# taz.de -- Tagebuch aus Litauen: Mein Neid auf Familien
> Fünf Jahre ist es her, dass unsere Autorin Weihnachten mit ihrem Vater
> feiern konnte. Alle Jahre wieder ist sie traurig, wenn sie Familien
> beobachtet.
(IMG) Bild: Ein Bus in Belarus: Lustige Beleuchtung sorgt nicht unbedingt für ein fröhliches Fest
Das letzte Mal haben mein Vater und ich die Feiertage 2020 zusammen
verbracht. Damals wurden in Belarus Proteste gegen die massive Fälschung
der Präsidentschaftswahlen aktiv unterdrückt. Niemand wusste, was uns als
Nächstes erwarten würde.
Aber zu Hause, hinter verschlossenen Türen, hatten wir immer noch das
Gefühl, zusammen zu sein. Der Weihnachtsbaum, der Duft von Tannennadeln,
kiloweise Mandarinen, Lichter und Geschenke – all das schien die letzte
Insel der Normalität in einem Land zu sein, in dem jeder Morgen mit
Nachrichten über Festnahmen und Verhaftungen begann. Wir versuchten, über
die Zukunft zu sprechen, aber jedes „Alles wird gut“ klang zu zerbrechlich.
Seitdem sind fünf Jahre vergangen, ich bin jetzt 24 Jahre alt und lebe in
Litauen, im erzwungenen politischen Exil – allein. Mein Vater blieb in
Belarus zurück.
Ich habe keine Familie, keine Verwandten in Europa, nichts, was man
„eigenes Zuhause“ nennen könnte, und ich habe auch niemanden, zu dem ich
ohne Einladung zu den Feiertagen kommen könnte. Und jeder Dezember beginnt
für mich mit der immer gleichen Frage, die zu stellen mir immer schwerer
fällt: Mit wem werde ich dieses Fest verbringen?
Meine belarussischen Freunde sind über ganz Europa verstreut. Wie Vögel,
die vor einem Sturm fliehen. Alle haben ihre eigenen Sorgen, sie haben
Pläne, sie haben Familien.
Ich stelle keinen Weihnachtsbaum auf, schmücke meine Wohnung nicht mit
Lichterketten, decke keinen festlichen Tisch – es ist unmöglich, für eine
Person festlich zu kochen. Selbst Lieblingsgerichte verlieren ihren Sinn,
wenn man sie nicht mit jemandem teilen kann, der einem nahesteht.
Stattdessen habe ich in diesen Jahren im Exil meine eigene stille
Dezembertradition entwickelt: Vor Weihnachten [1][spende ich Geld] für
Geschenke für die Kinder politischer Gefangener.
In der Weihnachtszeit ist die innere Leere jedoch besonders laut. Sie zeigt
sich in Kleinigkeiten: Ich kaufe nur ein paar Mandarinen statt drei
Kilogramm. Ich bleibe vor einem Schaufenster mit Spielzeug stehen, gehe
aber weiter, weil ich es sowieso nicht nutzen oder verschenken könnte. Und
ja, ich beneide auf freundliche Weise Familien, die im Einkaufszentrum
Geschenke aussuchen.
## Der Traum vom früheren Leben
Als in Vilnius die Weihnachtsbeleuchtung angeht – auf dem Platz vor dem
Rathaus, zwischen dem Duft von Glühwein und frischem Gebäck – dachte ich,
dass wir in einem anderen Leben mit meinem Vater darüber gestritten hätten,
was wir für die Feiertage kochen sollen, und dass wir kurz vor Weihnachten
alle zusammen zu einer Neujahrsvorstellung in den Zirkus in Minsk gegangen
wären.
Jetzt aber herrscht Stille. Nicht nur eine erzwungene, politische Stille,
sondern auch eine alltägliche, die entsteht, wenn man alleine auswandert
und lernen muss, ohne ein Zuhause zu leben.
Es ist mein fünftes Weihnachten ohne meinen Vater, aber mehr noch – mein
fünftes Weihnachten insgesamt ohne diejenigen, die mir nahestehen könnten.
Ich weiß nicht, was darin überwiegt: Traurigkeit oder Gewohnheit. Aber ich
bin mir sicher, dass sich das irgendwann ändern wird. Die Frage ist nur,
wie viele solcher Feiertage mir noch bleiben, bis ich Weihnachten nicht
mehr weg vom zu Hause feiere.
Mein Wunsch für dieses Weihnachtsfest ist so eindeutig wie einfach: ein
Ende der Diktatur. Damit ich nach Minsk zurückkehren und meinem Vater in
die Arme fallen werde.
[2][Glafira Zhuk] war Stipendiatin der [3][taz Panter Stiftung].
Aus dem Russischen von [4][Tigran Petrosyan].
Durch [5][Spenden an die taz Panter Stiftung] werden unabhängige und
kritische Journalist:innen vor Ort und im Exil im Rahmen des Projekts
„Tagebuch Krieg und Frieden“ finanziell unterstützt.
26 Dec 2025
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