# taz.de -- Vor der Wahl in Israel: Wem gehört das Jordantal?
       
       > Benjamin Netanjahu und Benjamin Gantz wollen das Jordantal annektieren,
       > wenn sie die Wahl am 2. März gewinnen. Was würde die Annexion ändern?
       
 (IMG) Bild: Eine Hirtin aus dem Jordantal treibt ihre Herde fort, israelisches Militär hat sie dazu aufgefordert
       
       Morgens um acht herrscht auf den steinigen Hügeln des Jordantals eine
       Stille, die es nur in der Wüste gibt. Von politischen Diskussionen ist
       hier, ein wenig außerhalb des palästinensischen Dorfs Al-Auja, nicht viel
       zu spüren. Noch sind die Schafe und Ziegen nicht beim Weiden, noch fährt
       das israelische Militär nicht mit seinen Jeeps über die Hügel.
       
       Das Jordantal, dieser friedlich wirkende Landstrich an der Grenze zu
       Jordanien, zieht sich am Fluss Jordan vom See Genezareth zum Toten Meer
       hinab und ist in Israel zum zentralen Wahlkampfthema geworden. Der
       israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu will das Jordantal
       annektieren, wenn er die Wahl am 2. März gewinnt.
       
       Auch der Oppositionsführer Benjamin Gantz befürwortet eine Annexion. Weder
       Netanjahu noch Gantz haben bei der Wahl im September eine Mehrheit zur
       Regierungsbildung zustande gebracht, deswegen wird am Montag wieder
       gewählt, zum dritten Mal in einem Jahr. Im Januar, nachdem Donald Trump
       seinen Friedensplan für den Nahostkonflikt vorgestellt hatte, sah es kurz
       nach einer schnellen Annexion aus. Doch das Weiße Haus verkündete umgehend,
       es werde dies vor den Wahlen nicht unterstützen.
       
       Das Jordantal ist doppelt so groß wie das Land Berlin, 65.000
       Palästinenser*innen und 11.000 israelische Siedler*innen leben hier. Das
       Land am Jordan ist fruchtbar, doch die Lebensbedingungen sind harsch. Im
       Sommer steigen die Temperaturen auf über 40 Grad. Was jetzt im Winter auf
       den endlos sich ins Weite ziehenden Hügeln noch grün ist, ist dann
       verbrannt.
       
       ## Ein Landstrich als Pufferzone
       
       Die Idee einer Annexion des Jordantals ist nicht neu. Seit der israelischen
       Besetzung im Westjordanland in der Folge des Sechstagekriegs 1967 haben
       israelische Politiker*innen sie immer wieder angekündigt. Im sogenannten
       Allon-Plan von 1970, in dem es um die Aufteilung des Westjordanlandes
       zwischen Israel und Jordanien ging, war sie beispielsweise anvisiert, aus
       militärischen und zionistischen Gründen: Der Landstrich sollte eine
       Pufferzone bilden, wenn Panzer aus den verfeindeten arabischen Saaten
       gerollt kämen. Die ersten Siedlungen wurden hier in den 1970er Jahren als
       Bollwerke gegen die Feinde gegründet.
       
       Jetzt, im Wahlkampf, sprechen Netanjahu, Gantz und Trump wieder über eine
       Annexion. Welche Folgen hätte sie für die dort lebenden Menschen – für
       Paläs´tinenser*innen und israelische Siedler*innen?
       
       Der Klang von Schafglocken kündigt Naima Omm Khaled kurz vor neun Uhr
       morgens an. Sie treibt ihre fünfzig Schafe über die steinigen Hügel, um sie
       auf den Weiden vor dem Dorf Al-Auja in der Nähe von Jericho grasen zu
       lassen. Eingehüllt in dunkle Tücher, schwingt sie ihren Stock, um die Herde
       zusammenzuhalten. Ein Basecap schützt sie vor der Sonne. Zwei
       palästinensische Jungen reiten auf Eseln durch die Schafherde.
       
       Seit Generationen lässt die Familie von Naima Omm Khaled ihre Tiere auf den
       Hügeln vor Al-Auja weiden. Sie leben davon, verkaufen Milch und Butter. Wie
       die meisten Palästinenser*innen in diesem wenig besiedelten Gebiet ist sie
       Beduinin. Doch im Unterschied zu vielen anderen Beduin*innen lebt sie nicht
       in einem Zelt, sondern in einem kleinen Haus, das nur wenig Platz für ihre
       neunköpfige Familie biete.
       
       ## „Außenposten“, das klingt nach einer Bruchbude
       
       Naima Omm Khaleds Mann ist krank und kann nicht arbeiten. „Selbst wenn er
       könnte: Es ist schwer, Arbeit zu finden“, sagt sie und macht einen Laut, um
       ein Schaf zur Herde zurückzutreiben. Fließendes Wasser hat die Familie
       nicht. „Nur den Regen, der fällt, und Wasserquellen.“ Omm Khaled zeigt auf
       eine Siedlung in der Ferne und sagt: „Seit Omer Atidia hier ist, habe ich
       Angst um unsere Existenz.“ Deshalb möchte sie auch nicht mit ihrem
       richtigen Namen genannt werden.
       
       Der Ort, auf den Omm Khaled zeigt, liegt etwa einen Kilometer entfernt:
       Häuser, Traktoren stehen unter langen, weißen Dächern. Dahinter liegt ein
       Dattelpalmenwald. Der Farmer Omer Atidia hat dort vor siebzehn Jahren auf
       dem Gelände einer ehemaligen Militärbasis einen sogenannten Außenposten
       aufgebaut.
       
       Nach israelischem Recht ist ein Außenposten eine illegale Siedlung im
       Westjordanland. „Außenposten“, das klingt nach einer Bruchbude, schnell
       aufgebaut und vom Abriss bedroht. Fährt man die steinige Straße hoch zur
       Farm von Omer Atidia, ist von Illegalität wenig zu spüren: Der Hof wird mit
       Elektrizität und Wasser von israelischen Betrieben beliefert und kann eine
       Dattelplantage, Tausende von Schafen, Weiden und Gemüsegärten durch ein
       Bewässerungssystem versorgen.
       
       Unterstützt wurde Omer Atidia von der Bewegung „Amana“, die es sich auf
       ihre Fahne geschrieben hat, das Westjordanland mit israelischen Siedlungen
       zu bevölkern. Den Nachnamen Atidia hat sich der Siedler, ein ranghoher
       Reserveoffizier, selbst gegeben. „Zukunft Gottes“ heißt er übersetzt.
       
       ## „Du musst Stellung beziehen“
       
       Die Hirtin Omm Khaled sagt, dass Atidia die Tiere nicht dort grasen lasse,
       wo es genug zu futtern gibt. Als sie einmal gemeinsam mit ihrem Sohn ihre
       Schafe auf die Weide geführt habe, seien Siedler*innen mit einem Traktor
       direkt auf ihren Sohn und die Herde zugefahren. Oft seien es aber gar nicht
       Atidia oder die anderen Siedler*innen, die die Hirt*innen davon abhalten,
       ihre Tiere auf die Weide zu führen. Meistens seien es Soldaten, sie legten
       ihr und den anderen Hirt*innen einen Zettel mit hebräischem Text vor, den
       sie nicht verstehen, und vertrieben sie von den Weiden. Omm Khaled spielt
       ein Video auf ihrem Handy ab, es zeigt Soldaten, die die Herde auf die
       andere Seite des Hügels treiben, wo es nichts zu grasen gibt, einer schubst
       ein Schaf, es stolpert.
       
       Vor zwei Jahren haben die Hirt*innen die Organisation„Ta’ayush“ um Hilfe
       gebeten.„Ta’ayush“ bedeutet „Zusammenleben“. Gegründet wurde die
       Aktivist*innengruppe 2000 in Kfar Kassem, einer arabischen Stadt in
       Israel, um dem Rassismus und der Segregation der Gesellschaft etwas
       entgegenzusetzen. Seitdem die Aktivist*innen kommen, um die Hirt*innen und
       deren Schafe zu beschützen, traut Omm Khaled sich wieder auf die Weiden vor
       Al-Auja.
       
       Eine der Aktivist*innen von Ta’ayush ist Ada Bilu. Die 57-jährige Israelin
       lebt in Jerusalem, wenn ihre Arbeit als Feldenkrais-Lehrerin es erlaubt,
       trifft sie sich gegen sieben Uhr morgens mit anderen Aktivist*innen und
       fährt mit ihnen durch die Judäische Wüste, ins Jordantal, durch
       Checkpoints, an israelischen Siedlungen und palästinensischen Dörfern
       vorbei bis nach Al-Auja. So wie heute. Nachdem sie und zwei weitere
       Aktivist*innen angekommen sind, blicken sie den Herden aus dem Tal entgegen
       und winken den Hirtinnen zu. „Wenn du in einem Land leben willst, in dem es
       eine so große moralische Frage gibt, musst du Stellung beziehen“, sagt
       Bilu. Auch sie weiß, wie man sich vor der Sonne im Jordantal schützt. Sie
       trägt einen Schlapphut und lange Kleidung: „Wir helfen Hirt*innen, ihr Land
       zu betreten. Das ist meine Form des Aktivismus.“ Sie schaut auf die Uhr.
       „Vermutlich kommt das Militär gegen elf. Letzte Woche sind sie jeden Tag
       gekommen.“
       
       An diesem Tag kommt das Militär schon um zehn. Ein Jeep fährt von der
       Straße ab und hält auf einem Hügel in der Nähe von Naima Omm Khaleds Herde.
       „Omer Atidia hat quasi eine Privatarmee hier, die seine Befehle ausführt“,
       sagt Bilu, während sie auf den Militärjeep zugeht: „Er hat Verbindungen in
       die obersten Einheiten des Militärs. So kann er sich immer mehr ausbreiten
       und die Hirt*innen verdrängen.“ Eindeutige Beweise für die engen
       Beziehungen zwischen Atidia und dem Militär gibt es nicht. Doch laut der
       Aktivist*innen von Ta’ayush geben die Soldat*innen oft selber zu, dass
       Atidia sie bittet, auf die Weide zu fahren.
       
       ## Wem gehört das Land?
       
       Den Tag über durchqueren zahlreiche Militärjeeps den Außenposten. Hier, auf
       den Weideflächen vor Al-Auja, passiert nahezu jeden Tag das Gleiche:
       Israelische Soldaten erklären das Gebiet zur militärischen Zone, so
       verbieten sie den Hirt*innen den Zugang zu dem Gelände. „Nach israelischem
       Recht kann das Militär nicht jeden Tag neu ein Gelände zur geschlossenen
       militärischen Zone erklären, ohne den Konflikt, den es gibt, zu lösen. Doch
       das versuchen sie nicht, das Vorgehen ist illegal“, sagt Bilu, während
       Naima Omm Khaled ihre Tiere antreibt, weg vom Jeep und den Soldat*innen.
       „Unsere Anwesenheit sorgt dafür, dass die Soldat*innen die Hirt*innen nicht
       ganz so weit vertreiben“, sagt Bilu. „ohne uns würden sie sie noch über den
       nächsten Hügel schicken.“
       
       Im Militärjeep, auf den Bilu und die beiden anderen Aktivist*innen
       zugelaufen sind, sitzen drei Soldat*innen Anfang zwanzig. Sie halten
       Maschinenpistolen auf dem Schoß. Der Soldat auf dem Beifahrersitz kurbelt
       das Fenster herunter: „Das Land ist militärische Zone. Das Papier ist
       unterwegs. Können wir das hier und jetzt klären, oder müssen wir es euch
       erst vorlegen?“, fragt er die Aktivist*innen.
       
       „Was ihr macht, ist illegal!“ ruft ein Aktivist.
       
       „Warum illegal?“, ruft der Soldat zurück: „Das ist israelisches Land.“
       
       Bilu korrigiert ihn: „Das ist Land der Waqf.“
       
       „Land von wem?“, fragt der Soldat. Es wirkt so, als wüsste er wirklich
       nicht, von wem die Rede ist.
       
       Wem gehört das Land? Die Antwort hängt im Jordantal immer auch davon ab, ob
       man sich auf israelisches oder auf internationales Recht beruft. Nach
       israelischem Recht sind viele Siedlungen im Westjordanland legal.
       Sogenannte Außenposten wie der von Atidia sind illegal – doch viele
       mittlerweile legalisierte Siedlungen haben einmal als illegale Außenposten
       angefangen. Die internationale Staatengemeinschaft hingegen sieht in den
       israelischen Siedlungen im Westjordanland einen Verstoß gegen
       internationales Recht.
       
       ## Als sei das Jordantal schon annektiert
       
       Das Weideland vor Al-Auja ist Territorium der Waqf, einer islamischen
       Stiftung, die die heiligen Stätten in Jerusalem verwaltet, aber auch Land
       im Jordantal besitzt. Auch der Außenposten von Omer Atidia steht zu großen
       Teilen auf Waqf-Gelände, andere Teile seiner Farm sind Privatbesitz von
       Palästinenser*innen. „Das wissen die meisten Soldat*innen nicht, die die
       Hirt*innen vertreiben“, sagt Itay Mack, israelischer Menschenrechtsaktivist
       und Anwalt der Ta’ayush-Aktivist*innen, am Telefon.
       
       Mack sagt, dass höherrangige Offiziere ihm vor Gericht darin zugestimmt
       hätten, dass das Land Eigentum der Waqf ist. Er fragt sich nun: „Warum
       geben die Offiziere dieses Wissen nicht an die Soldat*innen weiter?
       Vielleicht weil es so bequemer ist?“
       
       Bilu, die zusammen mit den beiden anderen Aktivist*innen immer noch auf dem
       Weideland unterwegs ist, sieht es so: „Ich sage den Rechten und den
       Soldaten immer: ‚Jalla, annektiert bitte. Dann müssten wir den
       Palästinenser*innen wenigstens auch dieselben Rechte geben, das Recht auf
       die israelische Staatsbürgerschaft, Zugang zu Wasser, zu Elektrizität.‘ “
       Genau deswegen aber glaubt sie nicht daran, dass es in nächster Zeit zu
       einer Annexion kommt. „Die Politiker machen großen Wind mit der Idee, um zu
       zeigen, dass sie die Rechtesten, Patriotischsten sind. Aber am Ende haben
       die Israelis vor einer Annexion viel mehr Angst als die
       Palästinenser*innen.“ Sie blickt auf die Soldat*innen und zum Outpost von
       Atidia und sagt: „Ohnehin verhalten sich alle so, als sei das Jordantal
       schon annektiert.“
       
       In dieser Einschätzung sind sich viele Aktivist*innen einig. 90 Prozent des
       Jordantals sind seit dem Oslo-Abkommen 1995 C-Gebiet, stehen also unter
       israelischer Kontrolle. Die israelische Zivilverwaltung erteilt
       Palästinenser*innen für diese Gebiete so gut wie keine Baugenehmigungen,
       weder für Wohnhäuser noch für landwirtschaftliche Gebäude. Stattdessen
       kommt der Großteil israelischen Siedlern zugute. Nur die Stadt Jericho und
       zwei, drei kleine Flecken sind A-Gebiet, Inseln palästinensischer Autonomie
       inmitten israelischer Kontrolle. Das Jordantal ist der wohl ärmste
       Landstrich des Westjordanlandes, von den dort lebenden Palästinenser*innen
       ist wenig Widerstand zu erwarten.
       
       ## Es ist schwer zu beweisen, wem das Land gehört
       
       Ob das Weideland vor Al-Auja im Falle einer Annexion im Besitz der Waqf
       bleiben oder enteignet würde, ob Palästinenser*innen tatsächlich die
       israelische Staatsbürgerschaft erhalten würden oder sie diese, wie in
       Jerusalem, nach Antragstellung erhalten könnten – all das ist unklar. Fragt
       man Naima Omm Khaled, was sie über eine Annexion denkt, sagt sie: „Die
       Situation wird sich ändern, wenn der Friedensprozess voranschreitet und es
       eine Einigung zwischen Palästinensern und Israelis gibt.“ Annexion oder
       nicht Annexion – für Omm Khaled ist vor allem eines relevant: ob sie ihre
       Schafe und Ziegen auf die Weide führen kann. „Futter für sie zu kaufen –
       das können wir uns nicht leisten.“
       
       Mack, der Menschenrechtsaktivist und Anwalt, glaubt, dass es im Fall einer
       Annexion vor allem leichter für die israelische Regierung wird, die
       palästinensische Bevölkerung zu evakuieren. „Die meisten
       Palästinenser*innen im Jordantal leben in traditionellen Gemeinschaften.
       Kaum jemand ist offiziell registriert, genauso wenig ihr Land.“ Es wird
       schwer für sie, zu beweisen, dass das Land, auf dem sie leben und arbeiten,
       ihr Land ist.
       
       Fragt man die Soldat*innen, was sie von einer Annexion halten, schütteln
       sie den Kopf. Sie wollen sich nicht äußern. Dann platzt es aus der
       Soldatin, die am Steuer des Jeeps sitzt, doch heraus: „Das ist unser Land.
       Nichts Besseres zu tun, als solche Fragen zu stellen?“ Der Soldat auf dem
       Beifahrersitz legt ihr beruhigend die Hand auf den Arm.
       
       Kurz darauf erhalten die Soldat*innen einen Anruf und fahren auf Omm
       Khaleds Herde zu. Bilu und die beiden anderen Aktivist*innen laufen
       hinterher. „Wenn sie in die Herde hineinfahren, “, ruft Bilu, „filmt es!“
       
       ## „Immerhin hat er Skrupel“
       
       Der Jeep fährt nicht in die Herde. „Das ist nicht immer so“, sagt Bilu. Sie
       zeigt auf den nächsten Hügel: „Da ist A-Gebiet, unter palästinensischer
       Kontrolle. Mal sehen, ob sie die Schafe auch von dort vertreiben.“ Eine
       Drohne schwirrt über den Herden. Von wo aus sie gesteuert wird, ist unklar,
       möglicherweise von einer Militärbasis in der Nähe.
       
       Auch einem Soldaten ist offensichtlich nicht wohl dabei, die Herde weiter
       zu vertreiben. Er steht außerhalb des Jeeps und telefoniert: „Aber da ist
       doch A-Gebiet!“, ruft er entrüstet ins Handy, „Omer beschwert sich auch,
       wenn die Schafe dort grasen!“
       
       Bilu lacht bitter, als sie das hört: „Immerhin hat er Skrupel. Aber man
       sieht: Eine ganze Armee erfüllt die Wünsche eines Außenpostens.“
       
       Versucht man, Omer Atidia in seinem Außenposten persönlich zu treffen, wird
       man von Soldat*innen in Empfang genommen: „Omer ist heute nicht da“, sagt
       eine Soldatin. „Er ist bei seiner Mutter.“ Sie zeigt auf eine Ansammlung
       von Häusern auf der Hügelspitze, etwa hundert Meter entfernt. „Dort findet
       ihr vielleicht jemanden.“
       
       Zwei Kinder liegen im Gras und lesen. Der Schreiner des Außenpostens zeigt
       ein paar Besucher*innen Möbel, die er gebaut hat. Netanel Weizman – sein
       Name ist geändert – sitzt auf einer Bank vor einem Essensraum der Farm. Die
       Familie von Atidia, Mitarbeiter*innen und vierzehn Jugendliche, die wegen
       Verhaltensproblemen auf die Farm geschickt wurden, leben hier. Auch Weizman
       war einer von ihnen. Der Mittzwanziger flog als Teenager aus seiner
       Jeschiwa, einer Schule, an der sich Juden ausschließlich der religiösen
       Bildung widmen. Sein Rabbi hatte ihm einen Aufenthalt auf Atidias Farm
       empfohlen.
       
       „Die Arbeit auf dem Feld macht einen besseren Menschen aus dir“, sagt
       Weizman und streicht sich durch den Bart: „Ich habe hier mit Omer und
       seiner Frau meine Familie gefunden.“ Auf dem Kopf trägt Weizman eine bunte
       gestrickte Kippa, die Kippa der religiös-zionistischen Siedler, die für ein
       Groß-Israel kämpfen und sich dabei auf die Thora berufen. Heute ist er nur
       zu Besuch hier, er lebt seit einer Weile in einer Siedlung südlich von
       Hebron. Spricht man ihn auf die Möglichkeit einer Annexion an, sagt er:
       „Ich glaube nicht, das sich etwas ändert. Wir leben jetzt schon hier – und
       wir leben gut.“ Das Militär werde ohnehin bleiben, es sorge für Sicherheit.
       „Auch für die Sicherheit der Palästinenser*innen“, fügt er hinzu. „Jeder
       bleibt, wo er ist, und es funktioniert. Und wenn sie unser Land betreten,
       dann rufen wir das Militär.“
       
       ## Die trügerische Stille bleibt
       
       Fragt man Weizman, wie es sich anfühlt, Frieden mit Militär durchzusetzen,
       antwortet er: „ Die Palästinenser wollen Verantwortung. Aber dann geben sie
       die Verantwortung in die Hände einer Regierung, die nicht für sie sorgt.
       Wir aber sorgen für sie. Wir geben ihnen Wasser, wir geben ihnen
       Elektrizität.“
       
       Hinter Weizman liegt das grüne Tal, auf dem Omer Atidia die Schafe und
       Ziegen von Naima Omm Khaled nicht weiden lässt. Weizman lächelt, wenn er
       sagt: „Ich persönlich glaube, dass Israel uns gehört. Das steht schon in
       der Thora. Ich habe kein Problem mit Leuten, die hier leben möchten. Wenn
       sie in Frieden mit uns leben können.“ Dann fährt er fort: „Wir Juden können
       nirgendwo anders hin. Die Palästinenser sind Araber, es gibt so viel Platz
       in den arabischen Ländern. Ich möchte keine Menschen aus ihren Häusern
       schmeißen, aber für solche, die nicht friedlich mit uns leben wollen, gibt
       es eine Menge Orte, an die sie gehen können.“
       
       Mittlerweile ist es zwei Uhr nachmittags. Die Soldat*innen auf dem
       Weideland haben sich zurückgezogen. „Die Tiere haben gefressen“, sagt Ada
       Bilu und lächelt. „Das ist das Wichtigste. Ein relativ ruhiger Tag.“
       
       Ein paar Tage später, als die Aktivist*innen wieder ins Jordantal fahren,
       werden sie bedroht, von einer Gruppe vermummter Männer. Ein Video zeigt,
       wie die Männer „Haut ab!“ rufen und den Aktivist*innen Pfefferspray vor die
       Augen halten. Als diese weggehen, wirft einer der Männer einen Stein nach
       ihnen.
       
       Für heute herrscht im Jordantal diese besondere Stille, die es nur in der
       Wüste gibt. Vermutlich wäre sie dieselbe nach einer Annexion: trügerisch
       und brüchig.
       
       29 Feb 2020
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Judith Poppe
       
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