# taz.de -- Polarisierung in Europa: Kapitalismus oder Abendland?
       
       > Mit Syriza, Podemos und anderen linken Kräften in Europa kehrt der Streit
       > zurück auf die politische Bühne. Das ist gut so.
       
 (IMG) Bild: Obdachlose in Madrid beobachten streikende Studenten, März 2014
       
       Oft hieß es in den vergangenen Jahren, der Gegensatz zwischen links und
       rechts sei hinfällig. Gern wurde ergänzt, Wahlen gewänne man in der Mitte.
       Sozialdemokratische Parteien in ganz Europa rechtfertigten mit solchen und
       ähnlichen Floskeln ihren Schwenk zu einer als pragmatisch präsentierten,
       rechten Wirtschaftspolitik. Die galt dann als Ausweis ihres Realitätssinns.
       
       Heute ist realistisch, wer das Scheitern neoliberaler Politik in Europa
       anerkennt. Und Wahlen werden mit Alternativen gewonnen. Dafür steht nicht
       nur der Triumph der Syriza, sondern auch der gesellschaftliche Aufbruch,
       der mittlerweile in fast allen Ecken des krisengeplagten Europas
       stattfindet. Er bringt den Streit und den Gegensatz zurück auf die
       politische Bühne.
       
       Aktuell geht es dabei vor allem um Fragen wie: Finden die ökonomischen
       Interessen der Bevölkerungsmehrheit politisch überhaupt noch Gehör? Wer
       prägt die Sozialpolitik: Troika-Beamte und Geldgeber oder Parlamentarier
       und Wähler? Soll die EU intern umverteilen, Schulden vergemeinschaften und
       Investitionspakete schnüren – und wer entscheidet darüber: allein die
       Staatschefs oder doch auch das Europaparlament?
       
       Die Antwort der konservativen Parteien besteht seit Ausbruch der Eurokrise
       in dem Beharren auf Austerität. Technokratisch wird die Sparpolitik über
       die Parlamente hinweg durchgesetzt. Das nützt den Gläubigern, da die
       Eurostaaten ihre Schulden um jeden Preis bedienen sollen. Außerdem erfüllen
       die Kürzungs- und Privatisierungsrunden manch lang gehegten Wunsch der
       Wirtschaftsverbände.
       
       Erfolgreich ist dieser Kurs nicht: In der EU bleiben die Staatsschulden
       hoch und die Arbeitslosigkeit steigt, während die Wirtschaft bestenfalls
       stagniert. Da vielerorts die Sozialdemokraten mitziehen, dominiert die
       Austerität die Agenda trotzdem.
       
       Gleichzeitig protestieren seit Jahren prekarisierte Jugendliche und ihre
       Eltern aus der schrumpfenden Mittelschicht gegen die ungerechte Verteilung
       der Krisenlasten, auch Gewerkschafter gehen massenweise auf die Straße und
       zuweilen selbst die abgehängte Unterschicht.
       
       Gerade in Spanien und Griechenland prägen darüber hinaus inzwischen
       Selbstorganisation und breite Alltagssolidarität die Gesellschaften: Lokale
       Versammlungen bieten Rechtshilfe, Komitees organisieren kostenlose
       medizinische Versorgung, Genossenschaften werden gegründet. Die Aktivisten
       misstrauen der politischen Elite zutiefst, die in Korruptionsskandale
       verstrickt ist und nicht nur in Spanien als „Kaste“ tituliert wird. Ob in
       Athen, Madrid oder Barcelona – stets betonten die Protestierenden ihre
       Distanz zum parlamentarischen Betrieb.
       
       ## Kampf um die Institutionen
       
       Mit der Zeit aber wurde klar, dass Proteste – wie groß, kreativ oder gar
       militant sie auch ausfielen – wenig am Austeritätskurs der Regierungen
       änderten. Der Kampf um die Institutionen und ihre Veränderung gewann wieder
       neue Sympathien.
       
       Das führte zu Parteigründungen oder zur Unterstützung ehemals randständiger
       und damit unbelasteter Kräfte. Auf dieser Welle schwimmt Syriza ebenso wie
       die spanische Podemos („Wir können“), die aus der Bewegung der Indignados
       („Die Empörten“) hervorging und laut Umfragen für die kommende Wahl Ende
       2015 führt.
       
       Auch in Irland, wo 2016 gewählt wird, herrscht massive Empörung über eine
       Wassersteuer. In Slowenien gründete sich nach einem großen Sozialprotest im
       Winter 2013 die Vereinigte Linke, die mittlerweile im Parlament sitzt. Auch
       die Unabhängigkeitsbewegungen in Schottland und in Katalonien verdanken
       ihren jüngsten Aufschwung nicht zuletzt auch einer sozialstaatlichen
       Orientierung, mit der sie der wachsenden Armut begegnen wollen.
       
       Neben der Suche nach neuen demokratischen Formen steht hinter diesen
       Kräften die vielerorts massiv gewordene Forderung nach einem ökonomischen
       Kurswechsel. Vor allem Letzteres zählt angesichts der bitteren sozialen
       Realitäten. Syriza ist nicht primär als eine linke Partei gewählt worden,
       sondern als eine Kraft mit einem alternativen Wirtschaftsprogramm. Dies
       umfasst weit mehr als die Reduzierung der Schulden. Syriza will niedrige
       und mittlere Einkommen entlasten, dadurch die Nachfrage stärken und so das
       Wachstum ankurbeln. Einen wirtschaftlichen Schub verspricht sie sich zudem
       von gezielten öffentlichen Investitionen.
       
       Auch in der EU plädiert sie für einen „europäischen New Deal“. Der Vorrang
       der wirtschaftlichen Fragen erklärt zumindest in Teilen die schwer
       verdauliche Koalitionsentscheidung für die rechte Anel.
       
       ## Ist ein Kurswechsel der EU denkbar?
       
       Es könnte in Europa somit zu einer Renaissance linker Reformpolitik kommen,
       die mal keynesianisch wie in Griechenland ist, mal auch radikal ausfallen
       kann: Podemos etwa will Spanien neu gründen und dem Land dazu möglichst
       eine neue Verfassung geben, Syriza hat den griechischen Oligarchen den
       Kampf angesagt. Beide versprechen, die systematische Korruption zu
       bekämpfen.
       
       Politik ist nur möglich, wenn es Alternativen gibt. Ansonsten verkommt sie
       zur technischen Verwaltung des Sachzwangs – und verliert darüber all jene,
       die sich nicht mehr vertreten fühlen.
       
       Syriza und Co könnten also belebend für Europas Demokratien wirken.
       Allerdings gilt dies nur, wenn sie tatsächlich Veränderungen bewirken
       werden – und das liegt nicht allein in ihrer Hand.
       
       In der EU zeichnen sich immerhin erste Kompromissangebote gegenüber
       Griechenland ab, etwa die Streckung der Schuldenrückzahlungen oder ihre
       Bindung ans Wirtschaftswachstum. Dies steht im Einklang mit den
       Vorstellungen der Syriza-Ökonomen und würde Athen größeren finanziellen
       Spielraum bei der Sozialpolitik eröffnen.
       
       Ist darüber hinaus ein Kurswechsel in der gesamten Europäischen Union
       denkbar? Jedenfalls wird mittlerweile bemerkenswert breit über Sinn und
       Unsinn der Sparpolitik gestritten. Selbst nach dem Wahlsieg von François
       Hollande 2012, der seinerzeit ein Ende der Austerität gefordert hatte,
       wurde diese Debatte nicht mit der heutigen Intensität geführt. Paris war
       mit entsprechenden Vorstößen am Widerstand aus Berlin gescheitert und
       schwenkte schließlich auf eine liberale Wirtschaftspolitik ein.
       
       Angesichts einer akuten Deflationsgefahr mehrten sich im vergangenen Sommer
       dann Stimmen im konservativen Lager, die auf eine aktivere Rolle des Staats
       setzten. Dem entsprang das – allerdings unzureichende –
       Investitionsprogramm der neuen EU-Kommission unter Jean-Claude Juncker.
       
       Ein nächster Anlauf scheint nun möglich. Syriza betont seit Jahren die
       Notwendigkeit europäischer Lösungen, von einer möglichen Podemos-Regierung
       in Spanien ist Ähnliches zu erwarten. Auffällig ist, dass fast alle
       französischen Parteien versuchen, den Syriza-Sieg für sich zu vereinnahmen,
       der auch in Italien lagerübergreifend auf Zustimmung stößt.
       
       ## Neoliberale Rechtspopulisten
       
       Erschwert wird der Kompromiss auf europäischer Ebene durch die stärker
       werdenden Rechtspopulisten. Die griechische Anel bildet dabei insofern
       einen Sonderfall, als sie seit ihrer Gründung gegen die Austerität agitiert
       hat. Hingegen treten die AfD, die österreichische FPÖ oder die holländische
       PVV im Zweifel eher noch neoliberaler auf als die von ihnen geschmähte
       Elite. Entsprechenden Druck dürften sie auf jedes Zugeständnis an eine
       linke Regierung in Athen oder vielleicht bald Madrid ausüben.
       
       Jenseits des Befremdens über die Partnerwahl der griechischen Linken gilt:
       Scheitern Kräfte wie Syriza oder Podemos, debattieren wir in den kommenden
       Jahren nicht über Krise und Kapitalismus, sondern über Asyl und Abendland.
       Die überall schwelende Wut muss ihr Zuhause nicht bei demokratischen,
       europäischen Kräften finden, sondern kann auch von Autoritären jeglicher
       Spielart bedient werden.
       
       Ungarn demonstriert exemplarisch, wie ein markanter Rechtsruck aussehen
       kann. Die neofaschistische Goldene Morgenröte hatte schon lange vor dem
       jüngsten Urnengang in Athen angekündigt, sie wolle die übernächste Wahl
       gewinnen, nach dem von ihnen erhofften Scheitern der Syriza. Und auch in
       Österreich wie Holland liegen die Rechtspopulisten laut Umfragen immer mal
       wieder vorn.
       
       Glücklicherweise sendet der Aufstieg der Nationalisten einen Weckruf an die
       Weltoffenen. So ist der kräftige Mitgliederzuwachs der einst kleinen
       englischen Grünen – verbunden mit einem Umfragehoch für die Wahl 2015 –eine
       Reaktion auf die erstarkte antieuropäische Ukip.
       
       In Deutschland hat Pegida schon vor dem internen Zwist weit mehr Gegner als
       Anhänger mobilisiert. Doch während der Rassismus auch aus liberalen Milieus
       Gegenwind bekommt, verlangt die krasse soziale Spaltung eine linke Antwort.
       Ein Europa, das den Bürgern immer nur neue Zwänge auferlegt, wird früher
       oder später an einer toxischen Mischung aus Resignation und
       nationalistischem Backlash auseinanderbrechen. Das europäische
       Superwahljahr 2015 eröffnet zumindest die Chance, das zu verhindern.
       
       31 Jan 2015
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Steffen Vogel
       
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