# taz.de -- Obdachlose Jugendliche in Berlin: Jung und unsichtbar
       
       > Immer mehr junge Erwachsene sind obdachlos. Viele schlagen sich in Berlin
       > durch, wie Mario, Lucy und Pat.
       
 (IMG) Bild: Ämter fühlen sich oft nicht zuständig: Obdachlose in Berlin
       
       Berlin taz | Pat schwingt sich vom Rad. Die Seiten seiner Pilotenmütze
       wackeln dabei. Er und sein Freund Mario, der ein bisschen schmächtiger ist
       und weniger laut, schnappen sich ihre bemalten „Schnorrbecher“. Lucy stellt
       sich an den Rand des Gehwegs. Sie führt das Feuerzeug zur Zigarette und
       zündet sie an. Sie ist neunzehn, Mario fast zwanzig. Pat ist im gleichen
       Alter. „Man muss witzig sein, wenn man was verdienen will“, sagt Pat. Fünf
       Euro haben sie sich für die nächste Stunde zum Ziel gesetzt. Das reicht für
       zwei Joints. An guten Tagen machen sie bis zu 50 Euro.
       „Kleingeldkontrolle!“, rufen sie den Passanten zu. Manche grinsen. Viele
       tun, als existierten die Jugendlichen nicht. Ab und zu wirft jemand etwas
       in den Becher rein.
       
       „Wir sind Straßenkinder“, sagen die Jugendlichen ohne Umschweife. Dabei
       sehen sie kaum anders aus als gewöhnliche Teenager: Lucy trägt blonde
       Dreadlocks, die Kleidung bunt, das Oberteil fällt weit über ihre Jeans. Die
       Jungs tragen Hoodie und Sneakers, ein bisschen ranzig und abgewetzt.
       
       Doch das ist nicht unüblich auf Berliner Straßen. Nach Angaben der
       Bundesarbeitsgemeinschaft für Wohnungslosenhilfe haben in Berlin je nach
       Jahreszeit bis zu 3.000 Jugendliche und junge Erwachsene keine feste
       Bleibe. Bundesweit seien es circa 20.000 zwischen 18- und 23-Jährige, die
       offen oder verdeckt obdachlos lebten. Ines Fornacon von der Stiftung Off
       Road Kids sagt, gerade verändere sich etwas: „Es werden mehr. Gleichzeitig
       sind die Jugendlichen immer schwerer zu erkennen.“ Fornacon, mit
       Kurzhaarfrisur und Kapuzenpulli, sitzt an einem schlichten weißen Tisch,
       der vor einem vergitterten Fenster steht. Dahinter verlaufen die
       Bahnschienen. Wenn ein Zug vorbeifährt, verdunkelt sich ihr Büro, Tassen
       klirren in Regalen. Fornacon war erst Krankenschwester, dann wurde sie
       Streetworkerin.
       
       Heute ist sie die Leiterin des Berliner Büros, seit 15 Jahren arbeitet sie
       für die Stiftung. „Damals in den Nullerjahren“, erinnert sie sich,
       „tummelten sich noch Gruppen von bis zu 50 obdachlosen Erwachsenen und
       Jugendlichen an bestimmten Plätzen. Man konnte sie allein an ihrem Äußeren
       schon von Weitem erkennen.“ Die heutige Unsichtbarkeit habe zwei Gründe:
       Erstens kleideten sich die Jugendlichen weniger auffällig. Das trage dazu
       bei, dass die Menschen das Gefühl haben, die Zahl obdachloser Jugendlicher
       habe sich reduziert. Das Gegenteil ist der Fall. Zweitens begann Ende der
       Nullerjahre die „Verriegelung des öffentlichen Raumes“, wie Fornacon es
       nennt.
       
       ## Partielle Alkoholverbote
       
       „Die Politik überlegte sich damals: Wie bekommen wir Hunderte Menschen,
       davon viele minderjährig, vom Grünstreifen am Alexanderplatz weg?“ Über die
       Grünanlagenverordnung fanden sie einen Weg. Ende 2008 verhängten die
       Behörden partielle Alkoholverbote. So häuften sich Platzverweise dort, wo
       sich einst die sich oft überlappende Jugend-, Drogen- und Obdachlosenszenen
       etabliert hatten.
       
       Lucy und Mario laufen die Warschauer Straße entlang, Geschäfte und ein
       Grünstreifen mit Sitzbänken in der Mitte. Es ist kalt. Wohin die
       Jugendlichen wollen, wissen sie noch nicht genau. Im Sommer ist die
       Warschauer Straße voller Menschen, manche fahren Skateboard, andere sitzen
       mit Bier und Kippe auf dem Rasen. Jetzt wirkt die „Warschauer“ noch
       unfreundlich. Autoreifen spritzen Regenwasser auf die Gehwege, Passanten
       verstecken sich unter ihren Kapuzen. Mario hat seinen Arm fest um die
       Schultern seiner Freundin gelegt. Lucys Wangen leuchten rot. Sie friert.
       
       Zwischen Mario und seinem Stiefvater hat es oft gekracht. Seine Mutter
       hielt sich raus. Irgendwann wurde es ihm zu viel. Also stieg er in den Zug
       von Hamburg nach Berlin, vor etwa einem Jahr. Die Familie weiß bis heute
       nicht, wo er ist, und das sei gut so, sagt er. „Ich kam in Berlin-Spandau
       an, kannte niemanden und hab die erste Nacht im Sitzen am Bahnhof gepennt.“
       Er sagt das nebenher, besonders kommt es ihm nicht vor. Mario ist
       zurückhaltend, seine Wangen sind eingefallen. Er ist stark untergewichtig.
       „Jetzt noch ne Nase Speed und dann ab ins Bett“, wird er später sagen.
       
       ## Von Bremen nach Berlin
       
       Auch Lucy kommt aus Norddeutschland. „Ich bin aus dem Mädchenheim
       abgehauen. Von Bremen nach Berlin, kurz bevor ich 18 geworden bin. Früher
       oder später hätten die mich eh rausgekickt, wegen der Volljährigkeit“, sagt
       sie. Mit jedem Schritt, den Lucy geht, klingeln kleine Glöckchen, die sie
       um ihre Fesseln trägt. Sie wirkt gleichzeitig härter und fragiler als die
       beiden Jungen, wie ein zu oft geschlagener Hund. Ihre Mutter sagte ihr
       immer, sie sei zu dick. Sie war oft unzufrieden mit der Tochter. „Irgendwie
       war ich nie genug“, sagt Lucy. Sie schaut dabei stur geradeaus. „Wenn ich
       mich dann geändert hab, hat es auch nichts geholfen.“
       
       Ihr Kumpel Pat ist Berliner. Er sitzt wieder auf seinem Rad. Mal fährt er
       ein paar Meter vor, dann zurück, freihändig, dann wieder einhändig. Die
       Kapuze trägt er über den Kopf. Seine Jogginghose sitzt so tief, dass an den
       Lenden nackte Haut zum Vorschein kommt. Seine Mutter wohnt nicht weit weg
       von hier, am Morgen hat er sie besucht. „Ich hab halt neun Geschwister, ich
       kann da, wenn, nur am Wochenende pennen“, sagt er. „Dann kann ich es auch
       gleich lassen. Zumindest hat sie mir diesmal was vom Joint übrig gelassen.“
       
       In so einem Fall sollte eigentlich der Staat einspringen. Doch in der
       Jugendhilfe fehlt das Geld. Sobald man 18 wird, verfällt der Anspruch auf
       eine betreute Wohnform. Also ziehen viele Jugendliche in eine eigene
       Wohnung. Dort sind sie auf sich allein gestellt. „Dann wächst denen alles
       über den Kopf. Briefe von Behörden und Rechnungen werden gar nicht erst
       aufgemacht und zack, ist die Wohnung weg“, sagt Ines Fornacon, die
       Streetworkerin von Off Road Kids.
       
       ## Ämter fühlen sich oft nicht zuständig
       
       Sie fordert eine verbindliche Jugendhilfe bis zum Alter von 21 Jahren.
       Einmal wohnungslos und ohne Meldeadresse fühlten sich die Ämter zudem oft
       nicht zuständig. „Hilfreich wäre eine eigene Abteilung für wohnungslose
       Jugendliche im Jobcenter“, meint Fornacon. In Hamburg und Bremen gibt es
       die bereits. Ines Fornacon spricht eigentlich in ruhigem Tonfall. Wenn sie
       von den Behördengängen erzählt, mischt sich Aufregung in ihre tiefe Stimme.
       
       Auf der unruhigen Warschauer Straße erreichen Lucy, Mario und Pat ein
       Lebensmittelgeschäft. Einen „Schnorrplatz“, wie sie sagen. Vor dem Laden
       sitzen zwei Freunde, Casey und Robert. Die zerschlissenen Schlafsäcke
       teilen sie mit ihrem großen schwarzen Hund. Er springt übermütig an allen
       hoch. Die Jugendlichen begrüßen sich, mal mit Handschlag, mal mit Umarmung.
       „Geht mal ein Stück zur Seite, wir haben hier Schnorrschicht“, raunzt
       Robert mit einem angedeuteten Lächeln. Es geht eine eben erschnorrte
       Zigarette herum. Vor Casey liegt eine große Papiertüte gefüllt mit
       Lebensmitteln. „Ey, die hat uns vorhin so ein Typ dagelassen. Nehmt euch
       mal was“, sagt Casey. Ihr Gesicht ist ebenso rund wie ihre Augen, sie wirkt
       kindlich.
       
       Während sich Lucy, Mario und Pat bisher nicht auf die Suche nach einer
       eigenen Wohnung gemacht haben, sind ihre Freunde Casey und Robert schon
       dabei. Allerdings gibt der Berliner Wohnungsmarkt nicht viel her für solche
       wie sie. Selbst wenn das Amt zahlt, gelten sie als unsichere Mieter. Und
       kommunale Wohnungen sind rar: Nach Informationen der Senatsverwaltung für
       Stadtentwicklung wurden seit der Wende mehr als 310.000 Wohnungen an
       private Eigentümer verkauft, mehr als die Hälfte des kommunalen Bestandes.
       Erst seit 2015 wird der soziale Wohnungsbau wieder gefördert.
       
       ## Bald sitze ich im Rollstuhl
       
       Mario, Lucy und Pat ziehen weiter zur überbauten Oberbaumbrücke. Pat radelt
       auf das Zelt von Freunden zu. Darum verteilt stehen Stühle, hier und da
       liegen leere Verpackungen, winzige Spielzeugfiguren zieren die Absperrung
       zum Wasser. Mittlerweile ist es dunkel geworden, die Temperatur unter null.
       Warmes Licht fällt von der Brückenbeleuchtung auf das Lager.
       
       Pats Mission, sich das nötige Kleingeld für Gras zu erschnorren, ist
       geglückt. Er zündet sich genüsslich einen Joint an. Ein, zwei Züge und sein
       Gesicht entspannt sich. „Ich hab Rheuma“, sagt er irgendwann beiläufig.
       „Denkste, mich stellt wer an? Vielleicht sitz ich mit dreißig schon im
       Rollstuhl, wer weiß. Scheiße ist das.“
       
       Lucy, in eine dicke Felldecke eingepackt, hockt auf einer zerfledderten
       Matratze und erzählt: „Ich würde gerne irgendwo in der Sächsischen Schweiz
       mit meinen Freunden ein kleines Haus haben. Umgeben von Land, das uns
       versorgt.“ Sie möchte aus der Stadt raus, mit Menschen zusammen sein, die
       sich einander zuwenden. Casey vom Lebensmittelgeschäft hingegen sehnt sich
       nach einem Platz in der Gesellschaft. „Ich kann mir gut vorstellen,
       irgendwann mal als Sozialarbeiterin zu arbeiten.“, sagte sie zuvor. „Ich
       hab den ganzen Scheiß schließlich selbst durchgemacht. Aber erst mal muss
       ’ne Wohnung her.“ Mario weiß noch nicht recht, wohin sein Weg ihn führt.
       Pats Weg führt zum Jobcenter, Hartz IV beantragen.
       
       25 May 2017
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Anna Kücking
 (DIR) Nora Belghaus
       
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