# taz.de -- Prozess zu Sterbehilfe: Sterben bleibt erlaubt
       
       > Der Gerichtshof für Menschenrechte entschied, dass europäische Staaten
       > den Abbruch lebensverlängernder Maßnahmen selbst regeln dürfen.
       
 (IMG) Bild: Kämpfte für einen würdigen Tod ihres Mannes: Rachel Lambert.
       
       Freiburg taz | Die künstliche Ernährung des französischen Wachkomapatienten
       Vincent Lambert darf beendet werden. Das entschied am Freitag der
       Europäische Gerichtshof für Menschenrechte. Er lehnte eine Klage von
       Lamberts Eltern ab, die das verhindern wollten.
       
       Der heute 38-jährige Vincent Lambert erlitt 2008 einen Motorradunfall und
       liegt seitdem im Koma. Über eine Magensonde wird er künstlich ernährt. Die
       Ärzte hatten inzwischen die Hoffnung auf eine substanzielle Besserung
       aufgegeben und wollten die künstliche Ernährung einstellen. Da Lambert zum
       Unfallzeitpunkt noch jung war, hatte er keine Patientenverfügung für solche
       Fälle erstellt.
       
       Lamberts Frau Rachel sagte, ihr Mann hätte in diesem Zustand nicht am Leben
       erhalten werden wollen. Das wisse sie, weil beide als Krankenpfleger
       arbeiteten und oft über solche Themen sprachen. Dagegen versuchten die
       Eltern Lamberts, die Beendigung der künstlichen Ernährung zu verhindern.
       Die Eltern stehen der erzkonservativen katholischen Piusbruderschaft nahe,
       die den Fall zu einem Kulturkampf gegen angebliche „Euthanasie“
       hochstilisierte.
       
       Nach einem französischen Gesetz von 2005 muss der behandelnde Arzt in
       solchen Fällen entscheiden, ob eine weitere Lebensverlängerung angebracht
       ist. Dabei muss er den mutmaßlichen Willen des Patienten beachten. Gegen
       die Entscheidung des Arztes gingen die Eltern vor Gericht. Mitte 2014
       entschied der französische Conseil d’État, das Oberste Verwaltungsgericht,
       dass die künstliche Ernährung beendet werden kann.
       
       Doch die Eltern gaben nicht auf. Sie riefen den Europäischen Gerichtshof
       für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg an und beriefen sich dabei auf das
       „Recht auf Leben“. Der Gerichtshof nahm die Klage sehr ernst, führte ein
       Eilverfahren durch und entschied sofort in der großen Kammer mit 17
       Richtern. Der EGMR ist eine Einrichtung des Europarats, dem 47 Staaten
       angehören.
       
       ## Das Recht, den Stecker zu ziehen
       
       Der Gerichtshof stellte fest, dass die europäischen Staaten bei der
       Regelung der passiven Sterbehilfe einen weiten Gestaltungsspielraum haben.
       Unter passiver Sterbehilfe versteht man den Abbruch lebensverlängernder
       Maßnahmen. Die Staaten könnten nicht nur entscheiden, ob sie die passive
       Sterbehilfe zulassen, sondern auch, wie sie „die Balance“ zwischen dem
       Recht auf Leben und dem Recht auf private Selbstbestimmung regeln. Das
       französische Gesetz sei in seiner Auslegung durch den Conseil d’État klar
       genug, um das Recht auf Leben ausreichend zu schützen.
       
       Auch stellte der Gerichtshof fest, dass vor allem die nationalen Gerichte
       prüfen müssten, ob die gesetzlichen Vorgaben und die europäischen
       Menschenrechte im Einzelfall beachtet wurden. Der Conseil d’État habe den
       Fall Lambert fast schon „übergründlich“ geprüft, auch wenn die Eltern mit
       dem Ergebnis nicht einverstanden seien.
       
       Eine Minderheit von 5 der 17 EGMR-Richter gab allerdings ein Sondervotum
       ab. Sie kritisierten, dass in Frankreich einem kommunikationsunfähigen
       Schwerbehinderten unter bestimmten Bedingungen Nahrung und Wasser
       vorenthalten werden dürfen. Der Staat habe kein Recht, „den Stecker zu
       ziehen“. Ein mutmaßlicher Wille könne hierfür nicht genügen.
       
       In Deutschland ist die passive Sterbehilfe zulässig. Niemand darf gegen
       seinen Willen behandelt werden, auch wenn der Behandlungsabbruch zum Tod
       führt. Der Verzicht auf künstliche Lebensverlängerung kann für den Fall
       späterer Bewusstlosigkeit auch in einer Patientenverfügung vorsorglich
       angeordnet werden. Falls eine Patientenverfügung fehlt, kommt es in
       Deutschland auf den „mutmaßlichen Willen“ des Patienten an, der sich aus
       früheren Äußerungen ergeben kann.
       
       5 Jun 2015
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Christian Rath
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Sterbehilfe
 (DIR) Europäischer Gerichtshof
 (DIR) Palliativmedizin
 (DIR) BGH-Urteil
 (DIR) BGH
 (DIR) Sterbehilfe Deutschland
 (DIR) Sterbehilfe
 (DIR) Sterbehilfe Deutschland
 (DIR) Sterbehilfe Deutschland
 (DIR) Ärztlich assistierter Suizid
 (DIR) Tabuthema
 (DIR) Strafgesetz
 (DIR) Kongress
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Urteil lebensverlängernde Maßnahmen: Leben ist trotz Leid kein „Schaden“
       
       Ärzte haften nicht, wenn sie Patient*innen durch künstliche Ernährung
       länger als medizinisch sinnvoll am Leben halten. Das entschied der
       Bundesgerichtshof.
       
 (DIR) Schadensersatz für Lebensverlängerung: Leben ist wohl kein Schaden
       
       Ein Mann fand, dass sein dementer Vater zu lange leiden musste, indem er
       per Magensonde am Leben erhalten wurde. Der BGH ist skeptisch.
       
 (DIR) Debatte um Suizidbegleitung: Der Streit ums gute Sterben
       
       Die professionelle Suizidbegleitung soll per Gesetz verboten werden: Bei
       einer Debatte in Bremen prallen Extrempositionen aufeinander.
       
 (DIR) US-Bundesstaat Kalifornien: Ärztliche Sterbehilfe künftig zulässig
       
       Der US-Bundesstaat Kalifornien erlaubt Ärzten in Zukunft assistierten
       Suizid. Gouverneur Jerry Brown unterzeichnete am Montag ein entsprechendes
       Gesetz.
       
 (DIR) Der Entschluss zu sterben: Ein großes Fest noch
       
       Ingrid Sander litt an Kinderlähmung und sitzt im Rollstuhl. Sie will
       sterben, bevor es unerträglich wird oder der Bundestag sie daran hindert.
       
 (DIR) Debatte um ein würdiges Ende: Wer darf beim Sterben helfen?
       
       Brauchen wir ein neues Gesetz zur Sterbehilfe? Nein, sagt Roger Kusch, der
       einen Sterbehilfe-Verein führt. SPD-Politiker Lauterbach sieht Bedarf.
       
 (DIR) Bundestag debattiert über Gesetz: Vier Streitpunkte bei der Sterbehilfe
       
       Im Herbst soll über ein neues Gesetz abgestimmt werden. Wie ist der Status
       quo und was sind eigentlich die strittigen Punkte?
       
 (DIR) Messe sperrt Sterbehilfe-Verein aus: Worüber geschwiegen werden muss
       
       Die Deutsche Gesellschaft für Humanes Sterben darf nicht an einer Fachmesse
       Ende der Woche in Bremen teilnehmen. Das hat die Evangelische Kirche
       durchgesetzt.
       
 (DIR) BGH-Richter über Beihilfe zum Suizid: „Positive Kultur des Sterbens“
       
       BGH-Richter Thomas Fischer plädiert für eine Legalisierung der Tötung auf
       Verlangen. Die Sorge vor stark steigenden Suizid-Zahlen hält der Jurist für
       übertrieben.
       
 (DIR) Kongress für Palliativmedizin: Hilfe zum Suizid o.k.
       
       Bei der 9. Bremer Tagung zur Palliativmedizin sprechen 600 Experten über
       Sterbebegleitung und mehr Lebensqualität für unheilbar kranke Menschen.