# taz.de -- Tagebuch aus Lettland: Wer will eigentlich, dass meine Mutter nicht zu mir darf?
       
       > Täglich kommen Menschen von Belarus aus nach Lettland oder Polen. Doch
       > die Einreise in die EU wird immer schwieriger – ein Fehler.
       
 (IMG) Bild: Ein Pfeiler markiert die Grenze der Republik Lettland
       
       Ich schreibe diesen Text, während meine Mutter die belarussisch-lettische
       Grenze überquert. Ich selbst bin aus [1][Belarus] geflohen und lebe nun in
       Lettland. Meine Mutter besucht mich manchmal, aber in jüngster Zeit wird
       das immer schwieriger. Wird sie die Grenze passieren können? Wird sie
       künftig weiterhin kommen dürfen, und wenn ja, auf welchem Weg? Ich habe
       keine Antworten auf diese Fragen, aber ich hätte sie sehr gerne.
       
       Ende September hat [2][Polen] vorübergehend die Grenze zu Belarus
       geschlossen, kürzlich hat auch [3][Litauen] seine Grenze geschlossen. Beide
       Länder begründen ihre Maßnahmen mit der Sorge um die nationale Sicherheit,
       aber tatsächlich handelt es sich um gewöhnlichen Populismus, unter dem
       Familien leiden, die sich auf verschiedenen Seiten der Grenze befinden. Es
       gibt Hunderttausende solcher Familien.
       
       Es leiden auch diejenigen, die in Belarus leben und in der EU arbeiten. Es
       leidet die gesamte Grenzregion, die traditionell vom Handel lebt. Und,
       nein, es geht hier nicht um [4][Lukaschenkos] Geldbörsen und nicht um große
       Unternehmen, gegen die Sanktionen verhängt wurden. Es geht um ganz normale
       Menschen, von denen viele 2020 nicht für Lukaschenko gestimmt haben, die zu
       Protestdemonstrationen gegangen sind und die Repressionsopfer unterstützt
       haben.
       
       Unter diesen Menschen sind auch ehemalige politische Gefangene. Für
       diejenigen, die nach ihrer Haft in Belarus geblieben sind, ist es jetzt
       noch schwieriger geworden, im Falle erneuter Repressionen aus dem Land zu
       fliehen. Und diejenigen, die bereits ausgereist sind, haben es immer
       schwerer, ihre Angehörigen zu sehen.
       
       ## Annäherung an Russland, Abwendung von der EU
       
       Sowohl westliche Politiker:innen als auch die belarussische Opposition
       sprechen oft davon, wie wichtig es sei, die Belaruss:innen mental von
       Russland zu distanzieren und näher an die [5][Europäische Union]
       heranzuführen. Die demokratischen Kräfte in Belarus sagen, dass sie zu
       diesem Zweck ihre westlichen Partner um Unterstützung für unabhängige
       Medien und Blogger bitten. Aber keine Journalist:innen und keine
       Blogger:innen werden die Menschen in Belarus davon überzeugen können,
       der EU positiv gegenüberzustehen, wenn sich genau diese EU mit einem Zaun
       abschottet und ihre Grenzen schließt.
       
       Und wenn jemand glaubt, dass die Belaruss:innen grundsätzlich jegliche
       Zusammenarbeit mit Russland ablehnen werden, auch wenn ihnen westliche
       Alternativen genommen werden, dann habe ich schlechte Nachrichten für diese
       Person: Die Menschen wollen reisen, sie wollen ihre Kinder ans Meer
       mitnehmen, sie wollen neue Städte erleben. Und je weniger Möglichkeiten sie
       haben, dies in den Ländern der EU zu tun, desto häufiger werden sie nach
       Russland reisen, und desto normaler wird ihnen die russische Gesellschaft
       erscheinen. Sie werden russische Soldat:innen sehen, russische
       Propaganda erleben und letztlich Geld nach Russland bringen – wodurch sie
       dessen Haushalt auffüllen und den Krieg finanzieren.
       
       Der litauische Politologe [6][Vytis Jurkonis] behauptet, dass Menschen, die
       in Belarus leben und in der EU Geld verdienen wollen, nicht als Opfer der
       Grenzschließung betrachtet werden sollten. Seine Botschaft ist klar: Es
       gibt Menschen, die es verdienen, Geld zu haben, Freude zu haben und ganz
       normal zu reisen, und es gibt Belaruss:innen, die sich dieses Recht erst
       erarbeiten müssen. Natürlich hat dieser Politologe das Recht auf seine
       Meinung, aber wenn eine solche Haltung Teil der staatlichen Politik wird
       und die EU weiterhin erwartet, dass die Belaruss:innen sich an
       „europäische Werte“ anlehnen, dann habe ich auch für Jurkonis schlechte
       Nachrichten: Vielleicht leiden wir als Nation unter dem
       [7][Stockholm-Syndrom], aber es ist sicherlich nicht so stark, dass wir uns
       zu denen hingezogen fühlen, die uns spüren lassen, dass wir für sie
       Menschen zweiter Klasse sind.
       
       Das dürfte kaum das sein, was sich europäische Politiker:innen
       erhoffen, wenn sie stets aufs Neue Beschränkungen für Belaruss:innen
       verkünden. In Wirklichkeit treiben sie uns damit nur näher an Russland
       heran. Noch näher an Russland.
       
       [8][Nasta Zakharevich] ist belarussische Journalistin und lebt im Exil in
       Lettland. Sie war Teilnehmerin eines [9][Osteuropa-Workshops der taz Panter
       Stiftung]. 
       
       Aus dem Russischen von [10][Tigran Petrosyan.] 
       
       Durch Spenden an die [11][taz Panter Stiftung] werden unabhängige und
       kritische Journalist:innen vor Ort und im Exil im Rahmen des Projekts
       „Tagebuch Krieg und Frieden“ finanziell unterstützt.
       
       5 Dec 2025
       
       ## LINKS
       
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 (DIR) [5] /Europaeische-Union/!t5013441
 (DIR) [6] https://freedomhouse.org/expert/vytis-jurkonis
 (DIR) [7] https://www.wipub.net/das-stockholm-syndrom-ein-wichtiger-ueberlebensmechanismus/
 (DIR) [8] /programm/2024/tazlab2024/de/speakers/2124.html
 (DIR) [9] /taz-Panter-Stiftung/!v=e4eb8635-98d1-4a5d-b035-a82efb835967/
 (DIR) [10] /Tigran-Petrosyan/!a22524/
 (DIR) [11] /Panter-Stiftung/Spenden/!v=95da8ffb-144e-4a3b-9701-e9efc5512444/
       
       ## AUTOREN
       
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