt erklärt werden, damit die Ökosysteme
       erhalten bleiben. Die Monokulturen müssen verschwinden. Sie gefährden
       unsere Gesundheit“, sagt sie.
       
       Die parteiunabhängige Lista del Pueblo („Liste des Volkes“), zu der Labraña
       gehört, erhielt bei den Wahlen im Mai 27 Sitze im Verfassungskonvent. Weil
       sich landesweit parteiunabhängige Kandidat*innen zu dieser Liste
       zusammenschlossen, hatten sie eine Chance gegen die traditionellen
       Parteien, die vom Wahlsystem profitieren. Die rechten Regierungsparteien
       erreichten das von ihnen erhoffte Drittel der Sitze nicht, mit dem sie
       Veränderungen hätten blockieren können.
       
       Die Parteien der ehemaligen Concertación – der Mitte-links-Koalition, die
       Chile nach der Rückkehr zur Demokratie 1990 bis 2010 regierte – erhielten
       nur 25 Sitze. Viele machen sie für den Fortbestand des neoliberalen Modells
       verantwortlich.
       
       ## Für ein würdevolles Leben
       
       „Der Verfassungskonvent hat eindeutig eine linke Tendenz und es ist zu
       erwarten, dass er eine anti-neoliberale Agenda haben wird“, sagt Claudia
       Heiss, Politikwissenschaftlerin an der Universidad de Chile. „Es ist
       außerdem zu erwarten, dass die öffentlichen Institutionen und die Rolle des
       Staats gestärkt werden, hin zu einem Sozialstaat als Gegenposition zum
       neoliberalen Staat, den die Verfassung von 1980 garantiert.“
       
       In Chile wurden die soziale Grundsicherung, die natürlichen Ressourcen und
       das Wasser während der Pinochet-Diktatur zu großen Teilen privatisiert. Im
       Verhältnis zu den hohen Lebenshaltungskosten sind die Löhne sehr niedrig.
       Deshalb müssen sich viele verschulden, um Bildung, Gesundheitsversorgung,
       Strom und Wasser zu bezahlen. „Una vida digna“, ein würdevolles Leben, war
       eine der Hauptforderungen der Revolte.
       
       „Hinter dem Begriff Würde stecken der Wunsch nach mehr sozialer Sicherheit
       und nach politischer Teilhabe“, sagt Heiss. „Die wichtigsten Themen im
       Verfassungskonvent werden deshalb die sozialen Rechte sein sowie die
       Demokratisierung und Dezentralisierung der politischen Entscheidungen.“ Die
       Mitglieder des Verfassungskonvents, die von sozialen Bewegungen und
       Organisationen unterstützt werden, fordern Garantien für die demokratische
       Beteiligung der Bevölkerung während des verfassungsgebenden Prozesses.
       
       Die Regierung des rechten Präsidenten Sebastián Piñera, die für die
       Rahmenbedingungen des Verfassungskonvents zuständig ist, hat bisher wenig
       dazu beigetragen. Das öffentliche Budget, das für die Bürgerbeteiligung
       vorgesehen ist, ist genau so groß wie das Budget, das für die private
       Sicherheitsfirma bestimmt ist, die den Konvent begleiten soll. Und der
       Vertrag, den die Regierung mit einem Streaming-Unternehmen abgeschlossen
       hat, das die Sitzungen des Verfassungskonvents übertragen soll, enthält
       eine Klausel, die besagt: Nur Inhalte, die von der Regierung zuvor
       autorisiert wurden, dürfen übertragen werden.
       
       „Wir wollen, dass das ganze Land am verfassungsgebenden Prozess teilnimmt,
       nicht nur die 155 Mitglieder des Konvents. Der Regierung ist das aber
       egal“, sagt Elsa Labraña. „Es sind keine Maßnahmen zur Bürgerbeteiligung
       vorgesehen. Wir organisieren deshalb selbst basisdemokratische Treffen.“
       
       Politikwissenschaftlerin Heiss zufolge ist die Art der Regierung,
       politische Entscheidungen unter Ausschluss der Bevölkerung zu treffen, ein
       Erbe der Diktatur. „Das politische System in Chile ist extrem elitär und
       diskriminierend“, sagt sie. „Die Zusammensetzung des Verfassungskonvents
       ist etwas komplett Neues: Er repräsentiert viel stärker die Gesellschaft
       als jedes andere politische Organ. Es gibt Frauen, Indigene, Menschen mit
       verschiedenen Bildungshintergründen, aus unterschiedlichen sozialen
       Schichten und Regionen.“
       
       ## „Sprache ist Macht“
       
       Der Verfassungskonvent ist der erste der Welt, der zu gleichen Teilen aus
       Frauen und Männern besteht. Siebzehn Sitze sind für die zehn indigenen
       Völker Chiles reserviert. Aber die Regierung weigert sich bisher, den
       Vertreter*innen indigener Völker Übersetzer bereitzustellen.
       
       „Sprache ist Macht. Wenn unsere Sprachen zum Schweigen gebracht werden,
       heißt das, dass der chilenische Staat seine Macht nicht teilen will“, sagt
       Elisa Loncón, die von den Mapuche in den Verfassungskonvent gewählt wurde.
       Die Mapuche sind das größte indigene Volk Chiles, etwa 10 Prozent der
       Bevölkerung fühlen sich ihnen zugehörig.
       
       In der aktuellen Verfassung wird die Existenz der indigenen Völker nicht
       anerkannt. Ihnen wurde bisher die politische Teilhabe extrem erschwert.
       „Keine chilenische Verfassung hat die Rechte der indigenen Völker
       berücksichtigt. Weil unsere Rechte auf Land, Sprache und Selbstbestimmung
       nicht anerkannt werden, wird das Volk der Mapuche politisch verfolgt“, sagt
       Loncón. „Das neoliberale Modell hat unsere Territorien zerstört.“
       
       Soziale Bewegungen und einige linke Parteien unterstützen die indigenen
       Völker in ihren Forderungen. Eine Gruppe von mehr als 40 Mitgliedern des
       Verfassungskonvents hat eine Liste mit sechs Punkten veröffentlicht, die
       sie als Voraussetzung für die Arbeit des Verfassungskonvents betrachten.
       
       Dazu gehören die Freilassung der politischen Gefangenen der Revolte,
       Gerechtigkeit und [3][Reparationen für die Opfer der
       Menschenrechtsverletzungen durch Polizei und Militär] bei den Protesten,
       die Entmilitarisierung indigener Territorien und die Souveränität des
       Verfassungskonvents.
       
       ## Wasserwerfer warten auf ihren Einsatz
       
       Mit Souveränität ist beispielsweise die Unabhängigkeit von
       Freihandelsabkommen gemeint. Als Regierungs- und Oppositionsparteien am 15.
       November 2019, während des Höhepunkts der Revolte, das sogenannte
       Friedensabkommen für eine neue Verfassung schlossen, fügten sie einen
       Artikel hinzu, der besagt, dass die neue Verfassung alle von Chile
       unterschriebenen Freihandelsabkommen respektieren muss. Chile verhandelt
       gerade unter anderem ein neues Abkommen mit der Europäischen Union.
       
       „Diese Abkommen sind die Grundlage des neoliberalen Modells in Chile“, sagt
       Elsa Labraña. „Wenn der Verfassungskonvent ihnen untergeordnet ist, wird es
       sehr schwer, das Modell zu verändern.“
       
       Die Plaza de la Dignidad wird mittlerweile rund um die Uhr von der Polizei
       bewacht. Wasserwerfer und Tränengasfahrzeuge warten auf ihren Einsatz.
       
       Die Reiterstatue des Militärgenerals Baquedano in der Mitte des Platzes
       wurde nach Anordnung der Regierung abmontiert, um sie vor Vandalismus zu
       schützen. Eine Mauer aus Stahl beschützt den leeren Sockel.
       
       3 Jul 2021
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://www.lalistadelpueblo.cl/
 (DIR) [2] /Feministisches-Manifest-aus-Chile/!5751295
 (DIR) [3] /Verbrechen-gegen-die-Menschlichkeit/!5769228
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Sophia Boddenberg
       
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